© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 292/20 Ausgangsbeschränkungen nach den §§ 28, 28a Infektionsschutzgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 292/20 Seite 2 Ausgangsbeschränkungen nach den §§ 28, 28a Infektionsschutzgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 292/20 Abschluss der Arbeit: 30. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 292/20 Seite 3 1. Ausgangsbeschränkungen nach den §§ 28, 28a Infektionsschutzgesetz Bis zur Einführung von § 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) im November 20201 wurden Ausgangsbeschränkungen auf die Generalklausel des § 28 IfSG gestützt. Ob die Generalklausel eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage dafür bildete, war allerdings umstritten.2 In § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG werden nunmehr Ausgangsbeschränkungen ausdrücklich genannt. Danach können die nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG notwendigen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage nationaler Tragweite unter anderem Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten und im öffentlichen Raum sein. 1.1. Voraussetzungen Für die Verhängung einer Ausgangsbeschränkung gilt zunächst die Voraussetzung des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG, wonach es sich um eine notwendige Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten handeln muss. Es gelten zudem die allgemeinen Anforderungen des § 28a Abs. 3 IfSG, wonach die Schutzmaßnahmen zur Abwehr von Covid-19 nach bestimmten Schwellenwerten auszurichten sind. Für Ausgangsbeschränkungen gelten zudem Einschränkungen: § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG bestimmt, dass die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nur dann möglich ist, „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. Ausgangsbeschränkungen dürfen daher nur als ultima ratio angeordnet werden, wenn die Zahl der Infizierten durch die bisherigen Schutzmaßnahmen nicht gesenkt werden konnte.3 1.2. Zulässigkeit einer vollständigen Ausgangssperre? Begrifflich ist zwischen Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren zu unterscheiden. Während eine Ausgangsbeschränkung ein Verlassen des Wohnraums unter bestimmten Bedingungen zulässt, handelt es sich bei der Ausgangssperre um ein vollständiges Verbot.4 Nach dem Wortlaut von § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG sind nur Ausgangsbeschränkungen zulässig. Auch § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG benennt nur eine Ausgangsbeschränkung, „nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist“. Die Literatur geht zudem davon aus, dass nur § 30 IfSG, der die Quarantäne regelt (dort als „Absonderung“ bezeichnet ), eine vollständige Ausgangssperre umfasst und dass diese Norm eine Sperrwirkung für § 28a 1 Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18.11.2020 (BGBl. I S. 2397). 2 Siehe dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 086/20. 3 Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10.12.2020, 2 K 5102/20, BeckRS 2020, 34648 Rn. 56. 4 Weber, in: Creifelds, Rechtswörterbuch, 25. Edition 2020, „Ausgangssperre“; vgl. auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.12.2020, 20 NE 20.2907, BeckRS 2020, 34966 Rn. 28. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 292/20 Seite 4 IfSG entfaltet.5 Nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG sind somit nur Ausgangsbeschränkungen möglich. Entsprechende Anordnungen müssen daher Ausnahmetatbestände enthalten. 2. Betroffene Grundrechte Eine Ausgangsbeschränkung greift in verschiedene Grundrechte ein. Das Grundrecht auf Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die körperliche Bewegungsfreiheit , also die Freiheit, den gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen.6 Gemäß Art. 104 Abs. 1 und 2 GG gelten zum Teil unterschiedliche Voraussetzungen für Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen. Beide Varianten sind nur aufgrund eines Gesetzes zulässig. Eine Freiheitsentziehung erfordert darüber hinaus allerdings nach Art. 104 Abs. 2 GG eine richterliche Entscheidung. Für die Unterscheidung zwischen Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen ist insbesondere auf die Intensität des Eingriffs abzustellen.7 Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich zugänglich ist.8 Eine Freiheitsentziehung ist hingegen dann anzunehmen, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben ist.9 Dazu gehören etwa die Haft und die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt.10 Ein Ausgangsverbot, das mit Ausnahmen versehen ist, stellt keine Freiheitsentziehung dar.11 § 28 Abs. 1 Nr. 3 IfSG sieht somit eine reine Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 104 Abs. 1 GG vor, die nicht dem Richtervorbehalt unterfällt. Eine Ausgangsbeschränkung greift zudem in das Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG ein. Dieses gewährt das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen.12 Durch die Ausgangsbeschränkung wird die Möglichkeit des Ortswechsels zur Aufenthaltsnahme, d.h. zu einem vorübergehenden Verweilen, beeinträchtigt.13 Aus Art. 11 Abs. 2 GG ergibt sich, dass nur ein förmliches Parlamentsgesetz einen Eingriff in das 5 Sangs, Das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Gesetzgebung während der Pandemie, in: NVwZ 2020, 1780, Fn. 58 m.w.N. 6 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 45. Edition Stand: 15.11.2020, Art. 2 Rn. 84. 7 BVerfGE 105, 239 (248). 8 BVerfGE 105, 239 (248). 9 BVerfG NJW 2018, 2619 (2621) m.w.N. 10 Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 20. 11 Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.12.2020, 20 NE 20.2907, BeckRS 2020, 34966 Rn. 44; Greve, Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus im Spannungsfeld der Grundrechte, VR 2020, 181 (183). 