© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 – 287/14 Verpflichtende Geschlechterquote bei Bundestagswahlen nach dem Vorbild des französischen Paritégesetzes Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 2 Verpflichtende Geschlechterquote bei Bundestagswahlen nach dem Vorbild des französischen Paritégesetzes Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 – 287/14 Abschluss der Arbeit: 16. Dezember 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung 4 2. Einleitung 5 3. Alternierende Landeslisten 6 3.1. Wahlrechtsgrundsätze gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG 7 3.1.1. Eingriff in die Wahlfreiheit 7 3.1.2. Eingriff in die Wahlgleichheit 7 3.1.3. Rechtfertigung der Eingriffe in Wahlrechtsfreiheit und -gleichheit 8 3.1.3.1. Meinung 1: Verhältnismäßiger Eingriff 9 3.1.3.2. Meinung 2: Verfassungswidrigkeit 10 3.2. Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG 12 3.2.1. Meinung 1: Ausgestaltung des innerparteilich geltenden Demokratiegebotes nach Art. 21 Abs. S. 3 GG 12 3.2.2. Meinung 2: Eingriff in die Parteienfreiheit 12 3.2.3. Rechtfertigung des Eingriffs in die Parteienfreiheit 12 3.2.3.1. Meinung 1: Verhältnismäßige Regelung 13 3.2.3.2. Meinung 2: Unverhältnismäßige Einschränkung 13 3.3. Spezieller Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG 13 4. Paritévorgaben für Wahlkreiskandidaten und Sanktionen bei der staatliche Parteien(teil)finanzierung 14 4.1. Gesetzliche Quotierung bei den Wahlkreiskandidaten der Parteien 14 4.2. Sanktionen bei der Parteienfinanzierung 15 5. Grundgesetzänderung 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 4 1. Zusammenfassung Zur Verfassungsmäßigkeit zwingender gesetzlicher Vorgaben der Geschlechterparität bei der Aufstellung von Kandidatenlisten der politischen Parteien werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. In diesem Zusammenhang diskutierte Verfassungspositionen sind Art. 38 Abs. 1 S.1 GG (Wahlrechtsfreiheit und Wahlrechtsgleichheit), Art. 20 GG (Demokratieprinzip), Art. 21 Abs. 1 GG (innerparteiliche Demokratie und Parteienfreiheit) sowie Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 GG (Diskriminierungsverbot und Gleichstellungsgebot). Zum Teil wird eine gesetzliche Listenquotierung für verfassungskonform erachtet, weil sich der Eingriff in die Wahlrechtsfreiheit und -gleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und in die Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG zugunsten anderer Verfassungsprinzipien rechtfertigen lasse. Hierzu wird vor allem Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG herangezogen, nach dem der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert. Darüber hinaus fordere das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 GG eine faire Chance auf eine realistische Spiegelung seiner Perspektiven und Interessen im Parlament. Auch sei das innerparteiliche Demokratiegebot gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 20 GG ebenfalls als ein rechtfertigendes Verfassungsprinzip heranzuziehen . Denn als Vorstufe für die spätere paritätische Zusammensetzung des Parlaments komme der gleichberechtigten Besetzung der Kandidatenlisten eine entscheidende Bedeutung zu. Die mehrheitlich in der verfassungsrechtlichen Literatur vertretene Gegenansicht sieht in gesetzlich angeordneten paritätischen Listen einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 38 Abs. 1 S, 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG. Wegen der strengen Formalisierung der Wahlrechtsprinzipien könnten objektive Wertentscheidungen der Verfassung zugunsten der Frauenförderung in diesem Bereich keine Berücksichtigung finden. Nach dieser Auffassung wird die Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 2 GG im Rahmen des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Zweifel gezogen. Zwingende Paritätsregelungen beeinflussten zudem das inhaltlich-programmatische Profil einer Partei und verletzten hiermit ihre verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG. Auch von den Befürwortern einer gesetzlichen Quotierung im Wahlrecht wird eingeräumt, dass sich die Paritébestimmungen