© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 290/20 Zum Grundsatz der Normenklarheit Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 290/20 Seite 2 Zum Grundsatz der Normenklarheit Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 290/20 Abschluss der Arbeit: 21. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 290/20 Seite 3 1. Bedeutung des Grundsatzes der Normenklarheit Der Grundsatz der Normenklarheit besagt, dass gesetzliche Regelungen in ihren Voraussetzungen und in ihrem Inhalt so formuliert sein müssen, dass die von der Norm Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können.1 Die Anforderungen an die Normenklarheit dienen zudem dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen.2 Außerdem hat der Grundsatz den Zweck, die Gerichte in die Lage zu versetzen, die Verwaltung anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren.3 Die Normenklarheit wird üblicherweise zusammen mit dem Bestimmtheitsgebot geprüft,4 das besagt , dass Rechtsnormen hinreichend konkret gefasst sein müssen.5 Die beiden Gebote lassen sich nicht eindeutig voneinander abgrenzen und werden teilweise synonym verwendet.6 Beide Grundsätze werden aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet.7 Das Erfordernis der Rechtssicherheit verlange hinreichend präzise Normformulierungen.8 Zur Normenklarheit gehört, dass die Vorschriften verständlich und in sich widerspruchsfrei sind und ihren Regelungsgehalt nicht „verschleiern“.9 Für die Verständlichkeit kommt es grundsätzlich auf den Horizont des (durchschnittlichen) Normadressaten an.10 Die Interpretationsbedürftigkeit einer Norm ist nicht gleichzusetzen mit ihrer Unklarheit.11 Den Anforderungen an die Normenklarheit und -bestimmtheit ist genügt, wenn eine Auslegung der Norm mit herkömmlichen juristischen Methoden möglich ist.12 Problematisch für die Normenklarheit können insbesondere Verweisungen auf andere Rechtsnormen sein. Grundsätzlich sind diese zwar zulässig; das Bundesverfassungsgericht setzt ihnen jedoch Grenzen. Danach „müssen Verweisungen begrenzt bleiben, dürfen nicht durch die Inbezugnahme 1 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe etwa BVerfGE 17, 306 (314); 45, 400 (420). 2 BVerfGE 110, 33 (54). 3 BVerfGE 110, 33 (54). 4 Siehe etwa BVerfGE 120, 378 (407 ff.). 5 Sachs, in: derselbe (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 126. 6 Sachs, in: derselbe (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 126 mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 7 Vgl. BVerfGE 45, 400 (420). 8 Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 26 Rn. 85. 9 Sachs, in: derselbe (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 125; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 91. EL April 2020, Art. 20 VII Rn. 53. 10 Vgl. BVerfGE 47, 109 (121); 71, 108 (115). 11 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 289. 12 BVerfGE 83, 130 (145). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 290/20 Seite 4 von Normen, die andersartige Spannungslagen bewältigen, ihre Klarheit verlieren und in der Praxis nicht zu übermäßigen Schwierigkeiten bei der Anwendung führen. Unübersichtliche Verweisungskaskaden sind mit den grundrechtlichen Anforderungen daher nicht vereinbar.“13 2. Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht stellt an die Normenklarheit je nach Regelungsgegenstand der Vorschrift unterschiedlich strenge Vorgaben. Im Grundsatz müssen Rechtsvorschriften so genau gefasst werden, „wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“.14 Erhöhte Anforderungen gelten, wenn eine Norm Grundrechtsrelevanz hat. Der Gesetzgeber muss bei Grundrechtseingriffen Gegenstand, Inhalt, Zweck und Ausmaß des Eingriffs weitgehend selbst definieren.15 Die Vorgaben an die Normenklarheit richten sich insbesondere nach der Art und der Schwere des Eingriffs.16 Besonders hohe Anforderungen bestehen im Bereich des Strafrechts.17 Art. 103 Abs. 2 GG besagt, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. In Bezug auf die Normenklarheit verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass jedermann im Regelfall vorhersehen können muss, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.18 Ein weiteres Beispiel für erhöhte Anforderungen ist die heimliche Erhebung personenbezogener Daten, etwa durch die Nachrichtendienste. Dies hat den Grund, dass die Datenerhebung von den Betroffenen unbemerkt stattfindet und sich die Befugnisse somit nicht im Wechselspiel von behördlicher Anordnung und gerichtlicher Kontrolle konkretisieren können.19 Der Grundsatz der Normenklarheit gilt aber nicht nur im Bereich der Eingriffsverwaltung. Auch wenn Leistungen gewährt werden, müssen die jeweiligen Normen für die Betroffenen hinreichend klar und nachvollziehbar sein.20 Die Anforderungen an die Klarheit gelten nicht nur für Normen, die den Bürger betreffen. So hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise im Bereich des Staatsorganisationsrechts betont, der Gesetzgeber müsse auch bei der Bestimmung der Verwaltungszuständigkeiten den Grundsatz der 13 BVerfG NJW 2020, 2235 (2256). 