12 Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 11 Rn. 25. 13 Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten „Ausgangssperren“ nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz , in: DVBl 2020, 732 (734). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 292/20 Seite 5 Grundrecht rechtfertigen kann. Zudem muss ein besonderer Grund für die Einschränkung gegeben sein. Ausdrücklich benannt ist in Art. 11 Abs. 2 GG die „Bekämpfung der Seuchengefahr“. In Betracht kommt auch ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Dieses gewährleistet das Recht, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.14 Bei Ausgangsbeschränkungen kann es dadurch beeinträchtigt werden, dass zur Feststellung eines Ausnahmegrundes personenbezogene Daten erhoben werden können, die zumindest die Privatsphäre betreffen.15 Je nach Ausgestaltung der Ausgangsbeschränkung können auch weitere Grundrechte, wie etwa die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) betroffen sein. Ob eine Ausgangsbeschränkung nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG verfassungsrechtlich zulässig ist, hängt insbesondere von der konkreten Ausgestaltung der Regelung und der Infektionslage ab und kann nur im Einzelfall entschieden werden. 3. Aktuelle Rechtsprechung Einzelne Gerichte haben nach der Gesetzesänderung bereits über Ausgangsbeschränkungen entschieden . Das VG Karlsruhe hat sich im Rahmen eines Eilverfahrens mit einer Allgemeinverfügung der Stadt Pforzheim befasst, die eine nächtliche Ausgangsbeschränkung vorsah.16 Das Gericht sah die Voraussetzungen des § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG, wonach die Ausgangsbeschränkung nur als ultima ratio angeordnet werden kann, als erfüllt an. Zur Begründung führte es aus, dass die bisherigen Maßnahmen der Stadt Pforzheim und des Landes Baden-Württemberg nicht zur Eindämmung der Zahl der Neuinfektionen im Stadtgebiet geführt hätten. Angesichts der Entwicklung der Infektionszahlen in Pforzheim sei kein milderes Mittel als eine nächtliche Ausgangsbeschränkung ersichtlich , um einen weiteren Anstieg zu verhindern. Das Gericht kritisierte allerdings, dass die Ausgangsbeschränkung in Form einer Allgemeinverfügung erlassen worden war. Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverfügung und damit eines Verwaltungsaktes sei (grundsätzlich im Gegensatz zu einem Gesetz oder einer Rechtsverordnung), dass ein Einzelfall geregelt werde. Bei personenbezogenen Allgemeinverfügungen müssten sich die Regelungen an einen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richten. Die Regelungen müssten zudem eine gewisse räumliche Begrenzung enthalten. Die überprüfte Allgemeinverfügung gelte hingegen für das gesamte 14 BVerfGE 65, 1 (41 ff.). 15 Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten "Ausgangssperren" nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz , in: DVBl 2020, 732 (735). 16 VG Karlsruhe, Beschluss vom 10.12.2020, 2 K 5102/20, BeckRS 2020, 34648. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 292/20 Seite 6 Stadtgebiet von Pforzheim und für verschiedenste Lebenssachverhalte. Es sprächen daher überwiegende Gründe dafür, dass die Ausgangsbeschränkung nicht im Wege der Allgemeinverfügung hätte erlassen werden dürfen. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hatte im Eilverfahren bezüglich einer nächtlichen Ausgangsbeschränkung zu entscheiden.17 Die Bayerische Corona-Verordnung sah vor, dass bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 200 Infizierten je 100.000 Einwohner der Aufenthalt außerhalb der eigenen Wohnung zwischen 21 und 5 Uhr nur aus bestimmten Gründen erlaubt war. In der Entscheidung setzte sich das Gericht eingehend mit den Voraussetzungen des § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG auseinander. Es stellte fest, dass die Beurteilung der Frage, ob eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von Covid-19 ohne eine Ausgangsbeschränkung erheblich gefährdet wäre, eine auf die jeweilige Pandemiesituation abstellende Gefährdungsprognose erfordere. Die Anforderungen des § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG sah der Gerichtshof als erfüllt an. Der Verordnungsgeber habe die Maßnahmen mit der sehr hohen und über dem Bundesdurchschnitt liegenden Sieben-Tage-Inzidenz für Bayern, dem starken Anstieg der Covid-19-Patienten in bayerischen Krankenhäusern, dem starken Anstieg der Todesfälle und dem diffusen Infektionsgeschehen mit zahlreichen regionalen Hotspots begründet. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass nur durch weitere Verschärfungen der bisherigen Maßnahmen gewährleistet werden könne, dass es zu dem erforderlichen Rückgang der Infektionszahlen komme, um das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen und dadurch Todesfälle zu verhindern. Der Verordnungsgeber habe für Hotspots mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 200 Infizierten je 100.000 Einwohner eine Ausgangsbeschränkung als erforderlich angesehen, um insbesondere die Möglichkeiten geselliger Zusammenkünfte in der Freizeit einzuschränken. Der Gerichtshof erklärte, dass diese Gefahrenprognose nicht zu beanstanden sei. Die Ausgangsbeschränkung sei auch verhältnismäßig. Insbesondere habe der Verordnungsgeber einen umfangreichen Ausnahmekatalog vorgesehen. Die Abwägung der gegenüberstehenden Interessen ergebe zudem , dass das Interesse der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG das Interesse des Antragstellers an einem Aufenthalt außerhalb seiner Wohnung zwischen 21 und 5 Uhr überwiege. *** 17 Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.12.2020, 20 NE 20.2907, BeckRS 2020, 34966.