© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 294/14 Kinderrechte im Grundgesetz Zum Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 2 Kinderrechte im Grundgesetz Zum Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 294/14 Abschluss der Arbeit: 29. Januar 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung und Fragestellung 4 2. Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention 5 2.1. Umsetzung in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union 5 2.2. Verfassungen der Schweiz und von Norwegen 7 3. Bedeutung der Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz für die Rechtsstellung der Kinder 8 3.1. Position und Argumente des Aktionsbündnisses 9 3.2. Politische Argumente ohne rechtliche Dimension 9 3.3. Rechte und Stellung von Kindern im deutschen Verfassungsrecht 10 3.4. Bewertung der verfassungsrechtlich relevanten Argumente des Aktionsbündnisses 12 3.4.1. Auswirkung des Vorschlags auf die Rechtsstellung der Kinder im Grundgesetz 13 3.4.2. Grundrecht auf staatliche Förderung von Kindern 14 3.4.3. Veränderung des Verhältnisses von Kind, Eltern und Staat 15 3.4.4. Verfassungsrechtliche Beteiligungspflicht der Kinder an Angelegenheiten, die sie betreffen 16 3.4.5. Einfluss eines Vorrangs von Kinderrechten auf staatliche Entscheidungen 16 3.5. Fazit 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 4 1. Einführung und Fragestellung Das Aktionsbündnis Kinderrechte1 hat am 16. November 2014 einen Vorschlag für die Einführung von Kinderrechten in das deutsche Grundgesetz vorgelegt.2 Auf der Grundlage der Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention3 schlägt das Aktionsbündnis vor, einen neuen Art. 2a in das Grundgesetz mit dem nachstehenden Wortlaut aufzunehmen: (1) Jedes Kind hat das Recht auf Förderung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit. (2) Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes. Sie unterstützt die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag. (3) Jedes Kind hat das Recht auf Beteiligung in Angelegenheiten, die es betreffen. Seine Meinung ist entsprechend seinem Alter und seiner Entwicklung in angemessener Weise zu berücksichtigen. (4) Dem Kindeswohl kommt bei allem staatlichen Handeln, das die Rechte und Interessen von Kindern berührt, vorrangige Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund sind zwei Fragenkomplexe aufgeworfen worden: Zum einen geht es darum, in welchen (europäischen) Ländern die UN-Kinderrechtskonvention bisher umgesetzt wurde und wie diese Umsetzung erfolgt ist (dazu unten Ziff. 2.). Dabei soll untersucht werden, ob und wenn ja, in welchem Umfang in den europäischen Ländern die Regelungen der UN-Kinderrechtskonvention bisher in die jeweilige Verfassung aufgenommen wurden. Weitere einfachgesetzliche Regelungen der verschiedenen Länder, die auf den Vorgaben der UN- Kinderrechtskonvention beruhen oder auf diese zurückzuführen sind, bleiben unberücksichtigt. Zum anderen geht es um die Frage, welche konkreten Auswirkungen der vorgeschlagene Art. 2a GG auf die Rechtsstellung von Kindern im Vergleich mit der geltenden Rechtslage in Deutschland hätte (dazu unten Ziff. 3.). Dabei sollen nicht die Auswirkungen auf alle denkbaren deutschen Rechtsvorschriften untersucht werden. Es geht vielmehr darum, die Argumente, die für die Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz vorgetragen werden und die sich insbesondere in der Begründung des Aktionsbündnisses finden,4 darauf hin zu betrachten, ob sich unter dem jeweiligen Aspekt die rechtliche Situation der Kinder durch die vorgeschlagene Erweiterung des Grundgesetzes ändern könnte. 1 Dabei handelt es sich um ein Bündnis folgender Institutionen: Deutscher Kinderschutzbund-Bundesverband - e.V., Deutsches Kinderhilfswerk e.V. und Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (http://www.kinderrechte-ins-grundgesetz .de/). 2 Im Internet ist der Vorschlag mit Begründung aufrufbar unter: http://www.kinderrechte-ins-grundgesetz.de/fileadmin /content_media/projekte/Themen/Kinderrechte/Formulierungsvorschlag_KR_ins_GG-2012-11-14-js.pdf . 3 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderechtskonvention), BGBl. 1992 II S. 122 ff. 4 Begründung des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 2 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 5 2. Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention Welche Staaten die UN-Kinderrechtskonvention bisher unterzeichnet bzw. ratifiziert haben, kann der entsprechenden Liste, die von den Vereinten Nationen geführt wird, entnommen werden.5 Daraus ergibt sich, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und eine Reihe weiterer europäischer Staaten, wie z.B. die Schweiz und Norwegen, der Konvention beigetreten sind. 2.1. Umsetzung in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Im Recht der Europäischen Union sind die Rechte des Kindes an zwei Stellen ausdrücklich im Primärrecht verankert. Nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV fördert die Union „[…] den Schutz der Rechte des Kindes“. Darüber hinaus hat der Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union6 in das Unionsrecht inkorporiert. Diese so genannte EU- Grundrechte-Charta ist damit Bestandteil des Primärrechts der Union (Art. 6 Abs. 1 EUV). In Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta ist zu den Rechten der Kinder Folgendes bestimmt: „(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten , die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. (2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. (3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“ Insbesondere Art. 24 Abs. 1 EU-Grundrechte-Charta gründet sich auf Art. 3 Abs. 2 der UN-Kinderrechtskonvention 7.8 Die Kinderrechte der EU-Grundrechte-Charta binden die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie die Mitgliedstaaten, soweit sie das Unionrecht durchführen (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechte-Charta). Zwar ist die genaue Reichweite der Bindung der 5 https://treaties.un.org/pages/ShowMTDSGDetails.aspx?src=UNTSONLINE&tabid=2&mtdsg_no=IV-11&chapter =4&lang=en#Participants. 6 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389 ff. 7 Dort heißt es: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.“ 8 Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 24 Rechte des Kindes, Rdnr. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 6 Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte-Charta umstritten,9 eindeutig ist jedoch, dass diese Rechte außerhalb der Durchführung von Unionsrecht für die Mitgliedstaaten allenfalls in ihrem Kern bzw. in ihren Grundaussagen gelten.10 Es ist bereits umfassend untersucht und dargestellt worden, ob und wenn ja, in welcher Form die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor diesem Hintergrund ihrerseits Kinderrechte in ihre jeweiligen Verfassungen aufgenommen haben.11 Diese Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Verfassungen der Mitgliedstaaten nur fragmentarisch den Rechten der Kinder widmen. Soweit die Verfassungen Kinderrechte enthalten, werden die Kinder überwiegend als Objekt staatlicher Fürsorge behandelt oder ihre Rechte werden als Annex zu den Grundrechten der Eltern betrachtet. Subjektstatus haben Kinder jedoch nach der Verfassung von Finnland.12 In Bezug auf die einzelnen Länder ergibt sich Folgendes13: Keine Regelung Die Verfassungen von Luxemburg, Österreich, der Niederlande und Zypern äußern sich nicht spezifisch zu den Rechten des Kindes. Generalklausel Eine Generalklausel zur Berücksichtigung der Rechte der Kinder, wie sie sich vergleichbar in Art. 3 Abs. 2 der UN-Kinderrechtskonvention14, aber auch in Art. 24 Abs. 1 Satz 1 der EU-Grundrechte- Charta findet, enthalten siebzehn Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU. Dazu gehören die Verfassungen von Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und von Ungarn. 9 Für eine ausdrückliche Beschränkung der Geltung der Grundrechte-Charta auf die direkte Ausführung von Unionsrecht durch die Mitgliedsstaaten, d.h. auch nicht im Geltungsbereich von nationalen Gesetzen, die Richtlinien der Union umsetzen: Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 5 EU-GRCharta, Rdnr. 12. Für die Geltung der Grundrechte-Charta auch außerhalb der Durchführung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten: Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Auflage 2013, Art. 51 EU-GRCharta, Rdnr. 26. 10 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Auflage 2013, Art. 51 EU-GRCharta, Rdnr. 26. 11 Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 24 Rechte des Kindes, Rdnr. 6 ff. 12 Vgl. zum Ganzen ausführlich Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 24 Rechte des Kindes, Rdnr. 1 und 6 ff. 13 Um den Text zu entlasten sind im Folgenden die einzelnen Artikel der jeweiligen Verfassungen nicht genannt. Sie finden sich in den Nachweisen bei Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 24 Rechte des Kindes. 14 Siehe Fn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 7 Vorrang des elterlichen Sorgerechts vor staatlichem Schutz Im deutschen Grundgesetz (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie in fünf weiteren Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU gehen der Schutz der Familie und das Erziehungsrecht der Eltern dem staatlichen Fürsorge- und Schutzauftrag vor. Die hoheitliche Fürsorgepflicht tritt danach erst ein, wenn die Eltern dieser Pflicht nicht nachkommen bzw. nicht nachkommen können. Neben dem deutschen Grundgesetz gehören dazu die Verfassungen von Italien, Polen, Portugal, Slowenien, der Slowakei und der Tschechischen Republik. Differenzierte Kinderrechte in der Verfassung Die Verfassung von Finnland