© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 302/14 Zur Verfassungsmäßigkeit eines Verbots der Gesichtsverschleierung Unter besonderer Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1. Juli 2014 – Az.: 43835/11 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 2 Zur Verfassungsmäßigkeit eines Verbots der Gesichtsverschleierung Unter besonderer Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1. Juli 2014 – Az.: 43835/11 Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 302/14 Abschluss der Arbeit: 22.12.2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verfassungsrechtliche Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 4 3. Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum 5 3.1. Schaffung eines Verbots der Gesichtsverschleierung auf der Ebene des einfachen Rechts 5 3.1.1. Vereinbarkeit mit der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG 5 3.1.2. Schutzbereich der Religionsfreiheit 5 3.1.2.1. Schutz der öffentlichen Bekenntnis und Religionsausübung 5 3.1.2.2. Schutz des Tragens einer Burka 6 3.1.3. Eingriff in den Schutzbereich 7 3.1.4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs 8 3.1.4.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit 8 3.1.4.2. Gleichberechtigung der Geschlechter 9 3.1.4.3. Menschenwürde 10 3.1.4.4. Negative Religionsfreiheit 11 3.1.4.5. Sicherheitserwägungen 12 3.1.4.6. Garantie der Voraussetzungen für das Zusammenleben der Menschen 13 3.1.5. Ergebnis 15 3.2. Schaffung eines Verbots der Gesichtsverschleierung auf der Ebene des Grundgesetzes 15 4. Weitere Ausgestaltungsvarianten eines Verbots der Gesichtsverschleierung 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 4 1. Fragestellung Am 1. Juli 2014 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass das französische Gesetz „2010-1192“ vom 11. Oktober 20101, das jedermann verbietet, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu verschleiern, nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.2 Anlässlich dieser Entscheidung wird um eine Begutachtung der Frage gebeten, ob bzw. wie in Deutschland ein Verbot der Gesichtsverschleierung (häufig auch als Burka-Verbot bezeichnet) verfassungskonform beschlossen werden könnte. 2. Verfassungsrechtliche Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bevor die Verfassungsmäßigkeit eines Verbots der Gesichtsverschleierung untersucht wird, soll zunächst die verfassungsrechtliche Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erläutert werden. Zu diesem Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung im Jahr 2011 Stellung genommen.3 So führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die Europäische Menschenrechtskonvention zwar innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz stehe.4 Gleichwohl besäßen die Gewährleistungen der Konvention bzw. deren Auslegung verfassungsrechtliche Bedeutung .5 Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienten nämlich nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.6 Diese verfassungsrechtliche Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beruhe auf der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seiner inhaltlichen Ausrichtung auf die Menschenrechte.7 Das Bundesverfassungsgericht betont jedoch gleichzeitig, dass eine solche Heranziehung als Auslegungshilfe nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach 1 Abgedruckt im Journal officiel de la République française vom 12. Oktober 2010, S. 18344 („LOI interdisant la dissimulation du visage dans l`espace public“). Siehe zu weiteren entsprechenden Regelungen in Europa Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 69, Fn. 228. 2 EGMR, NJW 2014, 2925 ff. 3 BVerfGE 128, 326 ff. 4 BVerfGE 128, 326 (367); siehe auch BVerfGE 111, 307 (317). 5 BVerfGE 128, 326 (367); siehe auch BVerfGE 111, 307 (317). 6 BVerfGE 128, 326 (367 f.); siehe auch BVerfGE 111, 307 (317). 7 BVerfGE 128, 326 (366). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 5 dem Grundgesetz führen dürfe.8 Geboten sei keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen der Wertungen der Konvention, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar sei.9 3. Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum Ausgehend von der eingangs erwähnten französischen Regelung soll der Fokus der Untersuchung auf einem Burka-Verbot in Form eines Verbots der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum liegen. 