© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 292/19 Verfassungsfragen der Nichtzuteilung von Mandaten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 2 Verfassungsfragen der Nichtzuteilung von Mandaten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 292/19 Abschluss der Arbeit: 17. Dezember 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 3 1. Fragestellung Um die Beantwortung der folgenden Fragen wurde gebeten: 1. Ist es mit geltendem Verfassungsrecht vereinbar, unter Wahrung der sich aus dem Zweitstimmenverhältnis ergebenden Proportionalität der Zusammensetzung des Bundestages, einem mit relativer Mehrheit gewählten Wahlkreiskandidaten das Mandat nicht zuzuteilen , weil a) er einen gesetzlich festgelegten Mindestsatz an Erststimmen (z. B. 30 Prozent) verfehlt hat oder b) die Zuteilung eines weiteren Mandats an die betreffende Landespartei ein Überhangmandat erzeugen würde und der Kandidat den Wahlkreis mit dem relativ schwächsten Erststimmenergebnis gewonnen hat? 2. Ist es mit geltendem Verfassungsrecht vereinbar, eine fixe Maximalgröße des BT einzuführen (z. B. 680 Abgeordnete) und deren Einhaltung dadurch zu sichern, dass bei drohender Überschreitung nach den geltenden Regeln für die Mandatszuteilung die mit den geringsten Mehrheiten errungenen Direktmandate nicht zugeteilt werden? 3. Ist es mit geltendem Verfassungsrecht vereinbar, die Einhaltung einer fixen Maximalgröße des BT dadurch zu sichern, dass im Fall der Überschreitung nach den geltenden Mandatszuteilungsregeln Listenmandate anteilig nach dem Zweitstimmenanteil der Parteien gestrichen werden, bis die Maximalgröße erreicht ist? Eine summarische Prüfung auf der Grundlage des geltenden personalisierten Verhältniswahlsystems ergibt: 2. Grundsätzliche Zulässigkeit der Fixierung einer Maximalgröße des Bundestages und der Nichtzuteilung von Direktmandaten Es ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig, einen Wahlkreisbewerber, der mit relativer Mehrheit gewählt worden ist, das Mandat nicht zuzuteilen. Denn, dass ein Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt hat, gewählt ist, beruht auf § 5 S. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG). Dieses (einfache) Gesetz kann der Verfassungsgeber ändern und die Wahl an zusätzliche Voraussetzungen knüpfen. Schwierig ist es allerdings, solche Voraussetzungen verfassungskonform an das Wahlsystem anzupassen. Das Verfassungsrecht lässt es auch zu, dass der einfache Gesetzgeber eine fixe Maximalgröße des Bundestages (z. B. 680 Abgeordnete) festlegt. Er träfe damit eine nähere Bestimmung i. S. v. Art. 38 Abs. 3 Grundgesetz (GG), konkret durch eine Änderung des § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 4 Die Größe könnte der Verfassungsgeber auch selbst festlegen. Es verstößt nicht gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, wenn z. B. in Art. 38 Abs. 1 GG ein Satz eingefügt wird, der lauten könnte: „Die Zahl der Abgeordneten beträgt höchstens 680.“ Die Maximalgröße stünde in diesem Fall auf derselben Ebene wie die überkommenen Wahlrechtsgrundsätze . Sie wäre weder durch den einfachen Gesetzgeber noch durch das Bundesverfassungsgericht abänderbar. Vielmehr könnte sie dazu dienen, Einschränkungen der Wahlrechtgrundsätze (vor allem der Wahlrechtsgleichheit) zu legitimieren. Die Bedeutung einer solchen verfassungsrechtlichen Anknüpfung betonte auch das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 25. Juli 2012 – 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11, Rn. 62): „Aus dem formalen Charakter des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit folgt ferner, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt (…). Diese Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Es muss sich um Gründe handeln, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind (…).