für die Aufstellung von Wahlkreiskandidaten in Frankreich nach dem bestehenden System wegen der erst nachträglichen Sanktionierung eines Verstoßes durch die Kürzung der staatlichen Mittel der Parteienfinanzierung als wenig geeignet zur effektiven Umsetzung der Geschlechterparität in der Nationalversammlung erwiesen habe. Sofern die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Mittelkürzung bei nicht paritätischer Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen überhaupt in der Literatur erörtert wird, wird ein Verstoß gegen das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG angenommen. Während somit die allein einfachgesetzlich normierte Pflicht zur paritätischen Kandidatenaufstellung bei der Bundestagwahl und auch auf Landes- und Kommunalebene verfassungsrechtlich überwiegend kritisch bewertet wird, dürften solche Bestimmungen jedoch nach einer Grundgesetzänderung nach Art. 79 GG vergleichbar der Regelung in der französischen Verfassung möglich sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 5 2. Einleitung In Frankreich wurde die Verfassung im Jahr 1999 um einen Passus in Art. 1 Abs. 2 ergänzt, der u.a. die Förderung des gleichen Zugangs von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern per Gesetz vorschreibt.1 Auf einfachgesetzlicher Ebene ist im Jahr 2001 das Gesetz zur Förderung des gleichen Zugangs von Frauen und Männern zu Wahlmandaten und Wahlämtern (sog. Paritégesetz) in Kraft getreten.2 Es sieht eine verpflichtende paritätische Besetzung der Wahllisten mit Frauen und Männern bei Verhältniswahlen vor.3 Nach dem Paritégesetz gilt diese Pflicht bei Europawahlen, für einen Teil der Senatswahlen sowie für Regional- und Kommunalwahlen. Bei Europawahlen und einem Teil der Senatswahlen sind strikt alternierende Listen „Frau-Mann“ zu bilden. Bei Regional- und Kommunalwahlen ist ein Alternieren je Block von sechs Kandidaten vorgesehen. Bei Kommunalwahlen für Gemeinden gilt die Vorgabe der alternierenden Listenbildung ab einer Größe von 1000 Einwohnern. Kandidatenlisten zu allen genannten Wahlen werden bei einem Verstoß gegen die Paritätsvorgaben zurückgewiesen und nicht zur Wahl zugelassen.4 Außerdem sieht das Paritégesetz für die Wahlen zur französischen Nationalversammlung – einer Mehrheitswahl in Wahlkreisen – vor, dass Parteien, die in mehr als 50 Wahlkreisen Direktkandidatinnen und -kandidaten aufstellen, von der paritätischen Kandidatenaufstellung nur um bis zu 2 % abweichen dürfen. Verstöße führen nicht zur Ungültigkeit des Wahlvorschlags, werden jedoch mit einer Kürzung der staatlichen Parteienfinanzierung sanktioniert.5 In Deutschland gibt es bei den politischen Parteien in Deutschland parteiinterne Satzungsregelungen mit Paritätsvorgaben für die Kandidatenaufstellung bei Parlamentswahlen; diese werden heutzutage mit Blick auf die Programmfreiheit der Parteien überwiegend für verfassungsrechtlich zulässig erachtet.6 1 Verfassung der französischen Republik, abrufbar in deutscher Sprache unter: http://www.assemblee-nationale .fr/deutsch/8cb.asp#souveranitet. 2 Loi no 2000-493 du 6 juin tendant à favoriser l‘légal accès des femmes et des hommes aux mandats électoraux et fonctions électives, abrufbar unter: http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT0000004 00185&fastPos=1&fastReqId=349628527&categorieLien=id&oldAction=rechTexte. 3 Siehe im Einzelnen auch: Fiche de synthèse no 13: L’égal accés des femmes et des hommes électoraux et fontions électives, abrufbar unter: http://www2.assemblee-nationale.fr/decouvrir-l-assemblee/role-et-pouvoirs-de-l-assemblee -nationale/les-institutions-francaises-generalites/l-egal-acces-des-femmes-et-des-hommes-aux-mandatselectoraux -et-fonctions-electives2. 4 Siehe auch: Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 101. 5 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 101. 