3.1. Schaffung eines Verbots der Gesichtsverschleierung auf der Ebene des einfachen Rechts In Betracht kommt die Einführung eines Verbots der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum auf der Ebene des einfachen Rechts. Eine entsprechende einfachgesetzliche Regelung müsste mit dem Grundgesetz vereinbar sein; dürfte insbesondere nicht die in Art. 4 Grundgesetz (GG) garantierte Religionsfreiheit verletzen.10 3.1.1. Vereinbarkeit mit der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG Nach Art. 4 Abs. 1 GG sind die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. Die beiden genannten Absätze des Art. 4 GG bilden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht.11 3.1.2. Schutzbereich der Religionsfreiheit 3.1.2.1. Schutz der öffentlichen Bekenntnis und Religionsausübung Unter den Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit fällt nicht nur das private Glauben, sondern auch das öffentliche Bekenntnis zu der eigenen Religion.12 Ausprägungen davon sind die 8 BVerfGE 128, 326 (371); siehe auch BVerfGE 111, 307 (317), m.w.N. 9 BVerfGE 128, 326 (366 f.). 10 Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ausarbeitungen Burka-Verbot in öffentlichen Gebäuden – Lassen sich Burkas in öffentlichen Gebäuden verbieten?, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 444/10), 2010; Das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 046/10), 2010, sowie Zur Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots und eines Burkaverbots mit dem deutschen Recht, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 112/10), 2010, S. 14 ff. 11 BVerfGE 24, 236 (245 f.); BVerfGE 32, 98 (106); BVerfGE 44, 37 (49); BVerfGE 83, 341 (354); BVerfGE 108, 282 (297). 12 BVerfGE 24, 236 (245); BVerfGE 53, 266 (387); BVerfGE 105, 279 (293 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 6 Verkündung des Glaubens und seine Verbreitung sowie die Pflege und Förderung des Bekenntnisses .13 Hinzu kommt die gesonderte Hervorhebung der Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG. In dem sog. Kopftuch-Urteil führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass zur Freiheit den Glauben zu bekunden und zu verbreiten auch das Recht des Einzelnen gehöre, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln.14 Dies gelte auch für Bekleidungsregeln. In Bezug auf den grundrechtlichen Schutz des Tragens eines Kopftuches führt das Gericht aus, dass maßgeblich sei, ob die Betroffene das Tragen eines Kopftuchs als für sich verbindlich von den Regeln ihrer Religion vorgegeben betrachte und das Befolgen dieser Bekleidungsregel für sie Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses sei.15 Dabei komme es nicht darauf an, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben sei.16 Allerdings könne nicht jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der besonders geschützten Glaubensfreiheit angesehen werden.17 Bei der Würdigung eines vom Einzelnen als Ausdruck seiner Glaubensfreiheit reklamierten Verhaltens sei daher das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu berücksichtigen.18 Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lasse sich jedoch nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen.19 3.1.2.2. Schutz des Tragens einer Burka Für die Beantwortung der Frage, ob das Tragen einer Burka unter den Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG fällt, ist zu prüfen, welche Bedeutung eine Burka für den islamischen Glauben bzw. für die jeweilige islamische Gemeinde besitzt und aus welchen Motiven eine Burka getragen wird.20 Eine Burka ist ein Ganzkörperschleier, der als einziges Sichtfenster ein mit Stoff vergittertes Feld vor den Augen frei lässt. Sie wird von muslimischen Frauen vor allem in Afghanistan, Ägypten, 13 BVerfGE 19, 129 (132); BVerfGE 24, 236 (246 f.); BVerfGE 53, 266 (387); BVerfGE 105, 279 (293 f.). 14 BVerfGE 108, 282 (297). 15 Vgl. BVerfGE 108, 282 (298). 16 BVerfGE 108, 282 (298). 17 BVerfGE 108, 282 (298). 18 BVerfGE 108, 282 (298 f.). 19 BVerfGE 108, 282 (299). 20 Die folgenden Ausführungen gelten entsprechend für das Tragen eines Niqab. Bei diesem handelt es sich im Unterschied zur Burka um keinen Ganzkörperschleier, sondern um einen entsprechenden Gesichtsschleier. