© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 287/20 Rechtswirkungen des BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 287/20 Seite 2 Rechtswirkungen des BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 287/20 Abschluss der Arbeit: 18. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 287/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Der Bundestag hat am 17. Mai 2019 einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ (BT-Drucksache 19/10191) angenommen.1 Der Bundestag tritt damit jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen entschlossen entgegen und verurteilt die BDS-Kampagne und den Aufruf zum Boykott von israelischen Waren, Unternehmen, Wissenschaftlern, Künstlern und Sportlern. Es sollen keine Organisationen finanziell gefördert werden, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Länder, Städte und Gemeinden werden aufgerufen, sich dieser Haltung anzuschließen . Es wurden die Fragen aufgeworfen, wie der BDS-Beschluss des Bundestages im Lichte der Grundrechte zu betrachten sei und ob die Entscheidungen, die in Bund, Ländern und Gemeinden auf der Grundlage des BDS-Beschlusses getroffen werden, mit dem Grundgesetz vereinbar seien. 2. Rechtswirkung des Bundestagsbeschlusses Bei den Beschlüssen des Deutschen Bundestages wird zwischen den „echten“ und den „schlichten“ Parlamentsbeschlüssen unterschieden.2 Echte Beschlüsse sind solche mit rechtlicher Verbindlichkeit für den Adressaten.3 Diese verbindlichen Beschlüsse sind im Wesentlichen im Grundgesetz selbst genannt. Dazu gehören aus dem inneren Bereich des Bundestages z. B. die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG), aus dem Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen z. B. das Herbeirufen von Mitgliedern der Bundesregierung (Art. 43 Abs. 1 GG) oder aus dem Bereich der besonderen Staatsangelegenheiten z. B. die Feststellung des Verteidigungsfalls (Art. 115a Abs. 1 GG).4 Demgegenüber geht von schlichten Parlamentsbeschlüssen keine (rechtliche) Verbindlichkeit aus. Es handelt sich dabei oft um Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen, politische Absichtserklärungen , Ersuchen an die Regierung oder andere Entschließungen, denen (ggf. noch) keine Regulierungsabsicht zu Grunde liegt.5 Diese Beschlüsse müssen sich nicht an ein anderes Staatsorgan wie z. B. die Regierung richten,6 sie können auch als Absichtserklärung für das zukünftige Handeln des 1 Bundestag-Plenarprotokoll 19/102, S. 12489. 2 Die folgenden Ausführungen entstammen dem Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Frage zur Wirkung eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 143/16, S. 3 f. 3 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 1. Auflage 2016, § 10 Handlungsformen, Rn. 14. 4 Siehe dazu ausführlich Luch (Fn. 3), § 10 Handlungsformen, Rn. 15 ff. 5 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz Kommentar, 14. Auflage 2017, Art. 40 Rn. 34. 6 Luch (Fn. 3), § 10 Handlungsformen, Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 287/20 Seite 4 Bundestages selbst zu sehen sein. Trotz der fehlenden Verbindlichkeit wird diesen Beschlüssen eine nicht unerhebliche politische Bedeutung zugemessen.7 Der hier betrachtete Beschluss des Bundestages vom 17. Mai 2019 ist als schlichter Parlamentsbeschluss zu bewerten. Er ist nicht auf der Basis einer spezifischen rechtlichen Regelung ergangen und hat daher keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane. Der Beschluss stellt eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar.8 Aber auch als Absichtserklärung des Bundestages in Bezug auf sein eigenes zukünftiges Handeln geht von dem Beschluss keine Bindungswirkung für den Bundestag selbst aus. Der Bundestag kann den Beschluss jederzeit wieder (ausdrücklich) aufheben oder ihn durch einen inhaltlich abweichenden Beschluss „überschreiben“.9 Im Ergebnis entfaltet der Beschluss weder für andere Staatsorgane noch für den Bundestag selbst rechtliche Bindungswirkung. Aufgrund der rechtlichen Unverbindlichkeit stellt der Beschluss des Bundestages keine Beeinträchtigung der Grundrechte dar, da er allein einen bestehenden Rechtsanspruch , z. B. zur Nutzung städtischer Veranstaltungsräume, nicht einzuschränken vermag.10 Entscheidungen, die in Bund, Ländern und Gemeinden getroffen werden, können nicht auf der Grundlage des Beschlusses des Bundestages gefasst werden. Der unverbindliche Beschluss des Bundestages kann keine Rechtsgrundlage für solche Entscheidungen darstellen. Solche Entscheidungen bedürfen stets einer Rechtsgrundlage im Einzelfall, bei denen die Grundrechte entsprechend zu beachten sind.11 Dies soll am Beispiel „Nutzung städtischer Veranstaltungsräume“ verdeutlicht