© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 301/15 Möglichkeiten der Bundesregierung, gesetzliche Regelungen zeitweilig außer Kraft zu setzen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 301/15 Seite 2 Möglichkeiten der Bundesregierung, gesetzliche Regelungen zeitweilig außer Kraft zu setzen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 301/15 Abschluss der Arbeit: 30. November 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 301/15 Seite 3 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationslage in Deutschland ist die Frage gestellt worden, auf welchem rechtlich zu beschreitenden Wege die Bundesregierung bestehende gesetzliche Verbote und Gebote zum Schutze höherrangiger Rechtsgüter zeitweilig außer Kraft setzen könnte. Es geht dabei insbesondere darum, ob die Geltung gesetzlicher Vorschriften in Fällen des Notstandes oder ähnlichen Ausnahmesituationen von der Bundesregierung ausgesetzt werden darf. Folglich soll an dieser Stelle nicht untersucht werden, in welchem Umfang der Gesetzgeber, insbesondere im Rahmen der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben, bestehende Gesetze ändern könnte. 2. Befugnisse der Bundesregierung Im Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Verwaltung (Regierung) ist nur der Bundestag befugt, Vorschriften in Bundesgesetzen oder Bundesgesetze insgesamt aufheben bzw. außer Kraft zu setzen.1 Dies folgt aus dem Rechtsstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 GG), nach dem die vollziehende Gewalt (Regierung und Verwaltung) an die Gesetze und das Recht gebunden sind. Außerdem bestimmt Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen werden; als sogenannter actus contrarius gilt dies auch für die Aufhebung und Änderung von Gesetzen. Ob dieser Grundsatz in einem Krisen-, Spannungs- oder Notstandsfall Beschränkungen unterliegen soll, wurde in der Bundesrepublik Deutschland vertieft in den 1960iger Jahren debattiert. Diese Debatte führte im Jahr 1968, auch vor dem Hintergrund der Unruhen der außerparlamentarischen Opposition und der Studentenproteste, zu einer weitreichenden Grundgesetzänderung,2 die auch als „Notstandsverfassung“3 bezeichnet wird. Die damals in das Grundgesetz eingefügten Regelungen geben jedoch der Bundesregierung (allein) nicht die Kompetenz, im Notstandsfall Gesetze oder einzelne Vorschriften außer Kraft zu setzen (dazu unten Ziff. 2.1.). Sonstige überverfassungsrechtliche Notstände,4 die es der Bundesregierung erlauben, Gesetze oder Vorschriften unberücksichtigt zu lassen, sind nach herrschender Meinung im Verfassungsrecht nicht anerkannt (dazu unten Ziff. 2.2.). Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Gesetze es der Bundesregierung teilweise erlauben, von einzelnen Vorgaben in besonders beschriebenen Fällen abzuweichen (dazu unten Ziff. 2.3.). 1 Statt aller: Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 98 m.w.N. 2 Siebzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, BGBl. I. 1968, 709. Vgl. auch die ungewöhnlich ausführliche Begründung zu dem ersten Entwurf dieses Gesetzes in BT-Drs. 5/1879, S. 6, sowie in BT-Dr. 5/2873. 3 Zu dieser Bezeichnung und der Genese der Notstandsverfassung siehe Epping, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar , Loseblattsammlung, 64. Ergänzungslieferung (Stand: Januar 2012), Art. 115a Rdnr. 12 (zur Notstandsverfassung ) und Rdnr. 7 ff. (zur Genese); Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 2. Auflage 2008, Vorb. zu Art. 115a – 115l Rdnr. 3 ff. 4 Unberücksichtigt bleibt vorliegend der so genannte Gesetzgebungsnotstand (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG). Dies betrifft den hier nicht einschlägigen Fall, dass eine vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage vom Bundestag negativ beschieden wird und der Bundespräsident den Bundestag jedoch nicht auflöst. Lehnt der Bundestag, da er nunmehr die noch im Amt befindliche Bundesregierung nicht mehr stützt, eine Gesetzesvorlage, für die der Gesetzgebungsnotstand erklärt wurde, ab, kann das Gesetz zwar trotzdem erlassen werden, aber nur wenn der Bundesrat dem zustimmt (Art. 81 GG). Somit kann auch in diesem Fall die Regierung nicht allein ein Gesetz ändern oder außer Kraft setzen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 301/15 Seite 4 2.1. Notstandsverfassung Mit der Notstandsverfassung wurden unter anderem besondere Regelungen für den Verteidigungsfall in die Art. 115a bis Art. 115l GG aufgenommen (so genannter