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 7 Pakistan, Saudi-Arabien und dem Irak getragen.21 Die Verhüllung des Körpers hat seine Ursprünge zwar in vorislamischer Zeit.22 Dennoch gilt die Verschleierung muslimischer Frauen bei jedenfalls einigen gläubigen Muslimen als direkt aus dem Koran ableitbar.23 Die religiöse Pflicht zur Verschleierung wird in den einzelnen islamischen Rechtschulen sowie islamischen Organisationen unterschiedlich bewertet. Verbreitet ist die Ansicht, dass eine gläubige Muslima die aus dem Koran ableitbaren Kleidungsvorschriften einhalten muss.24 Es existieren sehr unterschiedliche Arten der Verschleierung in der islamischen Welt. Überwiegend wird ein bloßes Kopftuch getragen , welches das Haar ganz oder teilweise bedeckt.25 Wie weit die Verschleierung reicht, steht in starker Abhängigkeit zu den regionalen Traditionen und der Frömmigkeit der Frau.26 Vor diesem Hintergrund und unter der Voraussetzung, dass das Tragen einer Burka von der Betroffenen als verbindlich vorgeschrieben empfunden wird, fällt das Tragen einer Burka unter den Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG.27 Soweit die Burka aus anderen Motiven – etwa aufgrund äußeren Zwangs zur öffentlichen Demonstration der Ungleichheit von Mann und Frau – getragen wird, unterfällt dies nicht dem Schutz der Religionsfreiheit. Dieses Ergebnis entspricht auch der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte , der in seiner Entscheidung ebenfalls den Schutzbereich der Religionsfreiheit als eröffnet angesehen hat.28 3.1.3. Eingriff in den Schutzbereich Weiter liegt im vorliegenden Fall auch ein Eingriff in die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG vor. Ein Grundrechtseingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.29 Da das Tragen einer Burka – wie oben festgestellt – unter den Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG fallen 21 Vgl. Harenberg, Lexikon der Religionen, 2002, S. 479; Krupke (Hrsg.), Der Brockhaus Religionen, 2. Aufl. 2007, S. 111. 22 Harenberg, Lexikon der Religionen, 2002, S. 542. 23 Bowker (Hrsg.), Oxford-Lexikon der Weltreligionen, 1999, S. 415. 24 Ausführlich bei Kinzinger-Büchel, Der Kopftuchstreit in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung, 2009, S. 23 ff. 25 Harenberg, Lexikon der Religionen, 2002, S. 542 f. 26 Harenberg, Lexikon der Religionen, 2002, S. 542 f. 27 So auch VGH München, NVwZ 2014, 1109 (1109). 28 Siehe EGMR, NJW 2014, 2925 (2928). 29 Voßkuhle/Kaiser, Der Grundrechtseingriff, JuS 2009, 313 (313). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 8 kann, stellt ein entsprechendes Verbot einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Zu diesem Ergebnis gelangt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 1. Juli dieses Jahres.30 3.1.4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs Um nicht verfassungswidrig zu sein, bedarf ein Eingriff in die Religionsfreiheit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Anders als bei vielen anderen Grundrechten sieht das Grundgesetz für die Religionsfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen die Grenzen der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte nur von der Verfassung selbst bestimmt werden.31 Verfassungsimmanente Grenzen der Religionsfreiheit sind daher nur die Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter.32 Die Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts dürfe – so das Bundesverfassungsgericht – nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen, wie etwa dem “Schutz der Verfassung“ oder der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ gerechtfertigt werden.33 Vielmehr müssten anhand einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter konkret herausgearbeitet werden, die mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht kollidieren.34 Im Kollisionsfall sei zwischen dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht und den entgegenstehenden Grundrechten oder Verfassungsgütern im Wege der Abwägung und mit dem Ziel der Herstellung der „praktischen Konkordanz“ ein angemessener Ausgleich herbeizuführen .35 Dabei dürfe nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden, sondern alle sollten einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.36 3.1.4.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit Zunächst ist festzuhalten, dass eine Beschränkung der Religionsfreiheit durch ein direkt gegen den Glauben oder die Religionsausübung gerichtetes Gesetz – insbesondere dann, wenn sich die Beschränkung gegen einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Religion richtet – nicht zulässig ist.37 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Religions- 30 Siehe EGMR, NJW 2014, 2925 (2928). 31 BVerfGE 32, 98 (108); BVerfGE 41, 29 (50); BVerfGE 93, 1 (21). 32 BVerfGE 28, 243 (261); BVerfGE 32, 98 (108); BVerfGE 41, 29 (50); BVerfGE 52, 223 (247). 33 BVerfGE 81, 278 (293). 34 BVerfGE 81, 278 (293). 35 BVerfGE 28, 243 (260 f.); BVerfGE 41, 29 (50); BVerfGE 52, 223 (246 f., 251); BVerfGE 93, 1 (21). 36 BVerfGE 91, 1 (21). 