Verfassungsgrundsätze Die Absicherung des Demokratieprinzips und des Sozialstaatsprinzips durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - Ausarbeitung - © 2009 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 297/09 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Verfassungsgrundsätze Die Absicherung der Verfassungsgrundsätze durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 297/09 Abschluss der Arbeit: 20.08.2009 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 2. Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts 5 2.1. Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Zahlen 5 2.2. Die demokratische Funktion der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 5 3. Das Demokratieprinzip 6 4. Das Sozialstaatsprinzip 6 5. Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Demokratieprinzip 7 5.1. Vertrag von Lissabon 7 5.2. Unzulässige Mischverwaltung bei der Bildung der Arbeitsgemeinschaften 9 5.3. Verwendung von Wahlcomputern verfassungswidrig 10 5.4. Verfassungswidrigkeit des Effekts des negativen Stimmgewichts 12 5.5. BND-Untersuchungsausschuss 14 5.6. Ausländerwahlrecht 16 6. Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Sozialstaatsprinzip 18 6.1. Besteuerung des Existenzminimums 18 6.2. Nichtberücksichtigung von Zeiten des Mutterschutzes 19 6.3. Kindererziehungszeiten 20 6.4. Numerus Clausus 21 6.5. Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung 23 - 4 - 1. Einleitung Das Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland 1 greift die Tradition fast aller geschriebenen Verfassungen auf, zentrale Grundsätze zur Organisation und zum Selbstverständnis des von ihnen verfassten Staates in einem einzigen Verfassungsartikel zusammenzufassen. 2 Im Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Staatsverständnisses steht der Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Diese Verfassungsnorm beinhaltet neben dem republikanischen Prinzip und der Bundesstaatlichkeit das - Demokratieprinzip und das - Sozialstaatsprinzip als wesentliche und fundamentale Aussagen über die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland. Grundsätzlich lassen sich diese Prinzipien in zwei Gruppen unterscheiden. Zum einen in die Staatsstrukturprinzipien3 und die Staatszielbestimmungen 4, wobei das Demokratieprinzip ein Staatsstrukturprinzip darstellt, während das Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung zu betrachten ist. Vor allem Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus der jüngsten Vergangenheit bieten Anlass, die Tätigkeit des Gerichts im Hinblick auf die Absicherung der genannten Verfassungsgrundsätze näher zu untersuchen. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die verschiedenen Entscheidungen zu beleuchten, mit denen Gesetze bzw. einzelne Normen im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Demokratie- und/oder Sozialstaatsprinzips für verfassungswidrig erklärt wurden. Hierzu erfolgt zunächst eine kurze Erläuterung der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts anhand konkreter Fallzahlen (Ziffer 2.). Anschließend werden die wesentlichen Strukturen des Demokratie- und Sozialstaatsprinzips dargestellt (Ziffer 3. und 4.), schließlich einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus jüngster Zeit hierzu vorgestellt (Ziffer 5. und 6.). 1 Vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949, I, 1), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2248). 2 Herzog, Roman, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, Kommentar, 53. Auflage 2009, Art. 20 Rn. 1. 3 Unter Staatsstrukturprinzipien werden dabei staatsorganisatorische, formale Grundprinzipien der Verfassung verstanden, welche die Modalitäten der Staatstätigkeit beeinflussen (Sommermann, Karl-Peter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Band II, 5. Auflage 2005, Art. 20 Rn. 5). 4 Bei Staatszielbestimmungen handelt es sich um materielle Verfassungsprinzipien, welche den Staat auf die Verfolgung eines bestimmten, inhaltlich näher bestimmten Ziels verpflichten (Sommermann, Karl-Peter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Band II, 5. Auflage 2005, Art. 20 Rn. 5). - 5 - 2. Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts 2.1. Die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Zahlen Nach seiner Jahresstatistik 2008 hat das Bundesverfassungsgericht zwischen 1951 und 2008 insgesamt 46 Bundes- und 20 Landesgesetze sowie 390 Einzelnormen des Bundes und 155 Einzelnormen der Länder ganz oder teilweise als verfassungswidrig beanstandet .5 Was zunächst nach einer erheblichen Anzahl klingt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als nicht sehr hoch, da das Gericht im gleichen Zeitraum insgesamt über 170.000 Verfahren entschieden hat. Statistisch wurde nur in etwa 0,4 vom Hundert aller entschiedenen Fälle eine (einzelne) Bundes- oder Landesnorm beanstandet.6 2.2. Die demokratische Funktion der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Die Normprüfungstätigkeit durch das Bundesverfassungsgericht ist immer dann am sichtbarsten, wenn das Gericht Normen annulliert. Gesetze aus den Politikbereichen Rechtspolitik, Sozialpolitik und Steuer- und Finanzpolitik werden – in absoluten Zahlen betrachtet – häufiger annulliert als Normen aus den Bereichen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt -, Bildungs-, Verkehrs-, Gesundheits- und Umweltpolitik.7 Hieraus lässt sich aber nicht schließen, dass das Bundesverfassungsgericht besonders auf den Gebieten der Rechts-, Sozial-, Steuer- und Finanzpolitik dazu neigt, in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers „hineinzuregieren“. Ein solcher Schluss wäre aus zwei Gründen zu voreilig : Erstens gibt die bloße Anzahl der Annullierungen keinen Hinweis darauf, weshalb eine Norm annulliert wurde. Eine Norm kann aus formalen oder aus materiellen Grünen beanstandet werden, sie kann eindeutig gegen Verfassungsbestimmungen verstoßen oder „nur“ der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Auslegung bestimmter Normen widersprechen. Vor allem folgt aus der Bestätigung oder Annullierung einer Norm noch nicht, ob das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung seine demokratische Funktion adäquat erfüllt hat oder nicht. Zweitens sagt auch hier die absolute Anzahl der Annullierungen in einem Politikfeld nichts über die tatsächliche Annullierungsaffinität des Bundesverfassungsgerichts aus, wenn diese Zahl nicht vor dem Hintergrund aller anfallenden Normprüfungen innerhalb eines Politikfeldes betrachtet wird. 5 Vom Bundesverfassungsgericht in der Zeit von 1951 bis 31.12.2008 als verfassungswidrig beanstandete Gesetze und Verordnungen, www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/gb2008/A-VI.html, [Stand: 13.08.2009]. 