Deutscher Bundestag Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Euro- Rettungsschirm Konsequenzen für die Errichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 300/11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 300/11 Seite 2 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Euro-Rettungsschirm Konsequenzen für die Errichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 300/11 Abschluss der Arbeit: 15. September 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 300/11 Seite 3 1. Einleitung Mit Urteil vom 7. September 20111 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) drei Verfassungsbeschwerden gegen deutsche und europäische Rechtsakte und andere Maßnahmen zurückgewiesen , die im Kontext der Finanzhilfen für Griechenland und des temporären Euro- Rettungsschirms stehen. Der vorliegende Sachstand fasst zunächst kurz das Urteil vom 7. September 2011 zusammen und erörtert anschließend, welche Schlussfolgerungen aus den Aussagen des BVerfG im Hinblick auf die Errichtung eines dauerhaften Krisenmechanismus wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gezogen werden können. 2. Kurzzusammenfassung des Urteils vom 7. September 20112 Als zulässige Beschwerdegegenstände hat das BVerfG nur das Währungsunion- Finanzstabilitätsgesetz (WFStG) vom 7. Mai 20103, sowie das Stabilitätsmechanismusgesetz (StabmechG) vom 21. Mai 20104 zugelassen. Prüfungsmaßstab des BVerfG ist Art. 38 Abs. 1 GG und die Grundsätze des Demokratiegebots nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG, die die Identität der Verfassung garantieren. Eine Verletzung des Wahlrechts bejaht das BVerfG für den Fall, dass sich der Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entledige, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben könnten. Der Haushaltsgesetzgeber müsse „Herr seiner Entschlüsse“ bleiben und seine Entscheidungen über Einnahmen, z. B. Steuern, und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe der EU und anderer Mitgliedstaaten treffen. Das BVerfG räumt in diesem Zusammenhang ein, dass Gewährleistungsermächtigungen grundsätzlich „in einem erheblichen Spannungsverhältnis“ zum Grundsatz der Eigenbestimmung des Haushaltsgesetzgebers stünden. Eine Grenze zieht das BVerfG dort, wo der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus zustimmen würde, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle entzogen wäre. Wie im Lissabon-Urteil betont das BVerfG die Integrationsverantwortung des Bundestages, die auch für haushaltswirksame Maßnahmen gelte. Konkret stellt das BVerfG fest, dass jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden müsse. Darüber hinaus müsse hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln bestehen. 1 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011; http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20110907_2bvr098710.html [letzter Aufruf 13.9.2011]. 2 Siehe auch , Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm, Aktueller Begriff Nr. 26/11 vom 8. September 2011, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. 3 BGBl. I S. 537. 4 BGBl. I S. 627. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 300/11 Seite 4 Das BVerfG kommt zum Ergebnis, das das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG durch die haushaltsrechtlichen Ermächtigungen in Deutschland zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen der bereits erfolgten Rettungsprogramme nicht verletzt werden, da das Haushaltsrecht des Bundestages nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise ausgehöhlt werde. Die Überschreitung einer Obergrenze für die Übernahme von Gewährleistungen wurde verneint, da die Haushaltsautonomie nur zeitweise eingeschränkt werde und nicht praktisch vollständig leerlaufe. Jedoch müsse § 1 Abs. 4 S. 1 StabMechG, der ein Bemühen der Bundesregierung um Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss vorsieht, verfassungskonform so ausgelegt werden, dass der Haushaltsausschuss grundsätzlich vor der Übernahme von Gewährleistungen zustimmen muss. Nur so würde der fortdauernde Einfluss des Bundestages auf die Gewährleistungsentscheidungen sichergestellt . Die in § 1 Abs. 4 S. 3 StabMechG enthaltene Ausnahmeregelung, die der Bundesregierung aus zwingenden Gründen gestattet, den Haushaltsausschuss erst nach der Übernahme der Gewährleistung zu unterrichten, wird vom BVerfG hingegen nicht angetastet. 3. Bedeutung des Urteils für zukünftige dauerhafte Krisenmechanismen Wenngleich das Urteil keine direkten Aussagen zu einem künftigen ESM oder zu Eurobonds trifft, so kann doch aus einigen Passagen des Urteils geschlussfolgert werden, dass der zweite Senat auch künftige finanzpolitische Entwicklungen in der EU bzw. in den Euro-Staaten im Blick hatte. Präsident Voßkuhle, der Vorsitzende des Zweiten Senats, warnte in seiner Einführung zur Urteilsverkündung ausdrücklich davor, den knappen Tenor in eine „verfassungsrechtliche Blanko -Ermächtigung für weitere Rettungspakete“ fehl zu deuten. Das BVerfG zeigt im Urteil über den konkreten Fall hinaus die Grenzen des Wahlrechts nach Art. 38 Abs. 1 GG auf. Dessen Gewährleistungsgehalt umfasst die Grundsätze des Demokratiegebotes gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, die