37 Vgl. auch Sarcevic, Religionsfreiheit und der Streit um den Ruf des Muezzins, DVBl 2000, 519 (523 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 9 freiheit der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen .38 Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahre.39 3.1.4.2. Gleichberechtigung der Geschlechter In der Diskussion über die Einführung eines Verbots der Gesichtsverschleierung wird die Burka von einzelnen Stimmen als Instrument der Unterdrückung von Frauen bezeichnet.40 Es stellt sich daher die Frage, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum mit dem Gebot der Gleichberechtigung der Geschlechter verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist der Staat verpflichtet, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Diese Vorschrift normiert ein Staatsziel, welches zu Maßnahmen zur Angleichung der Lebensverhältnisse von Männern und Frauen auffordert.41 Sie zielt nicht nur auf die Rechtsgleichheit zwischen den Geschlechtern. Enthalten ist auch ein Gleichstellungsgebot, das sich auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit erstreckt.42 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt in seiner Entscheidung zum französischen Verbot der Gesichtsverschleierung aus, dass ein Staat im Interesse der Gleichberechtigung der Geschlechter verbieten dürfe, Frauen zu zwingen, ihr Gesicht zu verschleiern.43 Das Gericht stellt jedoch klar, dass sich ein Staat hingegen nicht auf die Gleichberechtigung der Geschlechter berufen könne, um eine Bekleidung zu verbieten, die Frauen in Ausübung ihrer Rechte aus der Religionsfreiheit , tragen.44 Andernfalls könne man geltend machen, Personen auf dieser Grundlage vor der Ausübung ihrer eigenen Rechte und Freiheiten zu schützen.45 38 BVerfGE 93, 1 (16). 39 BVerfGE 93, 1 (16). 40 So bspw. die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Julia Klöckner, im Interview mit dem Tagesspiegel, 6. Dezember 2014, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/11082560.html, letzter Abruf am 9. Dezember 2014. 41 BT-Drs. 12/6633, S. 5 f.; siehe hierzu auch Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz , 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 2 Rn. 11. 42 BT-Drs. 12/6633, S. 5; BVerfGE 92, 91 (109); BVerfGE 109, 64 (89). 43 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929), unter Bezugnahme auf EGMR, NVwZ 2006, 1389 ff. 44 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). 45 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 10 Aufgrund der – oben erläuterten46 – Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seiner inhaltlichen Ausrichtung auf die Menschenrechte sind die Aussagen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalten und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes im vorliegenden Fall heranzuziehen. Hieraus folgt, dass auch nach dem Grundgesetz ein Verbot des freiwilligen Tragens einer Burka nicht mit dem Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gerechtfertigt werden kann. 3.1.4.3. Menschenwürde In der öffentlichen Diskussion wird zudem der Schutz der Menschenwürde als Ziel eines Verbots der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum genannt.47 Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Hinsichtlich der Frage, ob die Achtung der Menschenwürde den mit einem Verbot der Gesichtsverschleierung einhergehenden Eingriff in die Religionsfreiheit rechtfertigen kann, ist zu differenzieren: Soweit Frauen davor geschützt werden sollen, gegen ihren Willen zum Tragen einer Burka gezwungen zu werden, ist ein entsprechendes Verbot verfassungsrechtlich gerechtfertigt und stellt folglich keine Verletzung der Religionsfreiheit dar. Maßnahmen gegen das aufgenötigte Tragen einer Burka lassen sich jedenfalls auf den Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG bzw. den des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG stützen. Fraglich erscheint hingegen, ob auch ein Verbot, dass Frauen zu ihrem eigenen Schutz auch das freiwillige Tragen einer Burka untersagt, mit dem Schutz der Menschenwürde gerechtfertigt werden kann. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies in seiner Entscheidung vom 1. Juli 2014 verneint.48 So führt das Gericht aus, dass eine Burka zwar von vielen Betrachtern als befremdlich wahrgenommen werde.49 Sie sei aber mit ihrer Andersartigkeit der Ausdruck einer kulturellen Identität, die zum Pluralismus beitrage, welcher der demokratischen Gesellschaft eigen sei.50 Es gebe auch keine Hinweise darauf, dass Frauen, die sich ganz verschleierten, damit eine 46 Siehe oben unter 2. 47 In diese Richtung argumentiert bspw. die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Julia Klöckner, im Interview mit dem Tagesspiegel, 6. Dezember 2014, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/11082560.html, letzter Abruf am 9. Dezember 2014. 