bestimmt ausdrücklich, dass „Kinder wie gleiche Individuen“ behandelt werden und gibt ihnen das Recht, auf Angelegenheiten, die sie betreffen, gemäß ihrem Entwicklungsstand Einfluss zu nehmen“ (§ 6 Abs. 3 VerfFinnland). Auch die Verfassung von Polen bestimmt, dass die „Organe der öffentlichen Gewalt sowie die für das Kind verantwortlichen Personen […] bei der Feststellung der Kinderrechte verpflichtet [sind], die Meinung des Kindes anzuhören und diese möglichst zu berücksichtigen“ (§ 72 Abs. 3 VerfPolen). Damit wird das Kind ausdrücklich zum Träger dieser Verfassungsrechte, die es – je nach ihrer Reichweite – gegen den Staat und ggf. auch seine Eltern geltend machen kann. Die Verfassung von Polen gewährt darüber hinaus weitere sehr spezifische Kinderrechte (z.B. Schutz vor Kinderarbeit, Förderung von sportlicher Betätigung von Kindern und Jugendlichen). UN-Kinderrechtskonvention bzw. der EU-Grundrechte-Charta mit nationalem Verfassungsrang Die spanische Verfassung verweist auf die Rechte, die Kinder gemäß internationalen Abkommen genießen, und gewährt damit diesen völkerrechtlichen Verpflichtungen Verfassungsrang. 2.2. Verfassungen der Schweiz und von Norwegen Die Verfassung der Schweiz geht einen ähnlichen Weg wie die Verfassungen von Finnland und Polen. Sie sieht eine Generalklausel in Bezug auf den Schutz und die Förderung der Kinder vor und gibt ihnen das Recht, ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit auszuüben (Art. 11 Verf- Schweiz). In der Verfassung von Norwegen finden Kinderrechte hingegen keine besondere Erwähnung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 8 3. Bedeutung der Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz für die Rechtsstellung der Kinder Wie sich die vorgeschlagene Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz15 auf die Rechtsstellung der Kinder auswirken würde, kann nicht abschließend vorausgesagt werden. Über die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz ist politisch wie juristisch bereits viel diskutiert und geschrieben worden.16 Wie eingangs erwähnt, soll an dieser Stelle nicht jeder denkbare Einfluss von Kinderrechten im Grundgesetz auf die Rechtsstellung der Kinder, insbesondere auf die einfachgesetzliche Rechtslage, untersucht werden. Es soll vielmehr darum gehen, die von dem Aktionsbündnis für einen neuen Art. 2a GG vorgebrachten Argumente dahingehend zu bewerten , ob damit tatsächlich eine verfassungsrechtliche Besserstellung der Kinder verbunden sein kann. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Argumente des Aktionsbündnisses für die Aufnahme des vorgeschlagenen Art. 2a in das Grundgesetz (dazu unten Ziff. 3.1.), sind zunächst die Argumente zu identifizieren und von der weiteren Prüfung auszuklammern, die eher politischer Natur sind oder mit Erwartungen verknüpft sind, die keine direkte verfassungsrechtliche Dimension haben (dazu unten Ziff. 3.2.). Um beurteilen zu können, welche Veränderungen mit dem neuen Art. 2a GG einhergehen können, muss im Weiteren zunächst ein Blick auf die Rechte und die Stellung von Kindern im aktuellen deutschen Verfassungsrecht geworfen werden (dazu unten Ziff. 3.2.). Schließlich sollen vor diesem Hintergrund die weiteren Argumente des Aktionsbündnisses geprüft und bewertet werden (dazu untern Ziff. 3.4). 15 Vgl. den Vorschlag oben S. 4. 16 Vgl. für die politische Diskussion das von der Kinderkommission des 16. Deutschen Bundestages am 20.11. 2006 durchgeführte Öffentliche Expertengespräch zum Thema „Kinderrechte in die Verfassung“ (Kinderkommission Protokoll Nr. 16/13). Außerdem siehe die Begründungen zu den Gesetzentwürfen zur Aufnahme von Kinderrechten in Art. 6 GG in dem „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten)“ der Fraktion DIE LINKE., BT-Drs. 17/10118, in dem „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes“ (Ergänzung des Artikel 6 zur Klarstellung der Kinderrechte) der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 17/11650 und in dem „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz) der Fraktion der SPD, BT-Drs. 17/13223. Alle genannten Gesetzentwürfe der 17. Wahlperiode sind der Diskontinuität anheimgefallen. Schließlich die „Entschließung des Bundesrates Kinderrechte im Grundgesetz verankern“, BR-Drs. 386/11 (Beschluss). Für die juristische Debatte siehe Lütkes/ Selmayr, Auswirkungen einer Grundrechtsänderung auf den Schutz, die Teilhabe und die Förderung von Kindern und Jugendlichen, FPR 2012, 187; Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte ins Grundgesetz – warum?, FPR 2012, 185; Künast, Kinderreche in die Verfassung! Wie sonst?, FPR 2008, 478; Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, 149. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 9 3.1. Position und Argumente des Aktionsbündnisses Zusammengefasst sollen aus Sicht des Aktionsbündnisses Kinderrechte aus folgenden Gründen in das Grundgesetz aufgenommen werden:17 Bislang würden Kinderrechte bei Entscheidungen seitens Politik, Rechtsprechung und Verwaltung nicht ausreichend berücksichtigt. Weder der in der UN-Kinderrechtskonvention18 verankerte Vorrang des Kindeswohls, noch die grundlegenden Gedanken dieser Konvention kämen im Grundgesetz zum Ausdruck. Kinder seien verfassungsrechtlich betrachtet bislang lediglich „Regelungsgegenstand“ von Art. 6 Abs. 2 GG und damit nur Objekte, was dem heutigen gesellschaftlichen Verständnis widerspreche. Zudem bleibe es Kindern weitgehend verwehrt, ihre Rechte selbst einzufordern. Diesem verfassungsrechtlichen Defizit müsse begegnet werden, um die Position der Kinder zu stärken und das klare Signal an Staat und Gesellschaft zu senden, das Wohlergehen der Kinder als Kernaufgabe anzusehen. Der Staat würde stärker in die Pflicht genommen, Kinder zu schützen und zu fördern. Zudem will das Aktionsbündnis klargestellt wissen, dass Kinder als Grundrechtsträger anerkannt sind, dass sie mit besonderen Rechten ausgestattet sind und dass sie besonderen Schutz und besondere Förderung brauchen, wofür nicht nur die Eltern, sondern auch die staatliche Gemeinschaft die Verantwortung trüge. Mit der Schaffung eigener Grundrechte für Kinder könnte bei Verletzung dieser Rechte Verfassungsbeschwerde erhoben werden. Auch ihre Beteiligung an Entscheidungen , die ihre Interessen beträfen, müsse grundgesetzlich verankert werden. Außerdem solle mit dieser Verfassungsvorschrift auch den weiterhin auftretenden Gefährdungen der Kinder durch Vernachlässigung, Gewalt, Ausbeutung und Kinderarmut begegnet werden. Von der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz würde nicht nur ein Signal an die gesamte Gesellschaft, sondern auch an andere Staaten ausgehen. 3.2. Politische Argumente ohne rechtliche Dimension In der soeben dargestellten Begründung des Aktionsbündnisses, warum Kinderrechte in einem Art. 2a ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten, findet sich eine Reihe von Argumenten, die nach (verfassungs-)rechtlichen Maßstäben nicht bewertet werden können. Dazu gehört zuvörderst die ganz grundlegende politische Frage, ob Kinderrechte Verfassungsrang erhalten sollen oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer ganzen Reihe von Entscheidungen die verfassungsrechtliche Stellung von Kindern (z.B zur Menschenwürde und dem eigenen 17 Vgl. zu den im Folgenden genannten Argumenten die Ausführungen in dem Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2) sowie das Hintergrundpapier des „Aktionsbündnis Kinderrechte“ – Deutsches Kinderhilfswerk, Deutscher Kinderschutzbund und UNICEF Deutschland in Kooperation mit der Deutschen Liga für das Kind, S. 3, http://www.kinderrechte-ins-grundgesetz.de/fileadmin/kinderrechte/Grundsatzpapier-Kinderrechte-ins-Grundgesetz -2011.pdf. 18 Vgl. Fn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 10 Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit), die weit über den Wortlaut des Grundgesetzes hinausgeht , gefestigt.19 Darüber hinaus bestehen in vielen einfachgesetzlichen Vorschriften bereits umfangreiche Rechte und Schutzregelungen zugunsten von Kindern. Schließlich stellt Art. 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention, der die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls vorsieht, unmittelbar anwendbares Völkerrecht dar (self-executing20), dem der Rang einfacher Gesetze zukommt. Es ist daher eine politische Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers , ob er diese Rechtsprechung und einfachgesetzlichen Regelungen (zusätzlich) in einer Verfassungsnorm verankern möchte. In diesem Rahmen muss der verfassungsändernde Gesetzgeber auch die politische Prognoseentscheidung treffen, ob Verfassungsnormen in diesem speziellen Fall besseren Schutz und bessere Förderung der Kinder bieten können als das einfache Recht. Dies gilt namentlich für die Frage, ob die Kinder durch die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz tatsächlich besser vor Gewalt, Vernachlässigung, Ausbeutung oder Kinderarmut geschützt wären. Eine solche Prognoseentscheidung müsste eher auf der Basis einer soziologischen Untersuchung getroffen werden. Verfassungsrechtlich ist dies nicht zu beantworten. Zu den politischen Argumenten gehört auch die Frage, ob durch die Aufnahme von Kinderrechten eine „Klarstellung“21 herbeigeführt werden kann bzw. soll. Auch das Argument des Aktionsbündnisses , wonach von der Einführung der Kinderrechte in das Grundgesetz eine Signalwirkung gegenüber der „gesamten Gesellschaft“ oder anderen Staaten ausgeht,22 kann nur politisch beantwortet werden. Diese Argumente bleiben daher bei der weiteren verfassungsrechtlichen Untersuchung der Frage, welche „Verbesserungen“ durch die Aufnahme des vorgeschlagenen Art. 2a GG eintreten können , außer Betracht. 