6 Kneip, Sascha, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 1. Auflage 2009, S. 287, 295, 308 und 348. 7 Kneip, Sascha, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 1. Auflage 2009, S. 308. - 6 - 3. Das Demokratieprinzip Demokratie bedeutet Volkssouveränität8, die Organisationsform politischer Herrschaft, bei der die Errichtung und Organisation der politischen Herrschaftsgewalt auf eine vom Volk ausgehende Entscheidung und Legitimation zurückgeführt werden kann. Einziger Träger der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 GG und im demokratischen Ursprung handlungsfähig ist das deutsche Volk.9 Die Grundsätze des Demokratieprinzips fordern demnach ein durch Staatsangehörigkeit auf Dauer verbundenes Staatsvolk, das durch Wahlen einen Gesetzgeber hervorbringt und periodisch neu bestätigt. Dieser soll für das Volk die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausüben.10 Das Demokratieprinzip wird seit jeher in seinem Wesen und seiner Bedeutung und damit auch in seiner begrifflichen Festlegung äußerst unterschiedlich beurteilt und verstanden . 11 Aufgabe kann es hier nicht sein, in eine grundsätzliche Demokratiediskussion – also zur unmittelbaren, mittelbaren, parlamentarischen, präsidialen oder Volksdemokratie – einzutreten, von denen es jeweils noch zahlreiche Variationen gibt. Nachfo lgend gilt es vielmehr, den normativen Befund des Demokratiegebots, wie er sich vor allem in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert hat, darzustellen. 4. Das Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip, als ein Grundprinzip des Grundgesetzes, legt ein Ziel fest, dem sämtliche Staatsorgane verpflichtet sind. Für das Sozialstaatsprinzip gilt wie für alle Staatszielbestimmungen, dass es grundsätzlich keinen einklagbaren Anspruch gewährt . Als abstraktes Recht ohne nähere Qualifizierung durch formelle oder verfahrensmäßige Merkmale steht es den staatlichen Organen grundsätzlich frei, welchen Weg oder mit welchen Mitteln das Ziel erreicht werden soll.12 Die beiden Grundelemente des Prinzips die aus dem Solidaritätsgedanken13 abzuleitenden Forderungen der sozialen Sicherheit und des sozialen Ausgleichs . Die Ziele „soziale Sicherheit“ und „sozialer Ausgleich “ eröffnen eine breite Palette möglicher staatlicher Interventionen. Diese reicht 8 Herzog, Roman, in: Maunz/ Düring, Grundgesetz Kommentar, Art. 20 II Rn. 2, 33; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, HStR Bd. 3, 2004, § 24 Rn. 5f. 9 BVerfGE 83, 37 (50ff.). 10 Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts Band 2, 3. Auflage 2004, § 21 Rn. 89. 11 Vgl. hierzu im Einzelnen Katz, Alfred, Staatsrecht, 17. Auflage 2007, § 9 Rn. 137 ff. 12 BVerfGE 59, 231 (263): „Das Sozialstaatsprinzip stellt als dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist …“. 13 Zum Solidaritätsprinzip umfassend: Uwe Volkmann, Solidarität - Programm und Prinzip der Verfassung , Tübingen 1998. - 7 - von dem lediglich das Existenzminimum sichernden Staates bis hin zu dem auf stetige Expansion und Perfektion gerichteten Versorgungsstaat. Das Sozialstaatsprinzip enthält das Gebot, die Schwachen zu schützen und ihnen zu helfen, die Teilhabe an den Einrichtungen und Gütern sowie die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für jedermann zu bewirken. Darüber hinaus verfolgt es das Ziel, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und den Abbau von Abhängigkeiten zu sorgen. Das Gemeinwohl ist gegen Individual- und Verbandsegoismus zu sichern und soziale Gerechtigkeit und Sicherheit anzustreben, dabei dürfen neben den Leistungsempfängern die Leistungszahler nicht übersehen werden. Das Sozialstaatsprinzip ist dabei weder eine substanzlose, leere „Blankettformel“ noch eine bloße sozialkaritative Bestimmung, sondern eine unmittelbar geltende fundamentale normative Verfassungsaussage, die die staatlichen Hoheitsträger ermächtigt und verpflichtet , durch aktive Sozialgestaltung für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu sorgen (rechtlich verbindliche Staatszielbestimmung mit gleichzeitig verfassungsplitisch eminenter Ausstrahlungskraft ; Mandat zur aktiven Sozial-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturpolitik).14 5. Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Demokratieprinzip 5.1. Vertrag von Lissabon15 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar das deutsche Gesetz zum Vertrag von Lissabon (Zustimmungsgesetz) mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt. Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (sog. Begleitgesetz) wurde allerdings mit dem Grundgesetz für teilnichtig erklärt. Es räumt dem Bundestag und dem Bundesrat keine hinreichenden Beteiligungsrechte im europäischen Rechtsetzungs- und Vertragsänderungsverfahren ein. Das Bundesverfassungsgericht entwickelt den Maßstab seiner Prüfung auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 GG, dem Wahlrecht, das einen Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung garantiert. Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen , ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips . Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Sie ist verletzt, wenn die Organisation der Staatsgewalt so geän- 14 Vgl. hierzu Katz, Alfred, Staatsrecht, 17. Auflage 2007, § 11 Rn. 215 unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (198); 69, 272 (314). 15 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html, 2 BvE 2/08, [Stand: 19.08.2009]; vgl. auch Schröder, Birgit/ Last, Christina, in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Aktueller Begriff (WD 3 – Nr. 54/09). - 8 - dert wird, dass dem Deutschen Bundestag keine Aufgaben von substantiellem politischem Gewicht blieben. Voraussetzung für eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beachtet wird. Hiernach dürfen der Europäischen Union nur sachlich begrenzte Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten übertragen werden. Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt somit die Übertragung der „Kompetenz-Kompetenz“.16 Das Gericht stellte fest, dass das Begleitgesetz in Teilen gegen Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verstoße und daher verfassungskonform ausgefüllt werden müsse. Insbesondere Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat in den Fällen der Vertragsänderung sah das Gericht nicht im erforderlichen Umfang ausgestaltet .17 Die vom Demokratieprinzip im geltenden Verfassungssystem geforderte Wahrung der Souveränität im vom Grundgesetz angeordneten Sinn bedeute für sich genommen nicht, dass eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssten. Die europäische Vereinigung dürfe allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibe. Sowohl das Demokratieprinzip als auch das ebenfalls von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG strukturell geforderte Subsidiaritätsprinzip verlangten, gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse, die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen. Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit galten seit jeher unter anderem Entscheidungen über die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand sowie die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen. 18 Eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung des Budgetrechts des Bun- 16 Vgl. Schröder, Birgit/Last, Christina, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Aktueller Begriff (WD 3 – Nr. 54/09), 2009 mit weiteren Nachweisen. 17 Schröder, Birgit/Last, Christina, in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Aktueller Begriff (WD 3 – Nr. 54/09). 18 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html, 2 BvE 2/08, Rn. 256, [Stand: 20.08.2009]. - 9 - destages läge vor, wenn die Entscheidung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang nicht mehr auf innerstaatlicher Ebene getroffen werden könne. Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Maßgeblich ist aber, dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch im Deutschen Bundestag getroffen werden können. 19 5.2. Mischverwaltung bei der Bildung der Arbeitsgemeinscha ften20 In dem Urteil zur Bildung von Arbeitsgemeinschaften (ARGE) zwischen Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit wurde eine Regelung des Sozialgesetzbuches Zweites Buch21 (SGB II) für verfassungswidrig erklärt. Die in § 44b SGB II geregelte Pflicht der Kreise zur Aufgabenübertragung der Leistungen auf die Arbeitsgemeinschaften und die einheitliche Aufgabenwahrnehmung von kommunalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften verletzt die Gemeindeverbände in ihrem Anspruch auf eigenverantwortliche Aufgabenerledigung und verstößt gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten ist vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert und auf diese Weise demokratische Verantwortlichkeit ermöglicht.22 Demokratische Legitimation kann in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden. 23 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. 24 Der Gesetzgeber muss bei der Bestimmung der Reichweite der Selbstverwaltungsgarantie nicht nur einen Kernbereich unangetastet lassen. 25 Vielmehr hat er den verfassungsgewollten prinzipiellen Vorrang einer dezentralen, also gemeindlichen, vor einer zentral und damit staatlich determinierten Aufgabenwahrnehmung zu berücksichtigen. 19 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html, 2 BvE 2/08, Rn. 257, [Stand: 20.08.2009]. 20 BVerfGE 119, 331. 21 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Gesetzes vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.7.2009 (BGBl. I S.1990). 22 BVerfGE 47, 253 (275); 52, 95 (130); 93, 37 (66f.); 119, 331 (366). 23 Voßkuhle, Andreas, Grundlagen des Verwaltungsrechts, 1. Auflage 2006, Bd. 1, § 6 Rn. 5). 24 BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66f.). 25 BVerfGE 119, 331 (363). - 10 - Ordnet der Gesetzgeber an, dass die Aufgaben gemeinsam von Bund und Gemeinden oder Gemeindeverbänden wahrgenommen werden, ist für die verfassungsrechtliche Prüfung entscheidend, ob die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern gemäß Art. 83ff. GG eingehalten sind. Überschreitet der Gesetzgeber die ihm dort gesetzten Grenzen des zulässigen Zusammenwirkens von Bundes- und Landesbehörden, führt dies gleichzeitig zu einer Verletzung der kommunalen Selbstverwa ltungsgarantie in ihrer Ausprägung als Garantie eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG. Die Kompetenzaufteilung nach Art. 83 GG ist eine wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips des Grundgesetzes und dient dazu, die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen. 26 Die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern sind grundsätzlich getrennt und können selbst mit Zustimmung der Beteiligten nur in den vom Grundgesetz vorgesehenen Fällen zusammengeführt werden. Zugewiesene Zuständigkeiten sind grundsätzlich mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Durch die gemeinsame Wahrnehmung der Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen, die eine klare Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen, fehlt es an demokratischer Legitimation. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür - auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme - verantwortlich machen kann. 27 Besondere Gründe, die ausnahmsweise eine gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den Arbeitsgemeinschaften rechtfertigen könnten, existieren nach dem Bundesverfassungsgericht nicht.28 5.3. Verwendung von Wahlcomputern29 Das Bundesverfassungsgericht hat über zwei Wahlp rüfungsbeschwerden geurteilt, die sich gegen den Einsatz von rechnergesteuerten Wahlgeräten (sog. Wahlcomputer) bei der Bundestagswahl 2005 zum 16. Deutschen Bundestag richteten. Bei der herkömmlichen Wahl mit Stimmzetteln sind Manipulationen oder Wahlfä lschungen nur mit erheblichem Einsatz und unter einem sehr hohen Entdeckungsrisiko möglich. Programmierfehler in der Software oder zielgerichtete Wahlfälschungen durch Manipulation der Software bei elektronischen Wahlgeräten sind dagegen nur schwer erkennbar. Die sog. Bundeswahlgeräteverordnung ist deshalb wegen Ver- 26 BVerfGE 108, 169 (181f.). 27 BVerfGE 119, 331 (366). 28 BVerfGE 119, 331 (370). 29 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html, 2 BvC 3/07, [Stand: 19.08.2009]. - 11 - stoßes gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl für verfassungswidrig erklärt worden. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts enthalte die Verordnung keine Regelung, die sicherstellt, dass nur solche Wahlgeräte zugelassen und verwendet werden, die eine wirksame Kontrolle der Wahlhandlung und eine zuverlässige Nachprüfbarkeit der Wahlergebnisse sicherstelle.30 Der Einsatz elektronischer Wahlgeräte setzt voraus, dass die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnismitteilung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl (Art. 38 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG).31 Die Staatsform der parlamentarischen Demokratie, in der die Herrschaft des Volkes durch Wahlen mediatisiert, also nicht dauernd unmittelbar ausgeübt wird, verlangt, dass der Akt der Übertragung der staatlichen Verantwortung auf die Parlamentarier einer besonderen öffentlichen Kontrolle unterliegt. Die Wahl der Volksvertretung stellt in der repräsentativen Demokratie den grundlegenden Legitimationsakt dar. Die Stimmabgabe bei der Wahl zum Deutschen Bundestag bildet hierbei das wesentliche Element des Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und damit zugleich die Grundlage der politischen Integration. Die Öffentlichkeit der Wahl ist Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung . Sie sichert ordnungsgemäße sowie nachvollziehbare Wahlvorgänge und schafft damit eine wesentliche Voraussetzung für begründetes Vertrauen der Bürger in den korrekten Ablauf der Wahl. Die grundsätzlich gebotene Öffentlichkeit im Wahlverfahren umfasst in diesem Zusammenhang das Wahlvorschlagsverfahren, die Wahlhandlung (in Bezug auf die Stimmabgabe durchbrochen durch das Wahlgeheimnis) und die Ermittlung des Wahlergebnisses .32 Nur durch die Möglichkeit einer Kontrolle, ob die Wahl den verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen entspricht, kann sichergestellt werden, dass die Delegation der Staatsgewalt an die Volksvertretung, die den ersten und wichtigsten Teil der ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtsträgern bildet, nicht an einem Defizit leidet. Die demokratische Legitimität der Wahl verlangt nach Kontrollierbarkeit des Wahlvorgangs , damit Manipulation ausgeschlossen oder korrigiert und unberechtigter Ver- 30 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html, 2 BvC 3/07 Rn. 145f., [Stand: 18.08.2009]. 31 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html, 2 BvC 3/07 Rn. 91, [Stand: 18.08.2009]. 32 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20090303_2bvc000307.html, 2 BvC 3/07 Rn. 106, [Stand: 18.08.2009]. - 12 - dacht widerlegt werden kann. 33 In einer Republik ist die Wahl Sache des ganzen Volkes und gemeinschaftliche Angelegenheit aller Bürger. Dem entspreche es, dass auch die Kontrolle des Wahlverfahrens eine Angelegenheit und Aufgabe aller Bürger sein muss. Jeder Bürger muss die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen können. Das Bundesverfassungsgericht hebt hervor, die Öffentlichkeit der Wahl sei Grundvoraussetzung für eine demokratische politische Willensbildung. Dabei komme der Kontrolle der Wahlhandlung und der Ermittlung des Wahlergebnisses eine besondere Bedeutung zu. 34 Der Einsatz von Wahlgeräten, die die Stimmen der Wähler elektronisch erfassen und das Wahlergebnis elektronisch ermitteln, genügt nur dann den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn die wesentlichen Schr itte von Wahlhandlung und Ergebnismitteilung zuverlässig und ohne besondere Sachkunde überprüft werden können. 5.4. Effekts des negativen Stimmgewichts35 Das Bundesverfassungsgericht hat das bisher geltende Wahlrecht wegen eines Systemfehlers für verfassungswidrig erklärt. Es hat festgestellt, dass eine für eine Partei abgegebene Stimme unter bestimmten Umständen dieser Partei nicht nützen, sondern ihr sogar schaden kann („negatives Stimmgewicht“). Dies verletzt nach Auffassung des Gerichts die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl trägt der vom Demokratieprinzip vorausgesetzten Gleichberechtigung der Staatsbürger Rechnung. Die Gleichbehandlung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechts ist eine der wesentlichen Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie das Grundgesetz verfasst. Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben müsse.36 Das bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag angewandte Wahlsystem wird als personalisierte Verhältniswahl bezeichnet. Jeder Wähler kann eine Erst- und eine Zweitstimme abgeben. Die Erststimme dient der Wahl eines lokalen Wahlkreisbewerbers, während die Zweitstimme über die Mandatsverteilung zwischen den Parteien nach dem Prinzip der Verhältniswahl entscheidet. Die resultierenden Stärkeverhältnisse der Fraktionen im Parlament richten sich fast ausschließlich nach dem Zweitstimmenergebnis. 33 Ebenda, Rn. 108. 34 Ebenda, Rn. 111. 35 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html, 2 BvC 1/07, [Stand: 20.08.2009]. 36 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html, 2 BvC 1/07, Rn. 92, [Stand: 20.08.2009]. - 13 - Die personelle Besetzung der Mandate wird hierbei maßgeblich auch über die Erststimmen beeinflusst. In diesem Sinne überwiegt im gemischten deutschen Wahlsystem der Charakter der Verhältniswahl. Erst- und Zweitstimmen werden getrennt ausgezählt. Nach Auszählung der Stimmen erfolgt die Verteilung der Sitze auf die Parteien. Es werden die Hälfte der regulären Anzahl der Parlamentssitze mit 299 Direktmandaten für 299 Wahlkreise vergeben. Jeweils an den lokalen Bewerber mit der höchsten Zahl der Erststimmen. Die verbleibenden Parlamentssitze werden als Listenmandate zwischen den zur Wahl angetretenen Parteien so verteilt, dass die Gesamtzahl der Mandate pro Partei (Direktmandate plus Listenmandate) das Verhältnis der für die Parteien im gesamten Bundesgebiet abgegebenen Zweitstimmen möglichst genau wiedergibt. In dem geschilderten Verfahren entsteht immer dann eine besondere Lage, wenn eine Partei in einem Bundesland nach Erststimmen schon mehr Direktmandate gewonnen hat, als ihr im Rahmen der Unterverteilung nach Zweitstimmen insgesamt an Mandaten zugewiesen werden müsste. Der Gesetzgeber hat sich in der Vergangenheit dafür entschieden , solche überzähligen Mandate der jeweiligen Partei zu belassen. Diese Überhangmandate kommen zur regulären Sitzzahl im Bundestag hinzu. 37 Bisher hat es noch keine Situation gegeben, in der die Kanzlermehrheit nur durch Einbeziehung von Überhandmandaten zustande kam.38 Der durch § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 Bundeswahlgesetz39 bewirkte Effekt des negativen Stimmgewichts kann dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für solche Parteien, die Überhangmandate in einem Land gewinnen, insofern negativ wirken, als diese Parteien in demselben oder einem anderen Land Mandate verlieren. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist. Das Gericht hat entschieden, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts (§§ 6, 7 BWG) die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletze. Alle Wähler sollten mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Nach diesen Maßstäben verletzten § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, soweit hierdurch der Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht werde. Die Erfolgswertgleichheit fordere, dass der Wert jeder Stimme, für welche Partei sie auch im- 37 Lübbert, Daniel, Negative Stimmgewichte und die Reform des Bundestag-Wahlrechts, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg), (WD 8 – 020/09), 2009. 