48 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). 49 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). 50 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 11 Form von Verachtung gegenüber denen zum Ausdruck bringen wollten, denen sie begegnen, oder sonst die Menschenwürde anderer verletzen wollten.51 Angesichts dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann auch nach dem Grundgesetz ein Verbot des freiwilligen Tragens einer Burka im öffentlichen Raum nicht unter Berufung auf den Menschenwürdeschutz verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Zudem gehört es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade zum Garantiegehalt der Menschenwürde, dass jeder Mensch befähigt ist, sich selbst zu bestimmen und zu entfalten .52 Zwar könne es geboten sein, den Raum individueller Selbstbestimmung des Einzelnen über die Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 GG zu begrenzen.53 Dies dürfe jedoch nur insoweit zulässig sein, wie es Gebote der Gemeinschaft absolut und unumgänglich erforderten.54 Andernfalls würde sich das grundgesetzliche Gebot zur Achtung der Menschenwürde gegen das Schutzobjekt wenden.55 In Bezug auf die Burka mag das mit ihr verbundene Männer- und Frauenbild zwar fragwürdig erscheinen und sich nur schwer mit dem europäischen Konsens im Umgang der Menschen miteinander vertragen. Nicht alles, was unerwünscht ist, kann jedoch sogleich verboten werden.56 3.1.4.4. Negative Religionsfreiheit Zu erörtern ist ebenfalls, ob aus Gründen der negativen Religionsfreiheit ein allgemeines Verbot des Tragens einer Burka im öffentlichen Raum verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.57 Art. 4 Abs. 1, 2 GG schützt in seiner Ausprägung als negative Religionsfreiheit das Recht, keinem religiösen Bekenntnis anzuhängen, nicht zur Teilnahme an einer religiösen Handlung gezwungen zu werden und seine vorhandene religiöse Überzeugung zu verschweigen.58 Zu prüfen ist, ob die Gewährleistung der negativen Religionsfreiheit auch gebietet, besonders intensive Formen der Religionsausübung – wie etwa das Tragen einer Burka – in der Öffentlichkeit zu unterbinden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, der Einzelne kein Recht darauf habe, von fremden 51 EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). 52 BVerfGE 45, 187 (227); BVerfGE 123, 267 (413). 53 OVG Hamburg, NVwZ 1985, 841 (841). 54 OVG Hamburg, NVwZ 1985, 841 (841). 55 OVG Hamburg, NVwZ 1985, 841 (841). 56 Rohe, Stellungnahme zur Anhörung des BT-Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum Thema „Religionsfreiheit und europäische Identität“, A-Drs. 17(17)0069, S. 5. 57 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Rahmen seiner Entscheidung zu der französischen Regelung zu dieser Frage nicht Stellung genommen. 58 BVerfGE 41, 29 (49); BVerfGE 44, 37 (49). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 12 Glaubensbekundungen verschont zu bleiben.59 Aus diesem Grunde gewährt die negative Religionsfreiheit weder das Recht, Bekenntnisäußerungen anderer zu verhindern, noch das Recht durch den Staat vor Begegnungen mit Äußerungen eines fremden Glaubens geschützt zu werden.60 Es existiert damit kein Anspruch im öffentlichen Raum vor den religiösen Einflüssen der Umwelt abgeschirmt zu werden.61 Auch die negative Religionsfreiheit kann daher nicht zur Rechtfertigung des Eingriffs herangezogen werden. 3.1.4.5. Sicherheitserwägungen Weiter kommen zur Rechtfertigung eines Verbots der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum auch Sicherheitserwägungen in Betracht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der staatlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. So könnte argumentiert werden, dass ein Verbot des Tragens einer Burka im öffentlichen Raum notwendig sei, damit Personen identifiziert werden können, um Gefahren für die Sicherheit von Personen und Sachen abzuwenden und Identitätstäuschungen zu verhindern.62 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung jedoch die Auffassung vertreten, dass wegen der Auswirkungen eines solchen Verbots auf die Rechte der Frauen, die aus religiösen Gründen eine Burka tragen, ein absolutes Verbot des Tragens einer Burka im öffentlichen Raum nur bei einer allgemeinen Bedrohung für die öffentliche Sicherheit verhältnismäßig sei.63 Das Gericht moniert, dass in Hinblick auf Sicherheitserwägungen eine Regelung ausreiche, die die Betroffenen verpflichte, ihr Gesicht zu zeigen und sich zu identifizieren, wenn eine Gefahr für die Sicherheit von Personen oder Sachen bestünde oder die besonderen Umstände den Verdacht einer Identitätstäuschung begründeten.64 Die Bewertung der auf Sicherheitserwägungen gestützten Argumentation am Maßstab des Grundgesetzes kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Wie oben erläutert, ist im Kollisionsfall zwischen der Religionsfreiheit und dem entgegenstehendem Verfassungsgut eine Abwägung durchzuführen, bei der die widerstreitenden Rechtspositionen unter Beachtung des Grundsatzes 59 BVerfGE 108, 282 (302). 