6 So etwa Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. IV, Art. 38 Rn. 108 (Stand: 10/2010); Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 6 Auch gibt es Überlegungen, verbindliche gesetzliche Bestimmungen der Geschlechterparität in das Wahlrecht zu übernehmen.7 Weder auf Bundes- noch auf Landes- oder Kommunalebene existieren aber solche zwingenden Paritätsvorgaben für die Kandidatenaufstellung der politischen Parteien. Eine „Soll-Bestimmung“ haben allerdings die Bundesländer Baden-Württemberg8 und Rheinland- Pfalz9 2013 in ihre Kommunalwahlgesetze aufgenommen. In § 9 Abs. 6 Kommunalwahlgesetz BW heißt es z.B.: „Männer und Frauen sollen gleichermaßen bei der Aufstellung eines Wahlvorschlags berücksichtigt werden. Dies kann insbesondere in der Weise erfolgen, dass bei der Reihenfolge der Bewerberinnen und Bewerber in den Wahlvorschlägen Männer und Frauen abwechselnd berücksichtigt werden. Die Beachtung der Sätze 1 und 2 ist nicht Voraussetzung für die Zulassung eines Wahlvorschlags.“ Es ist gefragt, ob eine verbindliche gesetzliche Regelung nach französischem Vorbild im Bundeswahlgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar wäre und welche Änderungen der Verfassung gegebenenfalls vorgenommen werden müssten.10 Nachfolgend werden die beiden wesentlichen Elemente des französischen Paritégesetzes auf ihre Übertragbarkeit in das deutsche Wahlrecht untersucht: Erstens geht es um die zwingend alternierenden Kandidatenlisten und die Nichtzulassung dieser Listen bei Paritätsverstoß sowie zweitens um die bindenden Paritévorgaben bei der Aufstellung von Wahlkreiskandidaten und die Kürzung der Parteienfinanzierung im Falle der Missachtung. 3. Alternierende Landeslisten Zur Verfassungsmäßigkeit zwingender gesetzlicher Vorgaben der Geschlechterparität bei der Aufstellung von Kandidatenlisten der politischen Parteien werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. In diesem Zusammenhang diskutierte Verfassungspositionen sind Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Wahlrechtsfreiheit und Wahlrechtsgleichheit), Art. 20 GG (Demokratieprinzip), Art. 21 Abs. 1 GG (innerparteiliche Demokratie und Parteienfreiheit) sowie Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 GG (Diskriminierungsverbot und Gleichstellungsgebot). 7 Siehe hierzu z. B. die folgenden Stellungnahmen zur Beratung von Landtagsfraktionen: Gaßner/Groth/Siederer & Kollegen, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer zwingenden paritätischen Besetzung von Wahllisten im Kommunalwahlrecht Baden-Württemberg im Auftrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Baden- Württemberg, abzurufen unter: http://www.bawue.gruene-fraktion.de/fileadmin/media/LTF/bawue_gruenefraktion _de/bawue_gruenefraktion_de/hilfsdokumente/gassner_paritaetisches_kommunalwahlrecht/gassner_paritaetisches _kommunalwahlrecht.pdf; Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen im Auftrag von Bündnis 90/Die Grünen Landtagsfraktion Thüringen, Juni 2014, abzurufen unter: http://gruene-fraktion.thueringen.de. 8 § 9 KomWG in der Fassung vom 16. April 2013. 9 § 15 KWG in der Fassung vom 8. Mai 2013; siehe hierzu im Einzelnen: Danzer, Paritätische Besetzung der kommunalen Parlamente, in: KommPWahlen 2013, S. 64 ff. 10 Siehe zum Ganzen auch , Möglichkeiten der paritätischen Besetzung des Bundestages mit beiden Geschlechtern, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 008/08. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 7 3.1. Wahlrechtsgrundsätze gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG Die Regelung könnte die in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG aufgestellten Wahlrechtsgrundsätze der freien und gleichen Wahl einschränken. „Wahl“ i. S. d. Art 38 Abs. 1 GG meint eine Abstimmung, durch die eine oder mehrere Personen aus einem größeren Kreis von Kandidaten ausgelesen werden.11 Die Wahlrechtsgrundsätze erstrecken sich auch auf das innerparteiliche Verfahren der Kandidatenaufstellung als erste Auslese von Kandidaten (Wahlvorbereitung).12 3.1.1. Eingriff in die Wahlfreiheit In erster Linie fordert die Freiheit der Wahl, dass jeder Wahlberechtigte sein aktives Wahlrecht ohne psychischen oder gar physischen Zwang ausüben kann.13 Neben diesem Kernbereich gehört zur Wahlfreiheit aber auch ein grundsätzlich freies Wahlvorschlagsrecht.14 Das Wahlvorschlagsrecht und damit die Wahlfreiheit wird nach einer Ansicht durch eine