werden. Gemeinden kommt aufgrund der Selbstverwaltungsgarantie gemäß Art. 28 Abs. 2 GG ein weites, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Gestaltungsermessen bei der Festlegung des Zwecks und des Benutzerkreises ihrer geschaffenen öffentlichen Einrichtungen zu.12 Dabei haben die Gemeinden jedoch das höherrangige Recht und insbesondere die Grundrechte zu achten. Soweit politische Veranstaltungen grundsätzlich vom Widmungszweck der öffentlichen Einrichtung umfasst sind, haben die 7 Klein, in: Isensee/Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Auflage 2005, § 50 Stellung und Aufgaben des Bundestages, Rn. 14; Holter, Völkermord im Parlament – Der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik, 2019, S. 173. 8 Siehe auch Steinke, Zur Freiheit der Debatte, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.12.2020, S. 13. 9 Dazu allgemein – wenn auch konkret zur Möglichkeit des Bundestages, seine eigenen Gesetze zu „überschreiben“ – ausführlich BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015, 2 BvL 1/12, Rn. 53 ff. – „treaty override“. 10 Vgl. Verwaltungsgericht Köln, Beschluss vom 12.09.2019, 14 L 1765/19, Rn. 24. 11 Siehe Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH) München, Urteil vom 17.11.2020, 4 B 19.1358. 12 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (VGH) München, Urteil vom 17.11.2020, 4 B 19.1358, Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 287/20 Seite 5 Gemeinden den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten; Differenzierungen bedürfen eines verfassungsrechtlich tragfähigen Grundes.13 Der Ausschluss einer bestimmten politischen Gruppierung von der Nutzung einer öffentlichen Einrichtung ist zudem am Maßstab der Meinungsfreiheit zu messen. Dabei ist zu beachten, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG auch extremistische , rassistische oder antisemitische Äußerungen umfasst.14 Die Meinungsfreiheit gilt gleichwohl nicht schrankenlos, sie findet ihre Schranken insbesondere in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, Art. 5 Abs. 2 GG. Darunter sind solche Gesetze zu verstehen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung an sich richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen.15 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind die Vorschriften der allgemeinen Gesetze zudem wiederum selbst stets mit Blick auf die Meinungsfreiheit auszulegen und daher in ihrer die Meinungsfreiheit beschränkenden Wirkung gegebenenfalls selbst wieder einzuschränken (sogenannte Wechselwirkung).16 Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG rührt eine inhaltliche Neutralitätspflicht, die Grundrechtsverpflichteten jede Differenzierung nach Meinungsinhalten verbietet.17 Weder das Bundesverwaltungsgericht noch das Bundesverfassungsgericht haben – soweit ersichtlich – über einen Ausschluss der BDS-Bewegung und ihrer Vertreter von der Nutzung einer öffentlichen Einrichtung zu entscheiden gehabt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg sowie aktuell der Bayerische Verwaltungsgerichtshof haben – mit unterschiedlicher Begründung – einen solchen Ausschluss für unzulässig erachtet. Das OVG Lüneburg18 hat dem Antrag auf Nutzung stattgegeben, da die Beweislast für die anspruchsvernichtende Feststellung, dass der Antragsteller bzw. die BDS- Bewegung nicht für die freiheitliche demokratische Grundordnung einstehen, der Antragsgegnerin (der Gemeinde) obliege und sie dieser nicht nachgekommen sei.19 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat ausgesprochen: Für eine Versagung des Zugangs zu öffentlichen Räumen seien antisemitische Meinungsäußerungen allein nicht ausreichend, sondern es sei eine konkrete Rechtsgutverletzung oder Gefährdungslage erforderlich.20 Dies sei aber erst dann anzunehmen, wenn die öffentliche Ordnung i. S. e. Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährdet und so der Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markiert werde.21 *** 13 Nußberger, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 53 14 BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 26.01.2006, 1 BvQ 3/06, Rn. 14; Grabenwarter in: Maunz/Dürig, Grundgesetz -Kommentar, 91. EL April 2020, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Rn. 73. 15 Schemmer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 45. Edition Stand: 15. November 2020, Art 5 Rn. 99. 16 BVerfGE 20, 162 (176 f.); BVerfGE 59, 231 (265); BVerfGE 71, 206 (214). 17 Grabenwarter (Fn. 14), Rn. 123 f. 18 Siehe Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 27.03.2019, 10 ME 48/19, Rn. 4. 19 Niedersächsisches OVG (Fn. 18), Rn. 7 ff. 20 VGH München (Fn. 11), Rn. 58. 21 VGH München (Fn. 11), Rn. 58.