© 2014 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 296/14 Vorzeitige Besitzeinweisung gemäß § 18f Bundesfernstraßengesetz Vereinbarkeit der Regelung mit den Grundrechten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 2 Vorzeitige Besitzeinweisung gemäß § 18f Bundesfernstraßengesetz Vereinbarkeit der Regelung mit den Grundrechten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 296/14 Abschluss der Arbeit: 05.12.2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 3 1. Fragestellung Die Regelung des § 18f Bundesfernstraßengesetz (FStrG) sieht vor, dass, sofern der sofortige Beginn von Bauarbeiten geboten ist und der Eigentümer oder Besitzer sich weigert, den Besitz eines für die Straßenbaumaßnahme benötigten Grundstücks durch Vereinbarung unter Vorbehalt aller Entschädigungsansprüche zu überlassen, die Enteignungsbehörde den Träger der Straßenbaulast auf Antrag nach Feststellung des Plans oder Erteilung der Plangenehmigung in den Besitz einzuweisen hat. Die Regelung verfolgt damit das Ziel, die Grundstücksverwendung durch den Baulastträger zu ermöglichen, obwohl dieser weder Grundstückseigentümer noch Inhaber eines durchsetzbaren Rechts an dem Grundstück ist.1 Vor diesem Hintergrund wird nach der Vereinbarkeit der Regelungen des § 18f FStrG mit den Grundrechten gefragt. 2. Vereinbarkeit mit der Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz Da von Besitzeinweisungen nach § 18f FStrG auch Wohnungen betroffen sein können, kommt als Prüfungsmaßstab zunächst die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Betracht. Das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG betont zwar die Bedeutung einer Wohnung, schützt diese jedoch nur gegen bestimmte Beschränkungen. Geschützt wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht das Besitzrecht an einer Wohnung, sondern deren Privatheit.2 Art. 13 Abs. 1 GG schützt damit nicht das Interesse, eine bestimmte Wohnung zum Lebensmittelpunkt zu machen und sie hierfür zu behalten.3 Der Schutz der Wohnung nach Art. 13 GG soll vielmehr Störungen vom privaten Leben fernhalten.4 Das Grundrecht enthält insbesondere das grundsätzliche Verbot, gegen den Willen des Wohnungsinhabers in die Wohnung einzudringen oder darin zu verweilen.5 Zu den möglichen Verletzungshandlungen können zwar auch substantielle Eingriffe zählen, bei denen die Wohnung der Verfügung und der Benutzung des Inhabers ganz oder teilweise entzogen wird.6 Das Bundesverfassungsgericht betont jedoch, dass auch derartige Eingriffe nur dann den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG berühren, wenn durch sie die Privatheit der Wohnung ganz oder teilweise aufgehoben wird.7 Die Kündigung eines Mietverhältnisses und ein damit in der Regel verbundener Umzug des Betroffenen berühren danach die Privatheit der 1 Dünchheim, in: Marschall (Begr.), Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 18f Rn. 1. 2 BVerfGE 89, 1 (12). 3 BVerfGE 89, 1 (12). 4 BVerfGE 89, 1 (12); siehe auch Papier, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 71. EL 2014 (Kommentierung: 71. EL 2014), Art. 13 Rn. 1. 5 BVerfGE 89, 1 (12); vgl. auch BVerfGE 76, 83 (89 f.). 6 BVerfGE 89, 1 (12). 7 BVerfGE 89, 1 (12). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 4 Wohnung i.S.d. Art. 13 GG nicht.8 Bis zum Auszug genießt der Betroffene den Schutz seiner Privatsphäre aus Art. 13 Abs. 1 GG in der alten Wohnung und nach dem Umzug steht auch die neue Wohnung unter den Schutz dieser Grundrechtsverbürgung.9 Berührt wird der Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG jedoch im Vollstreckungsverfahren, wenn der Mieter die Wohnung nicht freiwillig räumt und der Gerichtsvollzieher in die Wohnung eindringt, um die Wohnung zwangsweise zu räumen.10 Überträgt man diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Besitzeinweisung nach § 18f FStrG, so berührt der Besitzeinweisungsbeschluss – mittels dessen dem Besitzer der Besitz entzogen und der Baulastträger zum Besitzer wird – den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG nicht. Der Besitzeinweisungsbeschluss hat gegenüber dem Besitzer der Wohnung zur Folge, dass dieser (zumindest vorrübergehend) den Besitz an der Wohnung aufgeben, diese also räumen muss. In Folge