“ 3. Frage 1: Nichtzuteilung von Direktmandaten 3.1. Frage 1a: Nichtzuteilung eines Wahlkreismandats wegen Verfehlung eines Mindestsatzes Die Konsequenzen einer solchen Regelung sind sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Höhe der Mindestsatz und die Ergebnisse in den Wahlkreisen haben. Wird ein recht niedriger Mindestsatz festgelegt, kann es sein, dass die Regelung kaum Auswirkungen hat, weil fast alle Bewerber darüber liegende Ergebnisse erzielt haben. Es würden also trotz der Regelung fast alle Mandate zugeteilt. Wird ein recht hoher Mindestsatz festgelegt, werden möglicherweise sehr viele Mandate nicht zugeteilt. Unterstellt man, bei der Wahl zum 19. Bundestag hätte ein Mindestsatz von 30 Prozent gegolten, wären 26 Direktmandate nicht zugeteilt worden; im Einzelnen: Land Über 30 Prozent Unter 30 Prozent Baden-Württemberg 35 3 Bayern 46 0 Berlin 7 5 Brandenburg 4 6 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 5 Land Über 30 Prozent Unter 30 Prozent Bremen 2 0 Hamburg 5 1 Hessen 22 0 Mecklenburg-Vorpommern 5 1 Niedersachsen 30 0 Nordrhein-Westfalen 64 0 Rheinland-Pfalz 15 0 Saarland 4 0 Sachsen 11 5 Sachsen-Anhalt 7 2 Schleswig-Holstein 11 0 Thüringen 5 3 Summe Wahlkreise 273 26 Werden Direktmandate nicht zugeteilt, kann das Auswirkungen auf die Größe des Bundestages haben. Eine Verringerung der Größe des Bundestages kann bei einer starren Grenze jedoch nicht sichergestellt werden, da nicht absehbar ist, wie viele Direktmandate dies tatsächlich betrifft. Das Ziel des gültigen Wahlsystems, dass letztlich der Anteil der Zweitstimmen über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestages entscheidet, könnte, wenn eine hinreichende Ausgleichsregelung geschaffen würde, grundsätzlich verwirklicht werden. Die Regelung bereitet eine Fülle von Problemen. Es kann z. B. sein, dass Abgeordnete einer Partei aufgrund der Regelung der Anwendungsbereich der Grundmandatsklausel verfehlt. Problematisch ist des Weiteren die Wahrung der föderalen Verteilung der Mandate, welche nach dem bisherigen Wahlsystem vorgesehen ist. Diese wird insbesondere für den proportionalen Ausgleich der Sitzverteilung relevant. Wenn man an dem föderativen Charakter festhält, ist dies nur über Landeslisten und entsprechende Ergebnisse der Parteien innerhalb eines Landes möglich. Andernfalls käme es zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG), da insbesondere Listenaufstellungen in mehreren Bundesländern nicht zwingend sind. Eventuell ist dann also ein Ausgleich über die Landeslisten der Partei vorzunehmen, der ein Direktmandat gestrichen wurde. Bei Einzelbewerbern wäre kein entsprechender Ausgleich möglich, was zu erheblichen Beeinträchtigungen führen könnte. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 6 Die Erfolgschancengleichheit erlaubt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zwar, dass insbesondere bei einer Mehrheitswahlentscheidung die unterlegenen Stimmen nicht gewertet werden (BVerfGE 121, 266, 300). In der Konsequenz eines starren Mindestsatzes wäre jedoch in einem Wahlkreis, in dem alle Bewerber unter dem Mindestsatz geblieben sind, der Erfolgswert aller Erststimmen Null. Wähler, in deren Wahlkreis mehrere starke Bewerber antreten, würden dadurch gegenüber Wählern benachteiligt, in deren Wahlkreis ein sog. Platzhirsch kandidiert. Ein starrer Mindestsatz könnte auch dazu führen, dass bestimmte Wahlkreise weder mit einem Direkt- noch mit einem Listenkandidaten vertreten sind. Dies schwächt die im derzeitigen Wahlrecht verankerte regionale Komponente der Wahl. Rechtsprechung zu der Frage, ob eine Ausgestaltung der Mehrheitswahlentscheidung mittels eines starren Mindestsatzes mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar ist, existiert bislang nicht. Zwar kann die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Parlaments nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Differenzierungen bezüglich der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen (vgl. BVerfGE 95, 408, 418 und 121, 266, 298). Der Spielraum des Gesetzgebers ist aber grundsätzlich eng. Das Bundesverfassungsgericht misst zudem der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes denselben hohen Rang wie der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu. Ob dem Integrationscharakter der Wahl durch einen hohen, starren Mindestsatz beispielsweise von 30 Prozent noch hinreichend Rechnung getragen würde, erscheint mit Blick auf die o. g. Auswirkungen zweifelhaft. 