38 Limpert, Martin/Kuhn, Lena, Überhandmandate von der 1. bis zur 16. Wahlperiode, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), (WD 3 – Nr. 53/09). 39 Bundeswahlgesetz (BWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, berichtigt S. 1594), zuletzt geändert durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2.7.2009 (BGBl. I S. 1286). - 14 - mer abgegeben wurde, gleich sein muss. Diese Gleichhe it sei aber verletzt, wenn die beabsichtigten positiven Wirkungen der Stimmabgabe in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ein Wahlsystem, auf dem die Mandatsverteilung beruht, müsse grundsätzlich frei von willkürlichen und widersinnigen Effekten sein. 40 5.5. BND-Untersuchungsausschuss41 Das Verfahren betrifft die Frage, ob die Bundesregierung durch die Einschränkung der Aussagegenehmigungen, die Ablehnung der Herausgabe der angeforderten Unterlagen und Organigramme und der dazu gegeben Begründungen den Deutschen Bundestag in dem ihm nach Art. 44 GG zustehenden verfassungsmäßigen Rechten verletzt hat. Der Bundesregierung steht bei einer Anforderung von Beweismittel durch einen Untersuchungsausschuss und bei der Erteilung von Aussagegenehmigungen ein Prüfungsrecht dahingehend zu, ob die angeordnete Beweiserhebung den Untersuchungsauftrag betrifft.42 Gegen eine Beweiserhebung kann eingewandt werden, dass sie sich nicht innerhalb des Auftrages hält. In Bezug auf die Auslegung des Untersuchungsauftrages steht dem Untersuchungsausschuss weder ein Ermessensspielraum noch eine Einschä tzungsprärogative zu. 43 Innerhalb des Untersuchungsauftrages kann der Untersuchungsausschuss frei von den Einwirkungen anderer Staatsorgane entscheiden, welche Beweiserhebungen er für dessen Erfüllung für erforderlich erachtet.44 Gründe für ein Vorenthalten von Informationen für einen Untersuchungsausschuss können sich aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz ergeben. Das Gewaltenteilungsprinzip zielt auf Machtverteilung und die sich daraus ergebende Mäßigung der Staatsherrschaft 45. In seiner grundgesetzlichen Ausformung als Gebot der Unterscheidung zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) dient es zugleich einer funktionsgerechten Zuordnung hoheitlicher Befugnisse zu unterschiedlichen, jeweils aufgabenspezifisch ausgeformten Trägern öffentlicher Gewalt und sichert die rechtliche Bindung aller Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 3 GG). 40 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html, 2 BvC 1/07, Rn 89ff. [Stand: 19.08.2009]. 41 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090617_2bve000307.html, 2 BvE 3/07, [Stand: 19.08.2009]; vgl. auch Menzenbach, Steffi/ Rohleder, Kristin, in: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Aktueller Begriff (65/09). 42 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090617_2bve000307.html, 2 BvE 3/07, Rn. 118, [Stand: 19.08.2009]. 43 Vgl. Weisgerber, Anja, Das Beweiserhebungsverfahren parlamentarischer Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages 2002, S. 115f.; Glauben, Paul J., in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2005, § 6 Rn. 11. 44 Vgl. BVe rwG, Beschluss vom 13.08.1999 - 2 VR 1/99, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2000, S. 487 (490). 45 Vgl. BVerfGE 3, 225 (247); 7, 183 (188); 9, 268 (279f.); 12, 180 (186); 22, 106 (111). - 15 - Das in Art. 44 GG gewährleistete Untersuchungsrecht gehört zu den ältesten und wichtigsten Rechten des Parlaments.46 Der Untersuchungsausschuss ist befugt, im Rahmen seines Untersuchungsauftrages diejenigen Beweise zu erheben, die er für erforderlich hält (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG).47 Beweise sind zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt sind, es sei denn, die Beweiserhebung ist unzulässig oder das Beweismittel ist auch nach Anwendung der zulässigen Zwangsmittel unerreichbar. Das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses unterliegt Begrenzungen, die sich aus dem Auftrag selbst und soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben. Begrenzt wird es zunächst durch den im Einsetzungsbeschluss zu bestimmenden Untersuchungsauftrag 48. Dieser selbst muss sich im Rahmen der parlamentarischen Kontrollkompetenz halten und hinreichend deutlich bestimmt sein. Das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit des Untersuchungsauftrages, der durch den Einsetzungsbeschluss des Bundestages festzulegen ist und nur durch einen weiteren Beschluss des Bundestages abgeändert werden darf (§ 3 PUAG), folgt dem Sinn und Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts, aus dem Rechtsstaats- und dem Gewaltenteilungsprinzip sowie aus der Stellung des Untersuchungsausschusses als Hilfsorgan des Bundestages. Dieser hat als Herr des Untersuchungsverfahrens dessen Rahmen selbst abzustecken und darf diese Aufgabe nicht auf den Ausschuss delegieren. Die deutliche Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes dient dem Schutz einsetzungsberechtigter Parlamentsminderheiten 49 und dem Schutz der Untersuchungsbetroffenen - der Bundesregierung wie auch Dritter. Ihnen gegenüber verleiht das Untersuchungsrecht Eingriffs- und Zwangsbefugnisse .50 Die Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung voraus, der einen auch von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ -, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt.51 Parlamentarische Informationsrechte in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge scheiden danach nicht grundsätzlich aus. Insbesondere betrifft dies Vorgänge aus dem Bereich der Willensbildung der Regierung, 46 Morlok, Martin, in: Dreier, Grundgesetzkommentar, Band 2, 2. Auflage 2006, Art. 44 Rn. 2ff. 47 BVerfGE 67, 100 (127). 48 Vgl. BVerfGE 49, 70 (87); 67, 100 (134); § 17 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 2, § 3 Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) vom 19.Juni 2001 (BGBl. I S. 1142), zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 1 Kostenrechtsmodernisierungsgesetz vom 5.Mai 2004 (BGBl. I S. 718). 49 Vgl. BVerfGE 49, 70 (86). 50 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090617_2bve000307.html, 2 BvE 3/07, Rn. 117, [Stand: 19.08.2009]. 51 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090617_2bve000307.html, 2 BvE 3/07, Rn. 122, [Stand: 19.08.2009]. - 16 - einschließlich der vorbereitenden Willensbildung innerhalb der Ressorts und der Abstimmung zwischen ihnen. 