dessen muss sich der Betroffene eine neue Wohnung bzw. – sofern der Besitz nur vorübergehend entzogen werden soll – bspw. ein Hotel suchen und seine Wohnungseinrichtung entsprechend einlagern. Dies berührt nicht die Privatheit der betroffenen Wohnung. Erst die (hier nicht zu beurteilende) Vollstreckung des Besitzeinweisungsbeschlusses gegenüber dem Betroffenen , der bis zu dem bestimmten Termin die Wohnung nicht freiwillig räumt, ist am Maßstab von Art. 13 Abs. 1 GG zu messen.11 3. Vereinbarkeit mit der Eigentumsgarantie, Art. 14 Abs. 1 GG Betroffen ist durch die Regelungen der Besitzeinweisung in § 18f FStrG jedoch die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. 3.1. Schutzbereich der Eigentumsgarantie Im Bereich des Privatrechts unterfallen dem Schutz der Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die ihrem Inhaber von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher 8 BVerfGE 89, 1 (12). 9 BVerfGE 89, 1 (12). 10 BVerfGE 89, 1 (12). 11 Diesbezüglich ist umstritten, ob sich der Vollzug des Besitzeinweisungsbeschlusses nach bürgerlichem oder öffentlichem Recht richtet, siehe Dünchheim, in: Marschall (Begr.), Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 18f Rn. 28, mit entsprechenden Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 5 Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.12 Dementsprechend werden im vorliegenden Fall nicht nur die Rechte des Eigentümers, sondern auch vertragliche Besitzansprüche von Mietern13 oder Pächtern14 vom Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG erfasst. 3.2. Eingriff in die Eigentumsgarantie In das Eigentum i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG kann durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen oder durch Enteignung eingegriffen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts versteht man unter Inhalts- und Schrankenbestimmungen die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum geschützt werden.15 Eine Enteignung liegt hingegen vor, wenn eine vollständige oder teilweise Entziehung konkreter durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben erfolgt.16 Die Rechtsprechung differenziert hinsichtlich der Frage, ob eine Besitzeinweisung nach § 18f FStrG eine Inhalts- und Schrankenbestimmung oder eine Enteignung darstellt. Ist der Besitzeinweisungsbeschluss auf die Herbeiführung eines endgültigen Zustandes gerichtet, so kann sie – noch vor Erlass eines Enteignungsbeschlusses – als Enteignung i.S.d. Art. 14 GG anzusehen sein.17 Soll der Besitz dem Betroffenen jedoch nur vorübergehend für die Zeit der Baumaßnahme entzogen werden, so stellt die Besitzeinweisung keine Enteignung dar, da zu deren wesentlichsten Kriterien eine endgültige Übertragung eigentumsrechtlich geschützter Rechtspositionen gehört.18 In diesem Fall kann die Besitzeinweisung folglich nur als Inhalts- und Schrankenbestimmung anzusehen sein. 3.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen in die Eigentumsgarantie Bei Enteignungen sowie Inhalts- und Schrankenbestimmungen handelt es sich um zwei Arten von Eingriffen, die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen und daher getrennt voneinander zu betrachten sind. 3.3.1. Besitzeinweisung als Enteignung Enteignungen sind nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Danach bedarf eine Enteignung einer gesetzlichen Grundlage, sie muss dem Wohl 12 BVerfGE 83, 201 (208 f.), m.w.N. 13 BVerfGE 89, 1 (5 ff.); vertiefend hierzu Berkemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2002, Art. 14 Rn. 141 ff. 14 BVerwG, NVwZ 2009, 1047 (1048). 15 Siehe nur BVerfGE 110, 1 (24 f.), m.w.N. 16 Siehe nur BVerfGE 104, 1 (9 f.), m.w.N. 17 So bspw. BayVerfGH, NVwZ 1985, 106 (107). 18 So SächsVerfGH, SächsVBl. 2013, 114 (117). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 6 der Allgemeinheit dienen und kann nur gegen angemessene Entschädigung erfolgen, wobei deren Art und Ausmaß gesetzlich zu regeln sind. Darüber hinaus muss die Enteignung verhältnismäßig sein und darf auch keine anderen Vorschriften des Grundgesetzes verletzen.19 Diese Voraussetzungen werden von den Regelungen des § 18f FStrG erfüllt20: Zunächst ist mit ihr die erforderliche gesetzliche Grundlage gegeben. Weiter dient eine Besitzeinweisung nach § 18f FStrG auch dem Wohl der Allgemeinheit. Diesem Erfordernis wird durch das Tatbestandsmerkmal in § 18f FStrG der „Gebotenheit des sofortigen Beginns der Bauarbeiten“ Rechnung getragen. Eine solche Gebotenheit wird nur angenommen, wenn das Interesse der Allgemeinheit an dem sofortigen Beginn der Baumaßnahme das Interesse des hiervon Betroffenen nachweisbar überwiegt.21 Aufgrund dieser Anforderungen und der durchzuführenden Abwägung mit den Interessen des Betroffenen entspricht die Besitzeinweisung nach § 18f FStrG auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch das Erfordernis der Regelung einer angemessenen Entschädigung ist vorliegend erfüllt. Die entsprechende gesetzliche Regelung findet sich in § 18f Abs. 5 FStrG, wonach der Träger der Straßenbaulast für die durch die vorzeitige Besitzeinweisung entstehenden Vermögensnachteile Entschädigung zu leisten hat, soweit die Nachteile nicht durch die Verzinsung der Geldentschädigung für die Entziehung oder Beschränkung des Eigentums oder eines anderen Rechts ausgeglichen wurden.22 Schließlich sind auch keine Verstöße gegen andere Vorschriften des Grundgesetzes ersichtlich. 3.3.2. Besitzeinweisung als Inhalts- und Schrankenbestimmung Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem in seiner Denkmalschutz-Entscheidung zu den Voraussetzungen von Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG Stellung bezogen.23 Danach muss der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Inhalt und Schranken des Eigentums die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis bringen.24 Er muss sich dabei im Einklang mit allen anderen Verfassungsnormen halten und ist insbesondere an den Grundsatz 19 Vgl. Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck´scher Online Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 22. Edition 2014, Art. 14 Rn. 107. 20 Vgl. auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu einer vergleichbaren Regelung aus dem Bundeswasserstraßengesetz : BVerwG, Beschluss vom 17. April 1989 – 4 CB 7/89, Rn. 3 – zitiert nach juris. 21 Aust, in: Kodal (Begr.), Straßenrecht, 7. Aufl. 2010, Kap. 39, Rn. 35; Dünchheim, in: Marschall (Begr.), Bundesfernstraßengesetz , Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 18f Rn. 10, m.w.N. 22 Vertiefend hierzu Dünchheim, in: Marschall (Begr.), Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 18f Rn. 30 ff.; Aust, in: Kodal (Begr.), Straßenrecht, 7. Aufl. 2010, Kap. 39, Rn. 41. 23 Siehe zu den Voraussetzungen auch Depenheuer, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 219 ff. 24 BVerfGE 100, 226 (240). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 296/14 Seite 7 der Verhältnismäßigkeit sowie den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden.25 Zudem darf dabei der Kernbereich der Eigentumsgarantie nicht ausgehöhlt werden.26 Auch diese Voraussetzungen werden von den Regelungen des § 18f FStrG erfüllt27: Wie oben bereits ausgeführt, wird ein gerechter Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse am sofortigen Beginn der Baumaßnahme und den Interessen des hiervon Betroffen im Rahmen des § 18f FStrG dadurch geschaffen, dass bezüglich des Tatbestandsmerkmals der „Gebotenheit des sofortigen Beginns der Bauarbeiten“ eine entsprechende Abwägung durchgeführt wird. Somit ist eine solche Besitzeinweisung auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar. Zumal gemäß § 18f Abs. 5 FStrG – wie bereits oben erläutert – für die durch die vorzeitige Besitzeinweisung entstehenden Vermögensnachteile Entschädigung geleistet wird. Verletzungen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG oder anderer Verfassungsnormen sind nicht ersichtlich. Schließlich stellt eine vorübergehende Besitzentziehung nach § 18f FStrG auch keine Aushöhlung des Kernbereichs der Eigentumsgarantie dar. 4. Ergebnis Die Regelungen der vorzeitigen Besitzeinweisung in § 18f FStG sind mit den Grundrechten vereinbar . 25 BVerfGE 100, 226 (240 f.). 26 BVerfGE 100, 226 (241). 27 Vgl. auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu einer vergleichbaren Regelung aus dem Bundeswasserstraßengesetz : BVerwG, Beschluss vom 17. April 1989 – 4 CB 7/89, Rn. 3 – zitiert nach juris.