© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 304/14 Verfassungsrechtliche Fragen der Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 068/14 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 304/14 Seite 2 Verfassungsrechtliche Fragen der Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 068/14 Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 304/14 Abschluss der Arbeit: 5. Januar 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 304/14 Seite 3 1. Fragestellung Gebeten wird um eine Einschätzung, ob die Amtsenthebung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch im Februar dieses Jahres im Einklang mit der ukrainischen Verfassung stand. Die Beschlüsse des ukrainischen Parlaments (Werchowna Rada) vom 22. und 23. Februar 2014 wurden bereits in der Ausarbeitung von , Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine – Verfassungsrechtliche und tatsächliche Fragen,1 dargestellt. Unter anderem hat das Parlament beschlossen, dass der Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, von der Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Vollmachten in nichtverfassungsgemäßer Weise zurückgetreten sei und seinen Pflichten nicht nachkomme. Daraufhin hat es Neuwahlen für das Amt des Präsidenten für den 25. Mai 2014 angesetzt sowie – unter Berufung auf Art. 112 Verfassung der Ukraine – dem Parlamentspräsidenten übergangsweise die Vollmachten des Präsidenten der Ukraine übertragen. 2. Verfassungsrechtlicher Rahmen In der genannten Ausarbeitung wurden auch bereits die in der Verfassung der Ukraine vorgesehenen Möglichkeiten des vorzeitigen Amtsverlusts des Präsidenten der Ukraine darstellt. Grundlage der verfassungsrechtlichen Darstellung ist der Wortlaut der ukrainischen Verfassung, wie er sich in deutscher Übersetzung auf der Website eines Internetprojekts zu internationalen Verfassungsdokumenten findet.2 Dabei wird davon ausgegangen, dass Beschlüsse des ukrainischen Parlaments vom 22. Februar 2014, mit denen eine Nichtigkeitsentscheidung des ukrainischen Verfassungsgerichts von 2010 aufgehoben und die bis dahin geltenden Verfassungsbestimmungen von 2004 wieder in Kraft gesetzt worden sind, wirksam sind. Die Verfassung der Ukraine sieht in Art. 108 vier Möglichkeiten des vorzeitigen Amtsverlustes des Präsidenten vor: 1. Rücktritt; 2. Amtsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen; 3. Amtsenthebung im Wege der Präsidentenanklage; 4. Tod. 1 Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine – Verfassungsrechtliche und tatsächliche Fragen, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 – 3000 – 068/14), 2014, S. 3 f. 2 Verfassung der Ukraine, abrufbar unter: http://www.verfassungen.net/ua/verf96-i.htm (zuletzt abgerufen am 18. Dezember 2014). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 304/14 Seite 4 Die Fälle 1 bis 3 werden durch die Artikel 109 bis 111 Verfassung der Ukraine konkretisiert. Wegen der Einzelheiten wird auf die genannte Ausarbeitung verwiesen.3 Hervorzuheben ist an dieser Stelle erneut, dass der Rücktritt des Präsidenten nach Art. 109 Verfassung der Ukraine erst durch persönliches Verlesen eines Rücktrittsgesuches in einer Sitzung des Parlaments wirksam wird. Die Feststellung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten aus gesundheitlichen Gründen bedarf nach Art. 110 Verfassung der Ukraine eines ärztlichen Gutachtens sowie der Mitwirkung des Verfassungsgerichts. Die Amtsenthebung im Wege einer Präsidentenanklage (Impeachment-Verfahren) setzt gemäß Art. 111 Verfassung der Ukraine ein mehrstufiges Verfahren voraus, das auf Antrag der Mehrheit der verfassungsmäßigen Mitglieder des Parlaments wegen des Vorwurfs des Hochverrats oder eines anderen Verbrechens eingeleitet werden kann. Das Parlament hat daraufhin eine besondere nichtständige Kommission zur Untersuchung der Vorwürfe einzurichten , der ein Sonderstaatsanwalt und ein Sonderermittler angehören. Die Ergebnisse dieser Untersuchungskommission werden sodann im Parlament behandelt, das bei Vorliegen zureichender Beweise mit der Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner verfassungsmäßigen Mitglieder die Entscheidung treffen kann, Anklage gegen den Präsidenten zu erheben. Der Anklageerhebung schließt sich in der nächsten Stufe ein Prüfungsverfahren vor dem Verfassungsgericht an. Bestätigt dies den Tatbestand des Hochverrats oder eines anderen Verbrechens sowie den verfassungsmäßigen Verfahrensablauf, kann das Parlament schließlich mit der Mehrheit von drei Vierteln der verfassungsgemäßen Mitglieder über die Amtsenthebung des Präsidenten entscheiden. Für den Fall der vorzeitigen Beendigung des Amtes des Präsidenten aus einem der vier genannten Gründe sieht Art. 112 Verfassung der Ukraine vor, dass die Befugnisse des Präsidenten der Ukraine für die Zeit bis zum Amtsantritt eines neugewählten Präsidenten der Ukraine dem Parlamentspräsidenten übertragen werden.4 3. Würdigung Eine abschließende Bewertung der Absetzung Janukowitschs im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit ukrainischem Verfassungsrecht kann nicht getroffen werden. Festhalten lässt sich allerdings, dass nach dem dargestellten Wortlaut der Verfassung keiner der der vier Beendigungstatbestände einschlägig zu sein scheint. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass das in Art. 111 Verfassung der Ukraine beschriebene mehrstufige Impeachment-Verfahren durchgeführt worden wäre. Auch hat keine persönliche Verlesung eines Rücktrittsgesuchs in einer Sitzung des Parlaments durch Janukowitsch stattgefunden, wie es der Wortlaut des Art. 109 Verfassung der Ukraine für einen wirksamen Rücktritt fordert. 3 Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine – Verfassungsrechtliche und tatsächliche Fragen, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 – 3000 – 068/14), 2014, S. 4 f. 4 Demgegenüber war nach der zwischenzeitlich (bis 2004 sowie zwischen der Nichtigkeitsentscheidung des Verfassungsgerichts im Jahr 2010 und dessen Aufhebung am 22. Februar 2014) geltenden Fassung des Art. 112 Verfassung der Ukraine nicht der Parlamentspräsident, sondern der Ministerpräsident Inhaber der Übergangsvollmachten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 304/14 Seite 5 Dementsprechend wurden auch in der Presseberichterstattung über die Ereignisse Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit artikuliert. In der Frankfurter Allgemeinen vom 24. Februar 2014 wurde etwa ausgeführt: „Ob tatsächlich alle Entscheidungen, die an diesem Tage getroffen wurden, dem Buchstaben der Verfassung entsprachen, scheint dabei durchaus strittig. Möglicherweise hat sich das Handeln der ‚Werchowna Rada‘ in diesen Augenblicken im revolutionären Sinn über die bisherige ‚Ordnung‘ erhoben, die allerdings unter Janukowitsch ohnehin seit Jahren nicht mehr funktioniert hatte.“5 Einige Absätze später heißt es, es sei nicht nur in der Ukraine bezweifelt worden, dass „dieses schnelle Entlassungs- und Ernennungsverfahren rechtlich zulässig war“.6 Auch in einem auf Spiegel Online erschienenen Artikel wurde bezweifelt, dass einer der in der Verfassung genannten Amtsbeendigungstatbestände erfüllt sei. Die Selbstzurückziehung Janukowitschs von der Ausübung seiner Macht sei in den einschlägigen Artikeln der Verfassung nicht enthalten.7 Zugleich wirft der Artikel allerdings auch die Frage auf, inwieweit diese „rein juristische “ Sicht maßgeblich sei.8 Ähnliche Zweifel werden auch von den wenigen sich mit diesen Fragen befassenden Fachbeiträgen im Schrifttum geäußert. In einem Beitrag wird ausgeführt, dass das ukrainische Parlament in dem Verhalten Janukowitschs „offenkundig einen Fall der vorzeitigen Beendigung seines Amtes, analog zum Rücktritt“ gesehen habe.9 Lediglich in der Fußnote findet sich eine Bewertung der Rechtsauffassung des Parlaments: „Die Analogie ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht problematisch. Sie öffnete aber in dieser quasi-revolutionären Lage des Landes einen vertretbaren Ausweg aus dem Dilemma, in das Janukovyč die Republik mit seiner Flucht gestürzt hatte. Das Impeachment- Verfahren (Art. 111 Verfassung) wäre ihm jedenfalls sicher gewesen und hätte ebenso sicher zum Erfolg geführt.“10 In einem anderen – allerdings nicht rechtswissenschaftlichen – Beitrag heißt es: „Kein Zweifel, das Parlament sprengte mit der Entfernung des Präsidenten aus dem Amt den Rahmen der Verfassung und beschritt einen revolutionären Weg in einer ausweglos erscheinenden Lage.“11 Anzumerken ist allerdings, dass die Auslegung des Wortlauts der Verfassung nur eine von mehreren Auslegungsmethoden darstellt. Insbesondere wenn der Verfassungstext lückenhaft ist, bestimmte Fallkonstellationen also nicht erfasst, kann eine ergänzende Auslegung erforderlich werden. In diesem Zusammenhang ist zu unterstreichen, dass der Fall, dass der Präsident der 5 Schuller, Ein Land, das es nicht mehr gibt, Frankfurter Allgemeine vom 24. Februar 2014, S. 3. 6 Schuller, Ein Land, das es nicht mehr gibt, Frankfurter Allgemeine vom 24. Februar 2014, S. 3. 7 Janssen/Teichert, Putin und der legitime Präsident der Ukraine, Spiegel online vom 6. März 2014, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-faktencheck-putin-und-der-legitime-praesident-a-957238.html (zuletzt abgerufen am 18. Dezember 2014). 8 Janssen/Teichert, Putin und der legitime Präsident der Ukraine, Spiegel online vom 6. März 2014, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-faktencheck-putin-und-der-legitime-praesident-a-957238.html (zuletzt abgerufen am 18. Dezember 2014). 9 Luchterhandt, Der Anschluss der Krim an Russland aus völkerrechtlicher Sicht, AVR 52 (2014), 137 (140). 10 Luchterhandt, Der Anschluss der Krim an Russland aus völkerrechtlicher Sicht, AVR 52 (2014), 137 (140), Fn. 14. 11 Simon, Zusammenbruch und Neubeginn, Die ukrainische Revolution und ihre Feinde, Osteuropa 64 (2014), 9 (17). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 304/14 Seite 6 Ukraine sein Amt faktisch nicht mehr ausübt, weil er sich fluchtbedingt an unbekanntem Ort aufhält und eine Rückkehr nicht ersichtlich ist, im Text der ukrainischen Verfassung nicht geregelt ist. Jedenfalls nach deutscher Verfassungsrechtsmethodik wäre es nicht ausgeschlossen, zur Schließung derartiger Lücken, die durch den Verfassunggeber nicht bedacht worden sind, eine Analogie zu den ausdrücklich normierten Tatbeständen zu bilden. Da der Text der ukrainischen Verfassung aber die einzige zur Verfügung stehende Rechtserkenntnisquelle ist und insbesondere keine Erkenntnisse zur ukrainischen Verfassungsrechtsmethodik vorliegen, ist eine juristisch profunde Bewertung der Verfassungsmäßigkeit der Absetzung Janukowitschs nicht möglich.