14 NJW 2016, 3648 (3649). 15 BVerfGE 69, 1 (41). 16 BVerfGE 33 (55). 17 BVerfG NJW 2016, 3648 (3649). 18 BVerfG NJW 2016, 3648 (3649 f.). 19 BVerfG NJW 2020, 2235 (2247). 20 BVerfG, FPR 2003, 597 (600). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 290/20 Seite 5 Normenklarheit beachten, um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich zu schützen.21 Zusammen mit der Gleichheit und der Verhältnismäßigkeit gehören die Normenklarheit und die Bestimmtheit somit zu den Grundsätzen, die bei allen Rechtsvorschriften gegeben sein müssen.22 3. Beispiele für mangelnde Normklarheit Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit mehrfach gesetzliche Vorschriften wegen mangelnder Klarheit kritisiert. So äußerte es 2003 – ohne die entsprechenden Normen für verfassungswidrig zu erklären –, dass die Regelungen zum Kindergeld in ihrer sozialrechtlichen, steuerrechtlichen und familienrechtlichen Verflechtung immer weniger der Normenklarheit entsprächen. Es sei bereits nicht erkennbar, „inwieweit das Kindergeld in seiner Doppelfunktion als Sozial- und gleichzeitig steuerliche Ausgleichsleistung Steuergerechtigkeit herstellen soll und welcher Anteil hiervon staatliche Familienförderung ist“.23 Ein Beispiel, in dem eine Norm wegen fehlender Klarheit für verfassungswidrig erklärt wurde, ist das Urteil zur Antiterrordatei.24 In dem Urteil ging es unter anderem um den § 2 S. 1 Nr. 1 b Antiterrordateigesetz . Dieser sah eine Verpflichtung der beteiligten Behörden vor, Daten von Personen zu speichern, die eine terroristische Vereinigung unterstützen oder die eine Gruppierung, die selbst eine terroristische Vereinigung unterstützt, unterstützen. Das Bundesverfassungsgericht führte zur Verfassungswidrigkeit der Norm aus: „Ein Erfordernis eines subjektiven Bezugs zum Terrorismus ist der Vorschrift nicht zu entnehmen . Sie deckt ihrem Wortlaut und nicht fernliegenden Sinn nach damit auch eine Erstreckung der Speicherungspflicht auf Personen, die weit im Vorfeld und möglicherweise ohne Wissen von einem Terrorismusbezug eine in ihren Augen unverdächtige Vereinigung unterstützen, wie zum Beispiel den Kindergarten eines Moscheevereins, den die Behörden jedoch der Unterstützung terroristischer Vereinigungen verdächtigen. Eine solche Öffnung der Norm für die Einbeziehung schon des weitesten Umfelds verstößt gegen den Grundsatz der Normenklarheit und ist mit dem Übermaßverbot nicht vereinbar. Zwar steht es dem Gesetzgeber frei, auch die bloße Unterstützung von unterstützenden Vereinigungen als Grund für eine Speicherung vorzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass sie sich willentlich als Förderung der den Terrorismus unterstützenden Aktivitäten solcher Gruppierungen darstellt. Der Gesetzgeber hat dies gegebenenfalls aber in einer dem Grundsatz der Normenklarheit genügenden Weise in der Vorschrift zum Ausdruck zu bringen.“25 21 BVerfG, DÖV 2003, 902 (903). 22 Vgl. Schneider, in: derselbe, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, S. 42 ff. 23 BVerfG, FPR 2003, 597 (600). 24 BVerfGE 133, 277. 25 BVerfGE 133, 277 (340 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 290/20 Seite 6 Ein weiteres Beispiel ist das Urteil zur sogenannten Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung.26 Das Gericht erklärte mehrere Normen des BND-Gesetzes für mit dem Grundsatz der Normenklarheit unvereinbar . Dabei handelte es sich unter anderem um § 24 Abs. 1 S. 1 BND-Gesetz, der bestimmte, dass der Bundesnachrichtendienst Informationen einschließlich personenbezogener Daten an inländische öffentliche Stellen übermitteln dürfe, wenn dies zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sei. Das Gericht stellte klar, dass ein Verweis auf anderweitig definierte Aufgaben zwar grundsätzlich zulässig sei. Eine allgemeine Bezugnahme auf die gesamten Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes lasse jedoch nicht erkennen, zu welchen Zwecken eine Datenübermittlung erlaubt werden solle.27 *** 26 BVerfG NJW 2020, 2235. 27 BVerfG NJW 2020, 2235 (2267).