52 Die Berührung des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung kann dem parlamentarischen Untersuchungsrecht in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge nur nach Maßgabe einer fallbezogenen Abwägung zwischen dem parlamentarischen Informationsinteresse auf der einen und der Gefahr einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung durch die einengenden Vorwirkungen eines Informationszugangs auf der anderen Seite entgegengehalten werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem parlamentarischen Informationsinteresse besonderes Gewicht zukommt, soweit es um die Aufklärung behaupteter Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände im Verantwortungsbereich der Regierung geht. Sinn und Zweck des parlamentarischen Untersuchungsrechts ist es kontrollfreie Räume gerade bei rechtswidrigen Vorgängen zu vermeiden 53 und damit dem Demokratieprinzip Geltung zu verschaffen. 5.6. Ausländerwahlrecht54 Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betraf die Frage, ob die Einführung des Wahlrechts für Ausländer zu den Bezirksversammlungen in der Freien und Hansestadt Hamburg mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Die Einbeziehung von Ausländern in den Kreis der zu den Bezirksversammlungen Wahlberechtigten verletzt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG auch für die Länder verbindliche demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG. Diese Verfassungsnorm hat folgenden Wortlaut: „(2) Alle Staatgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Die Bezirksversammlungen üben Staatsgewalt aus und bedürfen demokratischer Legitimation ,55 so das Bundesverfassungsgericht. Diese Legitimation könne durch die Wahlen zu den Bezirksversammlungen nicht vermittelt werden, wenn Ausländer zu den Wahlberechtigten gehören.56 52 Vgl. BVerfGE 67, 100 (139); 77, 1 (59); 110, 199 (219). 53 BVerfGE 110, 199 (222). 54 BVerfGE 83, 60. 55 BVerfGE 83, 60 (76). 56 BVerfGE 83, 60 (81). - 17 - In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volk aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1). Sie wird – wie oben zitiert – vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2).57 Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sind die Grundentscheidungen des Art. 20 Abs. 2 GG für die Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich.58 Das Volk muss einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt haben. Staatliche Akte müssen sich daher auf den Willen des Vo lkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden. Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft werde nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vor allem durch die Wahl der Volksvertretung bewirkt. Organe der staatlichen und kommunalen Verwaltung benötigten zur Ausübung von Staatsgewalt ebenfalls einer Legitimation, die - als eine demokratische - auf die Gesamtheit der Staatsbürger zurückzuführen ist. Dies muss nicht durch unmittelbare Volkswahl erfolgen. 59 Nur für die Vertretungen der Gemeinden und Kreise schreibt das Grundgesetz (Art. 28 Abs. 1 GG) im Blick auf die Bedeutung dieser Gebietskörperschaften als Träger dezentralisierter öffentlicher Verwaltung eine unmittelbare persone lle Legitimation vor. Als Ausübung von Staatsgewalt stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar.60 Entscheidungen steuern die staatliche Herrschaft und müssen daher vom Volk hergeleitet werden können. Das der Entscheidung zugrunde liegende Bezirksverwaltungsgesetz und das Ausländerwahlrechtsgesetz sehen vor, dass den Mitgliedern der Bezirksversammlung die Legitimation unmittelbar durch Volkswahl vermittelt wird. Dann aber wird dem demokratischen Prinzip im Sinne des Grundgesetzes nur genügt, wenn die Wahl allein den Willen des örtlich begrenzten Teils des Staatsvolkes zur Geltung bringt, d.h. durch die in den Bezirken wohnenden Deutschen vorgenommen wird. Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, könnten demnach demokratische Legitimation nicht vermitteln .61 57 BVerfGE 44, 125 (138). 58 BVerfGE 9, 268 (281). 59 BVe rfGE 83, 60 (72). 60 BVerfGE 47, 253 (273). 61 BVerfGE 83, 60 (81). - 18 - 6. Verfassungsgerichtsentscheidungen zum Sozialstaatsprinzip Nach dem Sozialstaatsprinzip hat sich der Staat darum zu bemühen, die Lebensverhältnisse seiner Bürger so zu gestalten, dass sie sozial gerecht und sozial abgesichert, aber unter Berücksichtigung der gegebenen Möglichkeiten noch finanzierbar sind.62 Der Einzelne hat hierbei einen unmittelbaren Anspruch auf Gewährleistung eines Mindestmaßes an materieller Sicherheit, nämlich dem Existenzminimum, das verfassungsrechtlich durch das Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 1 und 2 GG abgesichert ist. 6.1. Besteuerung des Existenzminimums63 So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aus dem Jahre 1998 darüber hinaus festgestellt, dass Art. 6 Abs. 1 GG gebietet, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen. § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes64 war mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2.484 DM beanspruchen konnten. Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung war der Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein, also zur Sicherung seines Existenzminimums benötigt wird.65 Nach gefestigter Rechtsprechung fordert das Grundgesetz, dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt wird. Das Sozialhilferecht biet eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene: Das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum darf den Betrag nicht unterschreiten, den der Staat einem Bedürftigen im Rahmen staatlicher Fürsorge gewährt. Der existenznotwendige Bedarf bildet nach der Verfassung die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer.66 Die nach dem Sozialstaatsprinzip zu berücksichtigenden Aufwendungen müssen des Weiteren nach dem tatsächlichen Bedarf – realitätsgerecht – bemessen werden. Dessen Untergrenze ist durch die Sozialhilfeleistungen konkretisiert.67 Art. 6 Abs. 1 GG, gebie- 62 Vgl. Katz, Alfred, Staatsrecht, 17. Auflage 2007, § 11 Rn. 221. 63 BVerfGE 99, 246. 64 In der Fassung des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 vom 26. Juni 1985 (BGBl I S. 1153). 65 Vgl. hierzu auch BVerfGE 82, 60 (85). 66 Vgl. hierzu auch BVerfGE 87, 153 (169). 