3.3. Rechte und Stellung von Kindern im deutschen Verfassungsrecht Im geltenden deutschen Verfassungsrecht sind die Rechte der Kinder deutlich weiter und komplexer ausgestaltet, als dies nach dem Wortlaut des Grundgesetzes zunächst erscheinen mag. Grundrechtsfähig sind alle natürlichen Personen unabhängig von ihrem Alter und ihren Fähigkeiten .23 Kinder und Jugendliche werden damit durch die Grundrechte geschützt. Ausnahmen 19 Vgl. dazu auch unten Ziff. 3.3. 20 Schmahl, Auswirkungen der UN-Kinderrechtskonvention auf die deutsche Rechtsordnung – Eine Analyse jüngster gesetzgeberischer und judikativer Entwicklungen, RdJB 1/2014, 125, 127; zum Begriff der self-executing-Bestimmung vgl. Klein, Die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands und ihre Bedeutung für die drei Staatsgewalten , in: Koeppel (Hrsg.), Kindschaftsrecht und Völkerrecht im europäischen Kontext, 1996, S. 39. 21 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2) S. 3. 22 Hintergrundpapier (Fn. 17), S. 5. 23 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Vor Art. 1, Rdnr. 79; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar , 13. Auflage 2014, Art. 19 GG, Rdnr. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 11 bestehen nur, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich bestimmt, insbesondere wenn bestimmte Grundrechte nur für Deutsche gelten (z.B. Art. 8 Abs. 1 oder 9 Abs. 1 GG), und es damit nicht nur ausländische Erwachsene, sondern auch ausländische Kinder und Jugendliche von dem spezifischen Grundrechtsschutz ausnimmt. Unionsbürger müssen allerdings grundsätzlich wie Deutsche behandelt werden (Art. 14 AEUV).24 Das Wohl von (ausländischen und deutschen) Kindern wird darüber hinaus durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 GG geschützt. So schützt dieses etwa die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern25 und das Recht des Kindes auf Entwicklung zur Persönlichkeit26. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet zudem den Jugendschutz27 und verlangt die Berücksichtigung des Kindeswohls bei Entscheidungen darüber, in welcher Familie ein Kind aufwachsen soll.28 Das so genannte Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 GG regelt zudem Folgendes: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Dies ist jedoch nicht nur ein Grundrecht der Eltern, sondern auch eine Pflicht der Eltern.29 Es dient auch dem Wohl des Kindes. Sein Schutz umfasst die – durch das Gesetz zu formende – „treuhänderische“ Wahrnehmung der Belange des Kindes.30 Dabei haben die Eltern grundsätzlich das Recht und die Pflicht, die Pflege und Erziehung der Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten, doch bildet bei Entscheidungen des Gesetzgebers das Wohl des Kindes immer den Richtpunkt, sodass bei Interessenkollisionen zwischen Kind und Vater oder Mutter dem Kind immer der Vorrang zukommen muss.31 Damit ist das Elternrecht im Wesentlichen ein Recht im Interesse des Kindes.32 In einer grundlegenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1968 zudem klargestellt, dass auch Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf 24 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 19 GG, Rdnr. 12. 25 BVerfGE 119, 1, 24 – Roman Esra. 26 BVerfG, Beschluss vom 31. 3. 2000 - 1 BvR 1353/99, NJW 2000, 2191, 2192. 27 BVerfGE 83, 130, 140 – Josefine Mutzenbacher. 28 BVerfGE 75, 201, 218 – Pflegeeltern. 29 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 6 GG, Rdnr. 45. 30 BVerfGE 59, 360, 377 – Schülerberater. 31 BVerfGE 24, 119, 143 – Adoption I. 32 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 69. Ergänzungslieferung Mai 2013, Art. 6 GG, Rdnr. 94. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 12 Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sind.33 Im Jahre 2008 schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Grundsatzentscheidung fest, dass gemäß Art. 6 Abs. 2 GG ein Kind nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, sondern Rechtssubjekt und Grundrechtsträger ist. Die Eltern sind gegenüber dem Kind verpflichtet, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten.34 Während dem Staat lediglich ein Wächteramt übertragen wurde, kommt den Eltern die erzieherische Erstverantwortung zu (Art. 6 Abs. 2 GG). Art. 6 Abs. 2 GG enthält damit ein Grundrecht auf Schutz vor störenden Eingriffen des Staates und den Grundsatz, dass die Selbstverantwortlichkeit der Familie zu respektieren und zu fördern ist.35 3.4. Bewertung der verfassungsrechtlich relevanten Argumente des Aktionsbündnisses Oben wurde dargestellt, dass das Aktionsbündnis eine Reihe von Argumenten vorbringt, die politische Entscheidungen betreffen und daher in die vorliegende Prüfung nicht einbezogen werden sollen.36 Verfassungsrechtlich spielen in der Begründung des Aktionsbündnisses insbesondere folgende Argumente eine hervorgehobene Rolle: Art. 2a GG-Vorschlag (gesamt): Kinder seien verfassungsrechtlich betrachtet bislang lediglich „Regelungsgegenstand“ von Art. 6 Abs. 2 GG und damit nur Objekte. Durch die Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz würden sie eine Subjektstellung erhalten. Den Kindern bliebe es bislang weitgehend verwehrt, ihre Rechte selbst einzufordern; auch im Wege der Verfassungsbeschwerde.37 Dieses Argument spielt auf die Frage der Rechtsstellung der Kinder im Grundgesetz an (dazu unten Ziff. 3.4.1.). Art. 2a Abs. 1 GG-Vorschlag: Kinder bedürfen einer besonderen Förderung zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dieser Vorschlag ist darauf gerichtet, ein Leistungsrecht zugunsten der Kinder in das Grundgesetz einzuführen (dazu unten Ziff. 3.4.2.). Art. 2a Abs. 2 GG-Vorschlag: Für den Schutz und die Förderung der Kinder sollen nicht nur die Eltern, sondern auch die staatliche Gemeinschaft Verantwortung tragen (Art. 2a Abs. 2 GG).38 33 BVerfGE 24, 119, 144 – Adoption I. 34 BVerfGE 121, 69, 93 – Elterliche Erziehungspflicht. 35 BVerfGE 24, 119, 135 – Adoption I. 36 Vgl. oben Ziff. 3.2. 37 Vgl. den Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 1, 5, sowie das Hintergrundpapier des Aktionsbündnisses (Fn. 17), S. 4. 38 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 3 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 13 Mit diesem Argument wird das bisherige Dreiecksverhältnis von Kind, Eltern und Staat, wie es in Art. 6 Abs. 2 GG ausgestaltet ist, verändert (dazu unten Ziff. 3.4.3.). Art. 2a Abs. 3 GG-Vorschlag: Die Meinungen von Kindern sollten nicht nur im Rahmen der bereits bestehenden einfachgesetzlichen Regelungen, sondern beim alltäglichen Handeln aller staatlichen Institutionen gehört werden.39 Auch dieser Vorschlag ließe sich nur mit weiteren Verfassungsänderungen und einfachgesetzlichen Anpassungen umsetzen (dazu unten Ziff. 3.4.4.). Art. 2a Abs. 4 GG-Vorschlag: Dem Kindeswohl müsse bei allem staatlichen Handeln, das die Rechte und Interessen von Kindern berührt, vorrangige Bedeutung zukommen.40 Dieser Vorschlag wirft die Frage auf, wie die vorrangige Behandlung des Kindeswohls mit den Rechten anderer betroffener Grundrechtsträger zu vereinbaren wäre (dazu unten Ziff. 3.4.5.). 3.4.1. Auswirkung des Vorschlags auf die Rechtsstellung der Kinder im Grundgesetz Das Aktionsbündnis möchte mit der Einführung des vorgeschlagenen Art. 2a GG erreichen, dass sich die nach ihrem Verständnis bestehende grundrechtliche Objektstellung der Kinder in eine Subjektstellung wandelt. Damit sei es den Kindern möglich, eigene Rechte gegenüber dem Staat geltend zu machen, z.B. auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Wie bereits oben erläutert,41 sind Kinder nicht nur allgemein grundrechtsfähig, Wesen mit eigener Menschenwürde und Rechtssubjekte,42 sondern es wurde insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klargestellt, dass sie Träger von eigenen auf sie zugeschnitten Grundrechten sind. Dies gilt namentlich für das Recht des Kindes auf Entwicklung seiner Persönlichkeit , den Jugendschutz und die Berücksichtigung des Kindeswohls bei Entscheidungen über sein familiäres Umfeld.43 Sie nehmen daher schon nach geltendem Verfassungsrecht keine Objektstellung ein. Die Einführung spezieller Kindergrundrechte könnte darüber hinaus Fragen zu dem Verhältnis dieser Rechte zu den sonstigen allgemeinen Grundrechten der Kinder aufwerfen. Dazu wird sogar vertreten, dass bestehende Grundrechte der Kinder, z.B. die aus der Menschenwürde entwickelten grundrechtlichen Gewährleistungen, geschwächt werden könnten und der Grundrechtsschutz der 39 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 4. 40 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 5 f. 41 Siehe oben die Ausführungen in Ziff. 3.3. 42 Vgl. dazu die Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oben S. 12. 43 Siehe zu dieser spezifischen Rechtsprechung die Nachweise oben S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 14 Kinder gespalten würde.44 Jedenfalls würde eine entscheidende verfassungsrechtliche „Verbesserung “ der Grundrechtspositionen der Kinder durch den vorgeschlagenen Art. 2a GG wohl nicht erreicht. Darüber hinaus können Kinder bereits heute im Rahmen der Vorgaben der gerichtlichen Verfahrensordnungen sowohl vor den einfachen Gerichten als auch vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung ihrer Rechte geltend machen. Die Prozessfähigkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde richtet sich nach den Besonderheiten des jeweils in Anspruch genommenen Grundrechts.45 Daher können z.B. Minderjährige aufgrund der ab 14 Jahren eintretenden Religionsmündigkeit 46 selbst eine Verfassungsbeschwerde bei einer behaupteten Verletzung dieses Grundrechts erheben.47 Somit dürfte sich aus dem vorgeschlagenen Art. 2a GG wohl auch keine Veränderung der verfassungsprozessualen Rechte der Kinder ergeben. 