© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 296/15 Aussetzen des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten aus verfassungsrechtlicher Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/15 Seite 2 Aussetzen des Familiennachzugs zu international subsidiär Schutzberechtigten aus verfassungsrechtlicher Sicht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 296/15 Abschluss der Arbeit: 23.11.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/15 Seite 3 1. Fragestellung Nach dem Beschluss der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD vom 5. November 2015 soll u.a. der Familiennachzug zu international subsidiär Schutzberechtigten ausgesetzt werden. Konkret heißt es im Beschluss: „Zur besseren Bewältigung der aktuellen Situation soll der Familiennachzug für Antragsteller mit subsidiärem Schutz für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt werden. Die erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen schaffen wir noch in diesem Jahr.“1 Es wird die Frage gestellt, ob dieses Vorhaben mit Verfassungsrecht, insbesondere mit Art. 6 GG vereinbar ist.2 2. Gesetzliche Neuregelung Der Beschluss sieht vor, dass die Aussetzung durch eine gesetzliche Regelung erfolgen soll. Dabei geht es nicht um einen absoluten Ausschluss des Familiennachzugs, wie ihn § 29 Abs. 3 S. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) für Ausländer mit bestimmten Aufenthaltstiteln regelt. Vielmehr ist das Aussetzen des Familiennachzugs auf zwei Jahre befristet vorgesehen. Adressaten der Regelung sind „Ausländer mit subsidiärem Schutz“. Subsidiär schutzberechtigt sind nach § 4 Asylgesetz (AsylG) Ausländer, denen ein ernster Schaden droht, u.a. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (international subsidiär Schutzberechtigte ). Für die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens kommen verschiedene Regelungsmöglichkeiten in Betracht. Seit dem 1.8.2015 gilt für international subsidiär Schutzberechtigte ein privilegierter, an die Rechtsstellung der Asylberechtigten und Flüchtlinge angeglichener Familiennachzug nach § 29 Abs. 2, § 30 Abs. 1 Nr. 3 c), § 32 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Man könnte z.B. erwägen, „nur“ den privilegierten Familiennachzug für zwei Jahre auszusetzen, im Übrigen aber den nicht-privilegierten Familiennachzug für Ausländer mit humanitären Aufenthaltstiteln (§ 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG) beizubehalten. Denkbar wäre auch, dass der Familiennachzug schlechthin für zwei Jahre ausgeschlossen wird, so dass erst nach Ablauf der Frist ein privilegierter oder nicht-privilegierter Familiennachzug in Betracht kommt. Aus dem Koalitionsbeschluss lässt sich ferner nicht ableiten, ob und inwieweit für bestimmte Familiennachzugsfälle, z.B. zum Kindernachzug (§ 32 AufenthG), Sonderregelungen gelten sollen. Mangels konkreter Regelungsvorschläge kann eine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung, die beispielsweise auch Fragen der Gleichbehandlung verschiedener Ausländergruppen nach Art. 3 Abs. 1 GG umfassen würde, nicht erfolgen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf das in erster Line betroffene Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1 GG und die daraus folgenden verfassungsrechtlichen Vorgaben. 1 https://www.spd.de/scalableImageBlob/131046/data/20151105_koabeschluss-data.pdf. 2 Zu den unionsrechtlichen Vorgaben vgl. das Gutachten des Fachbereichs PE 6 (PE 6 – 3000 – 152/15). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/15 Seite 4 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1 GG 3.1. Kein Anspruch auf Familiennachzug Die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1 GG zum Schutz von Ehe und Familie stehen Beschränkungen des Familiennachzugs nicht grundsätzlich entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in seinem grundlegenden Beschluss aus dem Jahr 1987 festgestellt, dass die aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1 GG keinen grundrechtlichen Anspruch auf Familiennachzug begründen.3 Vielmehr überantworte das Grundgesetz es der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werde.4 3.2. Anspruch auf „angemessene Berücksichtigung“ Aus dem grundrechtlichen Gehalt des Art. 6 GG als wertentscheidende Grundsatznorm folgert das Bundesverfassungsgericht aber einen Anspruch darauf, dass „die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren nach § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen des Antragstellers an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz in seinem Art. 6 dem Schutz von Ehe und Familie erkennbar beimisst. Der Betroffene braucht es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung dieser Gesichtspunkte daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden nahen Angehörigen ständigen Aufenthalt zu nehmen.“5 Diese aus Art. 6 GG folgende Berücksichtigungspflicht bindet nach Art. 1 Abs. 3 GG auch den Gesetzgeber.6 Die hier vorgesehene gesetzliche Einschränkung des Familiennachzugs könnte gegen die Berücksichtigungspflicht verstoßen, wenn sie sich als eine unverhältnismäßige Vernachlässigung des Art. 6 Abs. 1, 2 S. 1 GG erweist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt es darauf an, ob die gesetzliche Regelung einen legitimen Zweck verfolgt und insofern ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel darstellt. Legitim ist ein Zweck in diesem aufenthaltsrechtlichen Zusammenhang nicht erst, wenn er dem Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang dient.7 Vielmehr kann sich der Gesetzgeber auch auf allgemeine Interessen zur Begrenzung der „Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet“8 berufen. Befristete Einschränkungen des Familiennachzugs dürften – unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung – jedenfalls die mit dem bisher geltenden privilegierten Familiennachzug verbundenen Anreizwirkungen schmälern und damit ein geeignetes Mittel zur Begrenzung der Zuwanderung darstellen. Ob im Sinne der 3 BVerfGE 76, 1, 47 f. 4 BVerfGE 76, 1, 46. 5 BVerfGE 76, 1, 49 f., Hervorhebung nicht im Original. 6 Vgl. dazu auch Uhle, in: Beck`scher Online-Kommentar, GG (Stand: 01.09.2015), Rn. 44 zu Art. 6. 7 BVerfGE 76, 1, 53. 8 BVerfGE 76, 1, 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/15 Seite 5 Erforderlichkeit weniger belastende, gleich wirksame Beschränkungen des Familiennachzugs in Betracht kommen und ob die Beschränkungen unter Abwägung der betroffenen Rechtsgüter angemessen sind, kann aber nur anhand eines konkreten Regelungsvorschlages geprüft werden. Die Schaffung einer erforderlichen und angemessenen Beschränkung des Familiennachzugs erscheint jedoch nicht ausgeschlossen. Insoweit ist auf Seiten der Familiennachzugswilligen zwar zu berücksichtigen , dass dem international subsidiär Schutzberechtigten die Herstellung der Familieneinheit durch eine Rückkehr ins Herkunftsland nicht zuzumuten wäre. Auf der anderen Seite fällt aber ins Gewicht, dass vorliegend gerade kein absoluter Ausschluss des Familiennachzugs nach dem Modell des § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG geplant ist, sondern „nur“ eine zweijährige Maßnahme. Angesichts der großen Zahl der Familiennachzugswilligen besteht ferner ein schützenswertes Interesse, die Anreizwirkungen des Familiennachzugs zu beschränken. Eine zweijährige Wartefrist könnte darüber hinaus dazu dienen, den Ausländer mit international subsidiärer Schutzberechtigung zu befähigen, die Lasten des Familiennachzugs z.B. durch eine Erwerbstätigkeit selbst oder weitgehend selbst zu tragen. Eine Verzögerung des Familiennachzugs um zwei Jahre dürfte danach nicht grundsätzlich unverhältnismäßig sein. Ende der Bearbeitung