67 Vgl. hierzu auch BVerfGE 66, 214 (223); 68, 143 (153); 82, 143 (153); 82, 60 (88); 87, 153 (171); 91, 93 (111). - 19 - tet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben müssen.68 Die nachfolgende Entscheidung des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 2006 stellt ebenfalls eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips durch Art. 6 G dar 6.2. Nichtberücksichtigung von Zeiten des Mutterschutzes69 Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob nach dem zwischen 1998 und 2002 ge ltenden Arbeitsförderungsrecht Zeiten, in denen Mütter wegen des gesetzlichen Mutterschutzes eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung unterbrachen, bei der Berechnung der Anwartschaftszeit für den Bezug von Arbeitslosengeld unberücksichtigt bleiben. Eine besondere Ausformung des Sozialstaatsprinzips findet sich in Art. 6 Abs. 4 des GG, der folgenden Wortlaut hat: „(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Mit anderen Worten, zum Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 4 GG gehört, dass der Gesetzgeber jeder Mutter Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft zu gewährleisten hat. Untersagt er aber, wie in § 3 Abs. 2 und § 6 Abs 1 des Mutterschutzgesetz70, der Frau für eine bestimmte Zeit vor und nach der Geburt eines Kindes die Fortsetzung oder Wiederaufnahme ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung, so sei er nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auf Grund seines Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 4 GG gehalten, Nachteile soweit wie möglich auszugleichen, weil sonst der angestrebte Schutz von Mutter und Kind unvollständig bliebe. Dazu gehöre auch der sozialversicherungsrechtliche Schutz im Falle der Arbeitslosigkeit.71 Es sei daher mit Art. 6 Abs. 4 GG, der eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips für den speziellen Bereich des Mutterschutzes darstelle72, nicht zu vereinbaren, dass die Zeiten der Beschäftigungsverbote bei der Berechnung der Anwartschaftszeit in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung während des hier maßgeblichen Zeitraums zwischen 1998 und 2002 - und damit abweichend von dem vorher und nachher geltenden Recht - nicht berücksichtigt wurden. Der Gesetzgeber erschwere der Mutter im Falle der 68 Vgl. BVerfGE 82, 198 (207). 69 BVerfGE 115, 259. 70 Mutterschutzgesetz (MuSchG), in der Fassung der Bekanntmachung vom 20.06.2002 (BGBl. I S. 2318), zuletzt geändert durch Art. 14 Drittes Mittelstandsentlasungsgesetz vom 17.03.2009 (BGBl. I S. 550). 71 BVerfGE 115, 259 (272). 72 BVerfGE 32, 273 (279). - 20 - Arbeitslosigkeit den Zugang zum Arbeitslosengeld in einer Weise, die dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 4 nicht mehr entspreche.73 6.3. Kindererziehungszeiten74 Zur Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung hatte das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1996 Stellung genommen und hierbei eine Vorschrift aus dem Angestelltenversicherungsgesetz aufgehoben, die nicht mit dem Sozialstaatsprinzip in Einklang zu bringen war. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ging es um eine bestimmte rentenrechtliche Bewertung von Kindererziehungszeiten.75 Die damalige Vorschrift des § 32 a Abs. 5 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes76 (AVG), die der angegriffenen Entscheidungen zugrunde lag, war mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Der Schutzauftrag von Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Eine Differenzierung soll dem Gesetzgeber jedoch nicht verwehrt sein. Der Gleichheitssatz will vielmehr ausschließen, dass eine Gruppe im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine gravierenden Unterschiede bestehen. Anderenfalls kann eine ungleiche Behandlung gerechtfertigt sein. Die rechtliche Unterscheidung muss also in sachlichen Unterschieden eine ausreichende Stütze finden. Die Anwendung dieses Grundsatzes verlangt den Vergleich von Lebenssachverhalten, die einander nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Merkmalen gleichen. Unter diesen Umständen ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche von diesen Merkmalen er als maßgebend ansieht. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es ihm nur, dabei Art und Gewicht der tatsächlichen Unterschiede sachwidrig außer Acht zu lassen. Innerhalb dieser Grenzen ist er in seiner Entscheidung frei. Eine weitergehende Einschränkung kann sich aber aus anderen Verfassungsnormen ergeben.77 Mit der angegriffenen Vorschrift des § 32 a Abs. 5 Satz 2 AVG hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, die zu einer ungleichen Behandlung verschiedener Personengruppen insoweit führt, als sich Kindererziehungszeiten nicht bei allen Versicherten in 73 BVerfGE 115, 259 (272). 74 BVerfGE 94, 241. 75 Die Entscheidung betraf die Frage, ob die rentenrechtliche Bewertung von Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, auch dann auf 6,25 Werteinheiten je Kalendermonat begrenzt werden darf, wenn diese Zeiten bereits aufgrund sonstiger Beitragszeiten bewertet sind. 76 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vom 28.05.1924 (RGBl. I 1924, S. 563, in der Fassung des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes vom 11. Juli 1985 (BGBl. 1985 I S. 1450). 77 BVerfGE 87, 1 (36f.). - 21 - gleicher Weise günstig auf die Rente auswirken. Sie benachteiligt insbesondere jene Versicherten, die auch während der ersten Lebensphase ihres Kindes durch die Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen die Solidargemeinschaft unterstützt und für ihr Alter eigenständig Vorsorge getroffen haben. Die Ungleichbehandlung lässt sich auch nicht mit dem Sozialstaatsprinzip rechtfertigen . Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet vielmehr den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.78 Angesichts der Weite und Unbestimmtheit dieses Grundsatzes lässt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. 79 Dem Sozialstaatsprinzip entspricht es vielmehr, soziale Ausgleichsleistungen nur dorthin zu lenken, wo im Einzelfall ein Bedarf festgestellt wird80. Das Bundesverfassungsgericht erachtete die Vorschrift des § 32 a Abs. 5 Satz 2 AVG als verfassungswidrig, weil die Anwendung dazu führte, dass es zu einer ungleichen Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung kam, die mit dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren war. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll das Sozialstaatsprinzip die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maß verwirklichen . Der sozialstaatliche Auftrag will also Ausgleich und Schonung der Interessen, strebt annähernd gleichmäßige Förderung des Wohls aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten an. Dies hat allerdings im Sinne größtmöglicher Chancengleichheit und eines sozialen Ausgleichs, d. h. eines besonderen Schutzes der sozial Schwachen, zu erfolgen (Überwindung des sozialen Ungleichgewichts und Ausgleich der sozialen Defizite). 