äußerer Notstand). Den Verteidigungsfall muss der Bundestag oder, wenn dieser nicht rechtzeitig zusammentreten kann, der Gemeinsame Ausschuss feststellen (Art. 115a GG Abs. 1 und Abs. 2 GG). Der Gemeinsame Ausschuss besteht zu zwei Dritteln aus Mitgliedern des Bundestages, die nicht der Bundesregierung angehören dürfen, und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates (Art. 115a GG Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 53a GG). Im Verteidigungsfall ist bei der Gesetzgebung „nur“ ein beschleunigtes Verfahren für die Entscheidungen des Bundestages und des Bundesrates vorgesehen (Art. 115d GG). Kann der Bundestag nicht rechtzeitig zusammentreten oder ist er nicht beschlussfähig, so entscheidet unter den Voraussetzungen des Art.115e Abs. 1 GG der Gemeinsame Ausschuss über die Gesetzesvorlagen . Darüber hinaus wurde Art. 80a GG eingeführt, nach dem der Bundesregierung in einem Gesetz besondere Befugnisse für den Verteidigungs- und Spannungsfall eingeräumt werden können. Außerdem wurden Vorschriften für den Fall des so genannten inneren Notstandes geschaffen (insbesondere Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 GG). Diese regeln den Einsatz der Bundeswehr im Inneren und den besonderen Einsatz der Polizeikräfte bei einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratischen Grundordnung des Bundes oder eines Landes. Das Grundgesetz sieht damit keine besonderen Regelungen für die Gesetzgebung im Falle des inneren Notstandes vor. Die aktuelle Migrationslage in Deutschland ist wohl unstreitig nicht mit einem Verteidigungsfall im Sinne der Art. 115a ff. GG gleichzusetzen. Selbst wenn sich daraus ein innerer Notstand entwickeln würde, wäre die Bundesregierung aufgrund der entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelungen nicht befugt, Gesetze außer Kraft zu setzen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich mit den Vorschriften der Notstandsverfassung – gerade auch im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung (Art. 48 WRV) – dagegen entschieden, der Regierung im Notstandsfall eine besondere Ermächtigung zum Erlass von Notverordnungen zu geben. Er erteilte damit der Auffassung, dass der Ausnahmezustand die Stunde der Exekutive sei, eine generelle Absage.5 2.2. Überverfassungsrechtlicher Notstand und Eilkompetenzen Einen darüber hinausgehenden überverfassungsrechtlichen Notstand, der es der Bundesregierung erlauben würde, Gesetze außer Kraft zu setzen, erkennt die herrschende Meinung im deutschen Verfassungsrecht nicht an.6 Selbst im Zustand der höchsten Eskalationsstufe, d.h. wenn im Verteidigungsfall auch der Gemeinsame Ausschuss für den Erlass von Gesetzen nicht rechtzeitig 5 Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblattsammlung, 63. Ergänzungslieferung (Stand: Oktober 2011), Art. 80a Rdnr. 3; Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Auflage 2006, Art. 53a Rdnr. 1. 6 Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 2. Auflage 2008, Vorb. zu Art. 115a – 115l Rdnr. 21. Auch das Bundesverfassungsgericht lehnt z.B. den Einsatz der Bundeswehr in anderen als den im Grundgesetz festgelegten Fällen – selbst wenn es sich dabei um Notsituationen handelt – ab: BVerfGE 132, 1, 17 f. – Flugzeugabschuss/Plenumsentscheidung . Für den äußeren Notstand ebenso Stern, Staatsrecht, Band II, 1980, S. 1334 f.; zurückhaltender Windthorst, Der Notstand, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 365, 382; die letzten Beiden sehen jedoch beim inneren Notstand weitere Sachverhalte, die vom Grundgesetz nicht erfasst sein könnten, so dass ein ungeschriebenes Notstandsrecht gegeben sein kann. Diese Argumentation wird jedoch von Heun (a.a.O.) überzeugend abgelehnt. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 301/15 Seite 5 zusammen treten kann, wird von der herrschenden Meinung ein Notverordnungsrecht der Bundesregierung abgelehnt.7 In solchen Fällen sei es der Bundesregierung nur gestattet, „soweit möglich zusammen mit dem Bundespräsidenten verfassungssichernd tätig [zu] werden“.8 In einzelnen eng ausgestalteten Bereichen hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, dass die Bundesregierung in Eilfällen oder bei Gefahr im Verzug ohne eine eigentlich vorgesehene Beteiligung des Parlaments besondere Maßnahmen beschließen kann. Dies gilt insbesondere für den Einsatz der Bundeswehr in einem Notfall, in dem Deutschland seinen Bündnispflichten nachkommen muss, ohne dass der entsprechende Einsatz der Bundeswehr