3.4.2. Grundrecht auf staatliche Förderung von Kindern Neu wäre die Einführung eines Grundrechts auf Förderung von Kindern, wie es in Art. 2a Abs. 1 GG vorgeschlagen wird. Bisher sieht das einfache Recht eine Reihe von Regelungen zur Förderung von Kindern vor (z.B. in den Schul- und Tagesbetreuungsgesetzgesetzen der Bundesländer), die in weiten Teilen entweder durch spezielle Grundrechte (z.B. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 oder Art. 6 Abs. 5 GG) oder durch das Sozialstaatsprinzip (Abs. 20 Abs. 1 GG) geboten und damit verfassungsrechtlich verankert sind.48 Wie bereits oben dargestellt,49 ist es in diesem Bereich in erster Linie eine politische Entscheidung, ob die spezialgesetzlichen Förderungspflichten des Staates auch in einem speziellen Kindergrundrecht rückgebunden werden sollen. Entscheidet sich der verfassungsändernde Gesetzgeber jedoch für ein solches spezielles Leistungs- und Förderungsgrundrecht für Kinder, dann folgt daraus der Auftrag an den einfachen Gesetzgeber, sowohl die bestehenden Gesetze – soweit notwendig – an diesen Leistungsanspruch anzupassen als auch weitere Regelungen zu schaffen, wenn die bestehenden Leistungsrechte nicht ausreichen sollten. 44 Vgl. hierzu Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, 149, 150. 45 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 41. Ergänzungslieferung Juli 2013, § 13 Rdnr. 18 ff. 46 Siehe § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung (RGBl. I S. 939). Danach steht dem Kind nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. 47 Für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde besteht kein Anwaltszwang; dieser gilt allerdings für die mündliche Verhandlung (§ 22 Abs. 1 BVerfGG). 48 Siehe zu den Leistungsgrundrechten und „sozialen Grundrechten“ Sachs, in Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Vor Art. 1 Rdnr. 46 ff. 49 Vgl. oben Ziff. 3.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 15 3.4.3. Veränderung des Verhältnisses von Kind, Eltern und Staat Das so genannte Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die Beziehung zwischen Eltern und Kind vor staatlichen Eingriffen.50 Dem Staat kommt in dieser Beziehung nur ein „Wächteramt“ zu (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Dieses „Wächteramt“ erlaubt allerdings die logisch vorgelagerte staatliche Beobachtung der Pflege und Erziehung durch die Eltern,51 wie sie insbesondere im Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 11 ff. und § 42 SGB VIII52) einfachgesetzlich festgelegt ist. Nach den Ausführungen des Aktionsbündnisses soll sich durch die Einführung von Kinderrechten in einem neuen Art. 2a GG dieser staatliche „Wächterauftrag“ in einen „Unterstützungsauftrag“ wandeln.53 Zwar heißt es in den Ausführungen des Aktionsbündnisses, dass durch den Formulierungsvorschlag des Art. 2a GG die Rechte der Eltern nach Art. 6 GG nicht angetastet würden.54 Andererseits formuliert das Aktionsbündnis in dem vorgeschlagenen Art. 2a Abs. 2 Satz 2 GG in Abweichung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG: Die staatliche Gemeinschaft „unterstützt die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag“ und führt erläuternd dazu aus, dass die „Unterstützung der Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag eine generelle Verpflichtung der staatlichen Gemeinschaft sein soll“.55 Damit wird deutlich, dass dieser Unterstützungsauftrag ein Eingreifen des Staates in die Eltern- Kind-Beziehung verfassungsrechtlich bereits zu einem früheren Zeitpunkt möglich machen soll, als es das „Wächteramt“ des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und die einfachgesetzlichen Vorschriften zulassen. Es ergibt sich daher ein Widerspruch des vorgeschlagenen Art. 2a Abs. 2 Satz 2 GG zum bisherigen Verständnis des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG. Aufgrund der Formulierung des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (über die Erziehung und Pflege der Kinder „wacht die staatliche Gemeinschaft“) erscheint es zweifelhaft, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG über die Grenzen seines Wortlauts hinaus als staatlicher „Unterstützungsauftrag“ ausgelegt werden könnte. Möchte der verfassungsändernde Gesetzgeber den bisherigen Schutz der Eltern-Kind-Beziehung verändern und mit dem „Unterstützungsauftrag“ ein früheres Eingreifen des Staates ermöglichen, so müsste er den geltenden Art. 6 Abs. 2 GG daran wohl anpassen. Auch die einfachgesetzlichen Vorgaben, vor allem im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VII) müssten wohl entsprechend geändert werden. 50 Von Coelln, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 6, Rdnr. 53 m.w.N. aus der Rechtsprechung. 51 Von Coelln, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 6, Rdnr. 76. 