6.4. Numerus Clausus 81 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf die Frage, ob bestimmte landesrechtliche Vorschriften über Zulassungsbeschränkungen für das Hochschulstud ium (numerus clausus) mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Gegenstand der verfassungsrechtlichen Nachprüfung war der durch eine Erschöpfung der gesamten Ausbildungskapazität verursachte absolute numerus clausus für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung. Er führte dazu, dass eine mehr oder minder 78 Vgl. BVerfGE 5, 85 (195); 22, 180 (204); 27, 253 (283). 79 Vgl. BVerfGE 18, 257 (273); 29, 221 (235); 59, 231 (263). 80 BVerfGE 17, 1 (11); 26, 16 (37). 81 BVerfGE 33, 303. - 22 - große Zahl der Bewerber den Beginn des gewünschten Studiums auf mehr oder weniger lange Zeit hinausschieben mussten. Bei starker Nachfrage und entsprechend langen Wartezeiten beeinträchtigten derartige Zulassungsbeschränkungen nicht nur die Wahl der Ausbildungsstätte, sondern konnten zugleich die Berufswahl beeinflussen bis hin zur Preisgabe der ursprünglichen Absichten führen. Sozial schwächere Bewerber hatten dabei nicht die gle ichen Möglichkeiten wie die wohlhabenden Bewerber, längere Wartezeiten zu überbrücken oder eine Ausbildung im Ausland zu versuchen. Bei völliger Erschöpfung der Ausbildungskapazität tritt ein weiterer wesentlicher Aspekt des Rechts auf freie Wahl der Ausbildungsstätte hervor, der auf dessen engem Zusammenhang mit dem ebenfalls in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Recht der freien Berufswahl beruht. In der Regel ist die Ausbildung die Vorstufe einer Berufsaufnahme, beide sind integrierende Bestandteile eines zusammengehörenden Lebensvorganges.82 Der Entwurf für ein Hochschulrahmengesetz83 ging von der Berechtigung eines jeden Deutschen aus, das von ihm gewählte Hochschulstudium durchzuführen, wenn er die für dieses Studium erforderliche Qualifikation nachweist. Die Anerkennung dieser Berechtigung steht nicht im Belieben des Gesetzgebers. Selbst wenn grundsätzlich daran festzuhalten ist, dass es auch im modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wieweit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will, so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzips Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben. Das gilt besonders, wo der Staat - wie im Bereich des Hochschulwesens - ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol für sich in Anspruch genommen hat.84 Im Bereich der Ausbildung zu akademischen Berufen ist die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten . Hier kann es in einem freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat nicht mehr der freien Entscheidung der staatlichen Organe überlassen ble iben, den Kreis der Begünstigten nach ihrem Gutdünken abzugrenzen und einen Teil der Staatsbürger von den Vergünstigungen auszuschließen. Daraus folgt: Wenn der Staat Leistungen anbietet, muss es ein Recht eines jeden hochschulreifen Staatsbürgers geben, an der angebotenen Lebenschance prinzipiell gleichberechtigt teilhaben zu können. Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot gewährleistet also ein Recht auf 82 BVerfGE 33, 303 (329). 83 Inzwischen Hochschulrahmengesetz (HRG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 19.01.1999 (BGBl. I S. 18), zuletzt geändert durch Art. 2, Gesetz zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Wissenschaft vom 14.4.2007 (BGBl. I S. 506). 84 BVerfGE 33, 303 (331f.). - 23 - Zulassung zum Hochschulstudium eines jeden Bürgers, wenn er die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllt.85 Die Problematik absoluter Zulassungsbeschränkungen ist dadurch gekennzeichnet, dass die vorhandene Kapazität nicht ausreicht, um jedem Zulassungsberechtigten seinen Studienplatz zuzuteilen. Übersteigt die Zahl der Abgewiesenen wie seinerzeit beim Medizinstudium sogar weit mehr als die Hälfte der Bewerber, dann droht der verfassungsrechtlich geschützte Zulassungsanspruch weitgehend leerzulaufen. Da diesen Auswirkungen nachhaltig nur durch Erweiterung der Kapazitäten begegnet werden konnte, stellte sich die Frage, ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen entnommen werden konnte.86 Das Bundesverfassungsgericht vertrat hierzu die Auffassung, dass absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung nur dann verfassungsmäßig sind, wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und wenn die Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgt. Die landesrechtlichen Bestimmungen waren insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar, da sie keine Bestimmungen über Art und Rangverhältnis der Auswahlkriterien beinhalteten.87 6.5. Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung Nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für Behörden und Gerichte ist das Sozia lstaatsprinzip als wertentscheidende Grundsatznorm weiter verpflichtende Auslegungsmaxime für alle übrigen Rechtsnormen. Vor allem bei der Auslegung und Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensregelungen etc. ist das Sozialstaatsprinzip als verbindliche Richtlinie zu berücksichtigen (Auslegung im sozialstaatlichen Geist; Vermutung für eine Ermessensausübung im Lichte der Sozialstaatlichkeit). In diesem Sinne kommt beispielsweise der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherungen in Betracht .88 85 BVerfGE 33, 303 (331f.). 86 BVerfGE 33, 303 (332f.) 87 Leitsatz aus BVerfGE 33, 303. 88 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6.12.2005 – 1 BvR 347/98, NJW 2006, S. 891. - 24 - Die Verfassungsbeschwerde betraf die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für so genannte neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung . Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) berührt, wenn der Gesetzgeber eine Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung anordnet. Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung. Im Hinblick auf die gesetzliche Krankenversicherung ist verfassungsgerichtlich entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden, eingeschränkt wird. Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist hiernach in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Bei einer Pflichtmitgliedschaft zur gesetzlichen Krankenversicherung geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Versorgung im Krankheitsfall nicht zur Verfügung stehen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bedarf es daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren Auslegung vorenthalten werden. 89 89 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6.12.2005 – 1 BvR 347/98, NJW 2006, S. 891 (894).