vom Bundestag genehmigt werden kann (Gefahr im Verzug). In diesem Fall sei die Bundesregierung berechtigt, vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und vorläufig zu vollziehen. Die Bundesregierung müsse jedoch in jedem Fall das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz befassen und die Streitkräfte seien zurückzurufen, wenn der Bundestag dies verlangen würde.9 Dabei handelt es sich somit um Einzelfälle, in denen ein vorgesehenes Verfahren, nämlich die vorgezogene parlamentarische Beteiligung, nicht eingehalten werden muss, wobei die inhaltliche Frage (Verbleib der Bundeswehr im Einsatz) weiterhin in der Letztentscheidung des Parlaments liegt. Auch diese Rechtsprechung geht – soweit ersichtlich – daher nicht soweit, dass die Bundesregierung generell, d.h. für eine Reihe von Fällen, materiell-rechtliche Vorschriften außer Kraft setzen darf. 2.3. Besondere gesetzliche Befugnisse der Bundesregierung Der Regierung und Verwaltung werden jedoch teilweise durch die einfachgesetzlichen Regelungen selbst nicht unerhebliche Spielräume gelassen. Soweit Entscheidungen in ihr Ermessen gestellt sind, kann sie dieses im Rahmen der geltenden Grenzen nutzen und auch besondere Aspekte im Falle eines Ausnahmezustandes sowie andere hochrangige Rechtsgüter dabei berücksichtigen. Darüber hinaus sehen einige Gesetze ausdrücklich bestimmte Sachverhalte vor, in denen die Bundesregierung oder die Verwaltung ermächtigt ist, von einzelnen Vorschriften des Gesetzes abzuweichen. Beispielsweise kann das Bundesministerium des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG10 „aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ anordnen, von der eigentlich in § 18 Abs. 2, 3 AsylG vorgesehenen Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung eines Ausländers, der aus einem sicheren Drittstaat (z.B. einem Mitgliedstaat der Europäischen Union) einreist, abzusehen.11 In solchen Fällen 7 Heun, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 2. Auflage 2008, Art. 115e Rdnr. 7; Robbers, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 115e Rdnr. 10; Schmidt-Radefeldt, in: Epping/Hillgruber, Beck'scher Online- Kommentar GG, Stand: 01.09.2015 (Edition 26), Art. 115e Rdnr. 8; a.A. Grothe, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band II, 6. Auflage 2010, Art. 115e Rdnr. 9. 8 Robbers, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 115e Rdnr. 10. 9 Zum Einsatz der Bundeswehr bei Gefahr im Verzug siehe BVerfGE 90, 286, 388 – Out-of-Area-Einsätze; BVerfGE 132, 1, 22 f. – Flugzeugabschuss/Plenumsentscheidung. 10 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das durch Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722) geändert worden ist. 11 Zum Anwendungsbereich der Einreisgestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG siehe Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: August 2009, § 18 AsylVfG Rdnr. 42 f.; Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand: Juli 2009, § 18 AsylVfG Rdnr. 9; Bruns, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar Ausländerrecht, 1. Aufl., 2008, § 18 AsylVfG Rdnr. 22. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 301/15 Seite 6 handelt die Bundesregierung aber dann immer noch, soweit alle gesetzlichen Voraussetzungen eingehalten werden, innerhalb der geltenden Gesetze. 3. Fazit Der Bundesregierung ist es nach herrschender Meinung nicht gestattet, gesetzliche Vorschriften oder Gesetze insgesamt außer Kraft zu setzen. Auch die im Grundgesetz für die verschiedenen Notstände vorgesehenen Regeln weichen nicht davon ab. Mit der Einführung der „Notstandsverfassung “ im Jahr 1968 in das Grundgesetz hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber erneut dafür entschieden, dass der Bundesregierung keine entsprechenden Befugnisse zukommen sollen. Da die Bundesregierung (allein) sogar im Verteidigungsfall keine Gesetze ändern oder außer Kraft setzen kann, kann im Hinblick auf die aktuelle Migrationslage (außerhalb des Verteidigungsfalles) nichts anderes gelten. Einen weitergehenden überverfassungsrechtlichen Notstand gibt es nach der herrschenden Meinung nicht. Da die einfachen Gesetze es jedoch der Bundesregierung, Mitgliedern der Bundesregierung oder sonstigen Teilen der Verwaltung teilweise erlauben, in bestimmten Situationen und unter besonderen Voraussetzungen von einzelnen Regelungen abzuweichen , ergibt sich auf dieser Basis ein nicht unerheblicher Spielraum der Regierung. Ende der Bearbeitung.