durch Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung garantiert werden, eine Verfassungsänderung ist folglich ausgeschlossen.5 Diese Grenzen werden nach Aussage des BVerfG dann überschritten, wenn der Bundestag das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben könne.6 Die eigenverantwortliche Entscheidung der Abgeordneten im Deutschen Bundestag über Ausgaben und Einnahmen umfasse nationale ebenso wie internationale und europäische Verbindlichkeiten.7 Daher dürften keine unbestimmten haushaltspolitischen Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen werden. Auch die Beteiligung an „finanzwirksamen Mechanismen“, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen könnten, seien nicht verfassungsgemäß.8 Der Haushaltsgesetzgeber müsse seine Entscheidungen über Ausgaben und Einnahmen unabhängig von anderen Mitgliedstaaten oder Organen der EU treffen können. Zukunftsweisend sind insbesondere folgende Passagen im Urteil: 5 So auch Thym, Daniel, Karlsruher Absage an Kollektivhaftung für Staatsschulden, Legal Tribune Online vom 7.09.2011, http://www.lto.de/de/html/nachrichten/4232/urteil-zum-euro-rettungsschirm-karlsruher-absage-ankollektivhaftung -fuer-staatsschulden [abgerufen am 14.09.2011]. 6 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 121. 7 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 124. 8 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 125. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 300/11 Seite 5 Würde der Bundestag in erheblichem Umfang zu Gewährleistungsübernahmen pauschal ermächtigen, könnten fiskalische Dispositionen anderer Mitgliedstaaten zu irreversiblen, unter Umständen massiven Einschränkungen der nationalen politischen Gestaltungsräume führen.“9 Gerade die o.g. Aussage wird zum Teil als Hinweis verstanden, dass das BVerfG eine Kollektivhaftung der Euro-Staaten für die Staatsschulden eines anderen Mitgliedstaates in Form von Eurobonds für verfassungswidrig erachten würde.10 Auch “Bürgschafts- oder Leistungsautomatismen“ und „dauerhafte völkerrechtliche Mechanismen “ lehnt das BVerfG ab: „Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt jedoch, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus“ nicht zustimmen darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist.“ 11 „Daher dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden , die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen , vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind.“12 Sollte ein dauerhafter europäischer Stabilitätsmechanismus eingerichtet werden, wäre dieser nur verfassungsgemäß, wenn der Bundestag jeder Hilfsmaßnahme im Einzelnen zustimmt und nicht seine „Integrationsverantwortung“ abgibt. Das BVerfG führt hierzu aus: „Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden .13 Das BVerfG nennt keine zahlenmäßige Höchstgrenze für die Übernahme von Gewährleistungen, insoweit komme dem Gesetzgebers ein Einschätzungsspielraum im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit des Gewährleistungseintritts, die Abschätzung der zukünftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushaltes und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland zu.14 Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze für die Übernahme von Gewährleistungen könnte nur überschritten werden, wenn im Falle eines Eintritts der Gewährleistungen , „die Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch leerliefe“15. Im konkreten Einzelfall führt das BVerfG 9 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 127. 10 Thym (Fn. 5), S. 2; Gauweiler, „Das Urteil verbietet Euro-Bonds, Handelsblatt vom 8.09.2011. 11 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 127. 12 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 128. Nach Auffassung von Prof. Callies verdeutliche dieser Satz, dass es keine Transferunion im Sinne eines bundesstaatsähnlichen Finanzausgleichs in der EU geben dürfe (zitiert nach: Brackmann/Goffar/Münchrath, Verfassungsgericht untersagt Transferunion, Handelsblatt vom 8.09.2011.) 13 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 128. 14 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 130 ff. 15 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 135. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 300/11 Seite 6 dazu aus, dass es insoweit nicht darauf ankomme, ob die Gewährleistungssumme gegebenenfalls weit größer sei als der größte Haushaltstitel des Bundes und die Hälfte des Bundeshaushalts erheblich überschreite, da dies allein nicht der Maßstab einer verfassungsrechtlichen Begrenzung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers sein könne.16 Zukünftig muss der Bundestag „frei von Fremdbestimmung“ seitens der Organe der EU und anderer Mitgliedstaaten bei Euro-Rettungsaktionen entscheiden. Im konkreten Fall des StabMechG schreibt das BVerfG die Zustimmung des Haushaltsausschusses vor, darüber hinaus spricht es nur von der konstitutiven Zustimmung des Bundestages. Der Bundestag muss daher selbst entscheiden , ob die Einzelbewilligungen von Hilfsmaßnahmen durch das Plenum, den Haushaltsausschuss und /oder einen andere Ausschuss erfolgen müssen, und wie der hinreichende parlamentarische Einfluss im Übrigen gesichert wird. 16 BVerfG, 2 BvR 987/10 vom 7.9.2011, Rn. 135.