52 Das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 8 des Gesetzes vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10) geändert worden ist. 53 Ähnlich auch Künast, Kinderrechte in die Verfassung! Wie sonst? FPR 2008, 478, 478. Die Autorin spricht sich allerdings für eine Änderung von Art. 6 GG aus, nicht – wie das Aktionsbündnis Kinderrechte – für die Einführung eines Art. 2a GG. 54 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 4. 55 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 16 3.4.4. Verfassungsrechtliche Beteiligungspflicht der Kinder an Angelegenheiten, die sie betreffen Sowohl der Wortlaut dieses Vorschlags (Art. 2a Abs. 3 GG) als auch die Ausführungen des Aktionsbündnisses in der Begründung geben keine Auskunft darüber, bei welchen „Angelegenheiten“ die Kinder zu beteiligen bzw. zu hören sind. Die Verfassungsvorschrift wäre damit so offen formuliert, dass sie einer Ausgestaltung durch einfaches Recht bedarf. Soll die Beteiligung der Kinder auch das aktive Wahlrecht für den Deutschen Bundestag umfassen, so würde dies im Widerspruch zu Art. 38 Abs. 2 GG stehen, der eine Wahlberechtigung erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres vorsieht. Wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber das Wahlrecht für den Deutschen Bundestag daher auch Kindern oder Jugendlichen gewähren, so wäre es (auch) notwendig, Art. 38 Abs. 2 1. Halbsatz GG zu ändern. Mit der Einführung des vorgeschlagenen Art. 2a Abs. 3 GG allein könnte dies nicht erreicht werden. 3.4.5. Einfluss eines Vorrangs von Kinderrechten auf staatliche Entscheidungen Nach dem vorgeschlagenen Art. 2a Abs. 4 GG soll dem Kindeswohl bei allem staatlichen Handeln, welches die Rechte und Interessen von Kindern berührt, vorrangige Bedeutung zukommen. Dies würde dazu führen, dass sich Behörden etwa bei der Planung von Wohnvierteln oder beim Straßenbau primär am Kindeswohl orientieren.56 Soweit insbesondere bei den angesprochenen Verwaltungsentscheidungen entweder auf Tatbestands - oder auf Ermessensseite ein Entscheidungsspielraum der Behörden besteht, sind in diesem Rahmen die Grundrechte aller von der Entscheidung Betroffenen zu berücksichtigen. Eine für alle staatliche Stellen geltende Vorgabe bei widerstreitenden Interessen das Wohl der Kinder vorrangig zu berücksichtigen, wirft aber die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG) auf. Danach ist eine Benachteiligung einzelner Gruppen aufgrund von allgemeinen (Art. 3 Abs. 1 GG) oder aufgrund von bestimmten persönlichen Merkmalen (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht gestattet. Eine solche Benachteiligung läge auch in der grundgesetzlichen Anordnung , bei widerstreitenden Interessen die Rechte von Kinders stets vorrangig zu behandeln. Ganz praktisch mag es im Einzelfall nicht einzusehen sein, warum in einer Abwägungsentscheidung der Behörden die Interessen der Kinder den Interessen anderer Grundrechtsträger, z.B. von Senioren, Behinderten oder religiösen Gruppen, stets vorgehen sollen. Ein ähnlicher Konflikt besteht bei dem Gebot, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) im Verhältnis zum allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 1 GG – hier insbesondere zu Lasten der Männer). Das Bundesverfassungsgericht löst diesen Konflikt dadurch, dass es eine Frauenförderung nur zulässt, wenn tatsächlich Nachteile in dem speziellen Regelungsbereich für Frauen bestehen und die Regelung geeignet ist, diese Nachteile 56 Formulierungsvorschlag des Aktionsbündnisses (Fn. 2), S. 5; Hintergrundpapier des Aktionsbündnisses (Fn. 17), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 294/14 Seite 17 auszuräumen.57 Da Kinder jedoch nicht in gleichem Maße „im Wettbewerb“ mit anderen Grundrechtsträgern stehen, fragt sich, wie zwischen der Pflicht der vorrangigen Beachtung ihrer Interessen und dem Gleichheitsrecht der anderen Grundrechtsträger ein Ausgleich gefunden werden könnte. 3.5. Fazit In ihrem Kern ist die Frage, ob Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen, eine politische Entscheidung, die rechtlich nicht beantwortet werden kann. Im aktuellen Verfassungsrecht genießen die Kinder als Träger der allgemeinen Grundrechte und spezifischer Schutz- und Abwehrrechte eine Rechtsstellung, die über den reinen Wortlaut des Grundgesetzes hinausgeht. Diese Rechtsstellung wird durch umfangreiche einfachgesetzliche Rechte flankiert und erweitert. Verfassungsrechtlich wirft der Vorschlag des Aktionsbündnisses eine Reihe von Fragen und Widersprüche zu bestehenden Grundrechten, insbesondere zu Art. 6 Abs. 2 und Art. 3 GG, auf. Entscheidet sich der verfassungsändernde Gesetzgeber dennoch, den vorgeschlagenen Art. 2a GG in das Grundgesetz einzuführen, wären vor allem diese Widersprüche aufzulösen und gegebenenfalls eine Reihe einfachgesetzlicher Regelungen anzupassen. 57 Vgl. zum Ganzen: Osterloh/Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 3 Rdnr. 261 ff.