60 Vgl. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 24, m.w.N. So auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Verrichtung von islamischen Gebeten in öffentlichen Schulen, BVerwG, NVwZ 2012, 162 (164 f.). 61 Vgl. von Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 157 Rn. 130. 62 So die Argumentation der französischen Regierung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte , siehe EGMR, NJW 2014, 2925 (2928). 63 EGMR, NJW 2014, 2925 (2930 f.). 64 EGMR, NJW 2014, 2925 (2931). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 13 der Verhältnismäßigkeit einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren sollen.65 Diesem Gebot widerspräche ein allgemeines Verbot des Tragens einer Burka im öffentlichen Raum, da – wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erläutert – mildere Maßnahmen denkbar sind, mittels derer dem Ziel der Wahrung der öffentlichen Sicherheit gleichermaßen Rechnung getragen werden kann. 3.1.4.6. Garantie der Voraussetzungen für das Zusammenleben der Menschen Die französische Regierung hat bei Erlass des Verbots der Gesichtsverschleierung zu dessen Begründung geltend gemacht, dass die Barriere, die gegenüber anderen durch einen das Gesicht verbergenden Schleier errichtet werde, als Angriff auf das Recht anderer verstanden werden könne, in einem sozialen Raum zu leben, der das Zusammenleben erleichtere.66 Das systematische Verhüllen des Gesichts in der Öffentlichkeit widerspreche dem Ideal der Brüderlichkeit und genüge nicht den Mindestanforderungen der Rücksichtnahme, das für soziale Beziehungen notwendig sei.67 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht in dieser Argumentation ein berechtigtes Anliegen, nämlich die Gewährleistung der Einhaltung von Mindestanforderungen des Zusammenlebens in der Gesellschaft als Bestandteil des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer.68 Das Gericht führt weiter aus, dass es zu den Aufgaben des Staates gehöre, die Voraussetzungen für das Zusammenleben der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu garantieren.69 Es sei nachvollziehbar , dass ein Staat in diesem Zusammenhang den zwischenmenschlichen Beziehungen besondere Bedeutung beimesse und der Meinung sei, diese würden, wenn einige Personen ihr Gesicht in der Öffentlichkeit verschleierten, beeinträchtigt werden.70 Hinsichtlich der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Verbots der Gesichtsverschleierung in Bezug auf dieses Ziel stellt das Gericht fest, dass Frankreich diesbezüglich einen weiten Ermessensspielraum besitze.71 Zu prüfen ist, ob diese Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch in Deutschland ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum rechtfertigen können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine 65 Siehe oben unter 3.1.4. 66 So die Argumentation der französischen Regierung, siehe EGMR, NJW 2014, 2925 (2929). 67 So die französische Regierung, siehe EGMR, NJW 2014, 2925 (2931). 68 EGMR, NJW 2014, 2925 (2931). 69 EGMR, NJW 2014, 2925 (2931). 70 EGMR, NJW 2014, 2925 (2931). 71 EGMR, NJW 2014, 2925 (2932). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 14 Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führen darf.72 Ein Rechtsgut mit Verfassungsrang, das der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht und den Eingriff in die Religionsfreiheit im vorliegenden Fall rechtfertigen kann, ist jedoch nicht ersichtlich: Zwar kennt das Bundesverfassungsgericht – in Bezug auf das Zusammenleben von Anhängern unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen – die Aufgabe des Staates der Gewährleistung friedlicher Koexistenz.73 Aus dieser Aufgabe leitet das Bundesverfassungsgericht jedoch keine Befugnis zur Einschränkung der Religionsfreiheit, sondern ganz im Gegenteil die Pflicht des Staates zur Wahrung von Neutralität ab.74 Vereinzelt wird in der Literatur auch das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG als Anknüpfungspunkt für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Verbots der Gesichtsverschleierung gewählt.75 So sei das Tragen einer Burka nicht vereinbar mit „der für ein demokratisches Gemeinwesen grundlegenden Kultur eines offenen Dialogs“.76 Diese Argumentation