3.2. Frage 1b: Nichtzuteilung der relativ schwächsten Wahlkreismandate bei Erzeugung von Überhangmandaten Z. B. Pukelsheim/Rossi (JZ 2010, 922, 927) und der BayVerfGH 7, 99 sehen eine solche Streichung von Direktmandaten als mit der Wahlrechtsgleichheit vereinbar an, verneint wird dies u.a. von Boehl (ZRP 2017, 197, 199). Einzelbewerber blieben von einer solchen Regelung unberührt. Sie wären also Bewerbern gegenüber bevorzugt, aufgrund deren Kandidatur Überhangmandate erzeugt werden können. Nach dem gültigen Wahlrecht sind Parteien nicht verpflichtet, Landeslisten (§§ 27, 28 BWahlG) einzureichen. Machen sie lediglich Kreiswahlvorschläge (§§ 19 ff. BWahlG), könnten sie vermeiden, dass Mandate nicht zugeteilt werden, die den Mindestsatz verfehlt haben. Dies könnte insbesondere in Bundesländern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit des Erlangens vieler Direktmandate und dem Entstehen von Überhangmandaten eintreten. So erlangte beispielsweise die CSU in Bayern bei der Bundestagswahl 2009, 2013 und 2017 alle Direktmandate. Da dieser Vorschlag an die Streichung von andernfalls entstehenden Überhangmandaten anknüpft, ist die Wahrung des Proporzes nach den Zweitstimmenergebnissen realisiert. Will man auch hier den föderalen Proporz wiederum wahren, müsste ein entsprechender Ausgleich innerhalb eines Landes stattfinden, da andernfalls die Anzahl der Sitze, mit denen ein Bundesland insgesamt im Deutschen Bundestag vertreten ist, verringert werden würde. 4. Frage 2: Sicherung einer fixen Maximalgröße durch Nichtzuteilung von Direktmandaten Grundsätzlich kommt es in Betracht, die mit den geringsten Mehrheiten gewonnenen Direktmandate nicht zuzuteilen, damit die Maximalgröße eingehalten wird. Zumindest wenn die Größe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 292/19 Seite 7 verfassungsfest ist, kommt sie als Rechtfertigung dafür in Betracht, bestimmten Erststimmen den Erfolgswert gänzlich zu versagen. Ein erhebliches Problem bleibt allerdings unter dem Gesichtspunkt der Parteiengleichheit, dass die Regelung logischerweise nur Parteien treffen kann, die ein oder mehrere Direktmandate erzielt haben. Zudem ist zu beachten, dass die dem bisherigen Wahlsystem zugrundeliegende föderale Verteilung der Mandate so in Frage gestellt würde. Dies wird bereits exemplarisch an den Werten der letzten Bundestagswahl deutlich. Bei dieser erlangte die CSU in Bayern im Schnitt 44,2 Prozent der Erststimmen und errang damit alle Wahlkreise. In dem Wahlkreis, der im Verhältnis mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis gewonnen wurde, betrug das Ergebnis 32,2 Prozent (Wahlkreis 217, München-Nord). Im Vergleich dazu wurden in Berlin fünf von zwölf Wahlkreisen durch die Direktkandidaten mit einem Ergebnis von unter 30 Prozent gewonnen, sieben Wahlkreise mit unter 32,2 Prozent. In Berlin wären mithin wesentlich mehr Mandate nicht zugeteilt worden, als in Bayern, was zu einer Verschiebung des föderalen Proporzes geführt hätte. Bei eher schwachen Ergebnissen der Kandidaten aus bestimmten Bundesländern, könnte die Regelung sogar dazu führen, dass diesem Bundesland alle Direktmandate gestrichen werden. 5. Frage 3: Sicherung der Maximalgröße durch Streichung von Listenmandaten Die Regelung betrifft logischerweise nur Parteien, die Landeslisten aufgestellt haben, weil sie die Direktmandate unberührt lässt. In einem Land (Land A), in dem eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr dem Anteil der Zweitstimmen nach zustehen würden, zieht die Landesliste nicht. Technisch käme nur eine Streichung von Mandaten einer verbundenen Landesliste derselben Partei in einem anderen Bundesland (Land B) in Betracht. Daraus ergeben sich Differenzen hinsichtlich des Erfolgswerts der Zweitstimmen im Land A und im Land B. Zudem liefe die Regelung in solchen Ländern leer, wenn Landeslisten nicht verbunden sind oder eine Partei nur in einem Bundesland antritt. Dies führt ebenfalls zu Erfolgswertunterschieden gegenüber Landeslisten, die von Streichungen betroffen sind. Eine länderübergreifende Streichung würde auch das föderative Element des jetzigen Bundeswahlrechts abschwächen. Zwar folgt aus den in der Verfassung verankerten Wahlrechtsgrundsätzen kein zwingendes Erfordernis einer starken föderativen Komponente bei der Ausgestaltung des Wahlrechts. Allerdings orientiert sich die Struktur der Parteien so stark am föderalen System, dass eine länderübergreifende Streichung von Listenmandaten zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien führen würde (Art. 21 Abs. 1 GG). ***