erscheint jedoch angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Einschränkung der Religionsfreiheit nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen gerechtfertigt werden könne und das einschränkende Rechtsgut mit Verfassungsrang anhand einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes konkret herauszuarbeiten sei77, problematisch. Zumal zunächst darzulegen wäre, dass eine Verschleierung des Gesichts einen offenen Dialog tatsächlich ausschließt. Schließlich stellt sich in Anbetracht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch die Frage, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung, dass der Gewährleistung zwischenmenschlicher Beziehungen dient, ein legitimes Ziel verfolgt. Indem das allgemeine Persönlichkeitsrecht einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung gewährt, in dem der Einzelne seine Individualität entwickeln und wahren kann78, schützt das Grundrecht nämlich 72 Hierzu oben unter 2. In Bezug auf die Konvention ergibt sich dies auch aus dem Konventionstext selbst. Gemäß Art. 53 Europäische Menschenrechtskonvention ist die Konvention nicht so auszulegen, dass sie die Grundrechte aus dem Grundgesetz beschränkt oder beeinträchtigt. 73 Vgl. BVerfGE 93, 1 (16). 74 BVerfGE 93, 1 (16). 75 Siehe Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 69a. 76 So Kokott, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 69a. 77 Vgl. BVerfGE 81, 278 (293). 78 BVerfGE 79, 256 (268), unter Verweis auf BVerfGE 35, 202 (220). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 15 auch das Recht, nicht zu kommunizieren und zu anderen Personen in der Öffentlichkeit keinen Kontakt aufzunehmen.79 3.1.5. Ergebnis Das Tragen einer Burka wird grundsätzlich vom Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG erfasst. Ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum stellt einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar, der sich nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt und damit die Religionsfreiheit verletzt. Eine entsprechende einfachgesetzliche Regelung wäre daher mit Art. 4 GG nicht vereinbar.80 3.2. Schaffung eines Verbots der Gesichtsverschleierung auf der Ebene des Grundgesetzes Kann ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum wegen Unvereinbarkeit mit der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG nicht einfachgesetzlich ausgestaltet werden, so stellt sich die Frage, ob ein solches Verbot zum Bestandteil des Verfassungsrechts gemacht werden kann.81 Die Voraussetzungen für eine Änderung des Grundgesetzes werden durch Art. 79 GG bestimmt. In materieller Hinsicht ist gemäß Art. 79 Abs. 3 GG eine Änderung des Grundgesetzes unter anderem dann unzulässig, wenn durch sie die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu prüfen ist daher, ob die hier betroffene Religionsfreiheit eine Konkretisierung der in Art. 1 GG geschützten Menschenwürde darstellt und sofern dies zu bejahen ist, ob die davon erfassten „Grundsätze“ durch ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum „berührt“ werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist durch Auslegung der jeweiligen Grundrechtsnorm eigenständig zu bestimmen, was im Rahmen des jeweiligen Grundrechts zum Gewährleistungsinhalt des Art. 1 Abs. 1 GG gehört.82 Das Bundesverfassungsgericht betont die enge Beziehung zwischen der Religionsfreiheit aus Art. 4 GG und dem obersten Verfassungswert der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG.83 Als 79 So auch das Sondervotum der Richterinnen Nußberger und Jäderblom in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR, NJW 2014, 2925 (2933). Vgl. auch Blankenagel, Das Recht, ein „Anderer“ zu sein, DÖV 1985, 953 ff., unter Bezugnahme auf die erste Transsexuellenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 49, 286 (298)). 80 So auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 78; Barczak, „Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“, DÖV 2011, 54 (61). 81 Ausführlich hierzu , Das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 046/10), 2010, S. 10 ff. 82 BVerfGE 109, 279 (310). 83 BVerfGE 108, 282 (305). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 16 Teil des grundrechtlichen Wertesystems sei die Bekenntnisfreiheit auf die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Würde bezogen, die als oberster Wert das ganze grundrechtliche Wertsystem beherrsche.84 Erst die Religionsfreiheit gewährleiste die ungestörte Entwicklung der Persönlichkeit des Einzelnen gemäß seiner subjektiven Glaubensüberzeugungen.85 Dieser Ansicht hat sich auch die Literatur angeschlossen 86, so dass die Religionsfreiheit als Ausprägung der Menschenwürde zu betrachten ist. Entscheidend ist somit, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum nicht nur einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt, sondern zugleich auch die in Art. 1 GG niedergelegten Grundsätze berührt. Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Zum einen wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass der Menschenwürdegehalt der Religionsfreiheit insbesondere auch in dem Verbot bestünde, Kulthandlungen und entsprechende Verhaltensweisen – außer bei schwerer Sozialunverträglichkeit – zu erschweren oder zu untersagen.87 Vereinzelten Stimmen zufolge sei es sogar undenkbar, die religiöse und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit wesentlich einzuschränken, ohne damit zugleich Art. 1 GG zu verletzen.88 Andere Stimmen weisen hingegen auf eine gewisse Beliebigkeit bei der Zuordnung einzelner Schutzgüter der Menschenwürde hin89 oder verlangen ein enges Verständnis der Menschenwürde.90 Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufnahme eines Verbots der Gesichtsverschleierung in das Grundgesetz zumindest nicht unproblematisch. 4. Weitere Ausgestaltungsvarianten eines Verbots der Gesichtsverschleierung Neben einem Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum sind weitere Ausgestaltungsvarianten eines Verbots der Gesichtsverschleierung denkbar. In Betracht kommen beispielsweise ein Verbot der Gesichtsverschleierung in öffentlichen Gebäuden, ein Verbot der Gesichtsverschleierung bei der Ausübung eines öffentlichen Amtes sowie das Verbot der Gesichtsverschleierung als Schülerin. Hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Verbotsformen mit dem deutschen Recht sei auf 84 BVerfGE 52, 223 (247). 85 Vgl. BVerfGE 33, 23 (29); BVerfGE 32, 98 (106). 86 Vgl. nur Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 72. EL 2014 (Kommentierung: 27. EL), Art. 4 Rn. 11. 87 Podlech, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), Alternativkommentar, Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 1 Abs. 1 Rn. 65. 88 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 72. EL 2014 (Kommentierung: 27. EL), Art. 4 Rn. 12. 89 Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 68; zustimmend Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 1 Rn. 55. 90 Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 79 Rn. 50; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz , Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 1 Rn. 18. Siehe auch Barczak, „Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“, DÖV 2011, 54 (61), der den Menschenwürdekern des Art. 4 GG durch ein entsprechendes Verbot als nicht berührt ansieht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 302/14 Seite 17 die Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste „Burka-Verbot in öffentlichen Gebäuden“91, „Das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum“92 sowie „Zur Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots und eines Burkaverbots mit dem deutschen Recht“93 verwiesen. Da die entscheidende Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in seinem Urteil vom 1. Juli dieses Jahres – wie oben unter 3.1.4. ausgeführt – nicht auf das Grundgesetz übertragen werden kann, haben die dortigen Ausführungen unverändert Geltung. In Bezug auf das Verbot der Gesichtsverschleierung bei Schülerinnen sei schließlich auf eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus diesem Jahr verwiesen, nach der das Verbot, während des Unterrichts an einer Berufsoberschule einen gesichtsverhüllenden Schleier zu tragen, einen zulässigen Eingriff in die Religionsfreiheit der betroffenen Schülerin darstellt.94 Gerechtfertigt sei der Eingriff – so das Gericht – aufgrund des staatlichen Bestimmungsrechts aus Art. 7 Abs. 1 GG, das den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag umfasse und die staatlichen Stellen zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des Schulwesens ermächtige.95 Hierzu gehöre auch die Bestimmung der Unterrichtsmethode, etwa in Form offener Kommunikation.96 91 Burka-Verbot in öffentlichen Gebäuden – Lassen sich Burkas in öffentlichen Gebäuden verbieten?, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 444/10), 2010. 92 Das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 046/10), 2010. 93 Zur Vereinbarkeit eines Kopftuchverbots und eines Burkaverbots mit dem deutschen Recht, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 112/10), 2010, S. 14 ff. 94 VGH München, NVwZ 2014, 1109 f.; vgl. auch BVerwGE 147, 362 ff. 95 VGH München, NVwZ 2014, 1109 (1109). 96 VGH München, NVwZ 2014, 1109 (1109).