Paritätsregelung beschränkt, da die Parteien nicht mehr frei entscheiden könnten, welchen Kandidaten sie auf welchem Listenplatz aufstellen.15 Sie hätten vielmehr die gesetzliche Vorgabe der Parität zu beachten, damit - dem französischen Vorbild folgend - ihre jeweilige Landesliste überhaupt zur Bundestagswahl zugelassen werde. Zum Teil wird dieser Aspekt in der Literatur auch nur unter der Wahlrechtsgleichheit erörtert.16 3.1.2. Eingriff in die Wahlgleichheit Der Grundsatz der gleichen Wahl hat einen streng formalen Charakter.17 Er verlangt, dass jeder Wahlberechtigte sein aktives und passives Wahlrecht wie jeder andere Wahlberechtigte ausüben darf und jeder Wähler mit seiner Stimme grundsätzlich den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben muss.18 Dabei bezieht sich dieser Wahlgrundsatz ebenfalls auf das Wahlvorschlagsrecht.19 11 Morlok, in: Dreier, GG, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 38 Rn. 52. 12 Morlok, in: Dreier, GG, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 38 Rn. 60. 13 Strehlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 1 Rn. 20. 14 BVerfGE 47, 253, 282; 41, 399, 417. 15 So etwa Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14; in der älteren Literatur: Ebsen, Quotierung politischer Entscheidungsgremien durch Gesetz?, in: JZ 1989, S. 553 ff., S. 555. 16 Roth, in: Clemens/Umbach, Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. II, 2002, Art. 38 Rn. 77. 17 So z.B. BVerfGE 34, 81, 98; 41, 399, 413. 18 BVerfGE 47, 253, 277. 19 Morlok, in: Dreier, GG, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 38 Rn. 96. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 8 Mit einer gesetzlich bindenden Paritätsbestimmung für die Landeslisten der Parteien wird zum einen ein Eingriff in die aktive Wahlgleichheit gesehen, weil so keine Kandidaturmöglichkeit mehr jedes Parteimitgliedes mit gleichen Chancen für jeden Listenplatz bestünde.20 Die passive Wahlgleichheit sei umgekehrt dadurch beschränkt, dass bei der Listenaufstellung in bestimmten Konstellationen Kandidaten wegen ihres Geschlechts nicht auf einen bestimmten Listenplatz wählbar wären.21 3.1.3. Rechtfertigung der Eingriffe in Wahlrechtsfreiheit und -gleichheit Die Wahlrechtsgrundsätze nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG können durch den Gesetzgeber eingeschränkt werden.22 Allerdings besteht nur ein enger Spielraum für Differenzierungen; es ist ein strenger Maßstab anzulegen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass Durchbrechungen eines „zwingenden Grundes“ bedürften, d.h. ein besonderer rechtfertigender Grund vorliegen müsse.23 In der neuesten Rechtsprechung zum Wahlrecht hat es diese Vorgabe nochmals bestätigt.24 Danach darf der Gesetzgeber Abweichungen von den Wahlrechtsgrundsätzen zulassen, wenn sie durch die Verfassung legitimiert und wenn die Abweichungen zur Sicherung der mit einer demokratischen Wahl verfolgten staatspolitischen Ziele geboten sind.25 Sie unterliegen also letztlich einer qualifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung.26 In Bezug auf eine mögliche Rechtfertigung der geschilderten Eingriffe werden unterschiedliche Positionen vertreten: 20 So auch Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14. 21 So auch Ebsen, Quotierung politischer Entscheidungsgremien durch Gesetz?, in: JZ 1989, S. 553 ff., S. 555. 22 So zuletzt BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014 (Drei-Prozent-Sperrklausel) - 2 BvE 2/13 - Rn. 53. 23 Z.B. BVerfGE 12, 73, 77; 13, 243, 247; 20, 56, 116, 58, 177, 190, vgl. hierzu auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, Kommentar, 13. Aufl., 2014, Art. 38 Rn. 28. 24 BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014 – 2 BvE 2/13 - Rn. 53. 25 Z.B. BVerfGE 95, 408, 420; BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014 – 2 BvE 2/13 - Rn. 53.; vgl. hierzu auch Klein, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. IV, Art. 38 Rn. 85 (Stand:10/2010). 26 Vgl. auch Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 98. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 9 3.1.3.1. Meinung 1: Verhältnismäßiger Eingriff Zum Teil wird eine gesetzliche Listenquotierung für verfassungskonform erachtet, weil sich der Eingriff in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zugunsten anderer Verfassungsprinzipien rechtfertigen lasse.27 Hierzu wird Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG herangezogen, nach dem der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert. Da es an der Chancengleichheit von Kandidatinnen in tradierten Parteistrukturen, der hinreichenden Repräsentanz der weiblichen Bevölkerung im Parlament und damit an deren effektiven Einflussnahmemöglichkeiten auf politische Entscheidungen fehle, sei der Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze mit dem staatlichen Fördergebot zu rechtfertigen.28 Darüber hinaus fordere das Demokratieprinzip eine faire Chance auf eine realistische Spiegelung seiner Perspektiven und Interessen im Parlament.29 Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG setze die gleichberechtigte Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger voraus, die bei der derzeitig bestehenden Unterrepräsentanz von Frauen in Parlamenten auf allen staatlichen Ebenen (Bund, Länder und Kommunen) nicht gewährleistet sei.30 Darüber hinaus sei das innerparteiliche Demokratiegebot gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 20 GG ebenfalls als ein den Eingriff in Art. 38 GG rechtfertigendes Verfassungsprinzip heranzuziehen. Denn als Vorstufe für die spätere paritätische Zusammensetzung des Parlaments komme der gleichberechtigten Besetzung der Kandidatenlisten eine entscheidende Bedeutung zu.31 Bislang orientierten sich die Parteien nur zum Teil an dem Gedanken einer geschlechtergerechten demokratischen Teilhabe von Frauen und Männern an der politischen Herrschaftsausübung.32 Insgesamt genüge ein alle Parteien bindendes paritätisches Wahlrecht, wie es das französische Paritégesetz vorsehe, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Maßnahme sei geeignet zur Verwirklichung chancengleicher Mandate von Frauen und Männern im Parlament und auch erforderlich zur Erreichung dieses Ziels. Die parteiinterne Quote sei kein milderes Mittel, weil sie letztlich nicht ausreiche. Dies zeigten auch die gegenwärtigen Verhältnisse im Bundestag. Die 27 Siehe hierzu: Laskowski, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission 16/12 „Bürgerbeteiligung “ des Landtags Rheinland-Pfalz am 10. Februar 2012 – Thema: Gendergerechte Demokratie, abzurufen unter: http://www.landtag.rlp.de/landtag/vorlagen/2-41-16.pdf; Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 98; Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 48; so auch Gaßner/Groth/Siederer & Kollegen, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer zwingenden paritätischen Besetzung von Wahllisten im Kommunalwahlrecht Baden-Württemberg, S. 20. 28 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 98. 29 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 48. 30 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 97. 31 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 99. 32 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 10 Zahl der Parlamentarierinnen sei seit 1998 nicht signifikant angestiegen.33 Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ergebe sich aus einer Abwägung des Eingriffs in Art. 38 GG durch die Paritéregelung mit den genannten Verfassungsprinzipien.34 Allerdings wird von der die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlich bindenden Paritéregelung bejahenden Ansicht eine Öffnungsklausel oder Ausnahmeklausel zum verhältnismäßigen Ausgleich für geboten erachtet: In Ausnahmefällen könne ein Abweichen von der Quotierung zulässig sein, falls sich tatsächlich nicht genug Frauen zur Wahl stellten.35 Es könne nichts Unmögliches gesetzlich gefordert werden. Ergänzend wird zu den Möglichkeiten des Panaschierens36 und Kumulierens37, die zum Teil in Landes- bzw. Kommunalwahlgesetzen vorgesehen sind,38 vorgetragen, dass der Eingriff in die Wahlgleichheit hierdurch abgemildert werde, weil es bei ersterem dem Wähler ermöglicht werde, Bewerber und Bewerberinnen verschiedener Listen zu wählen und damit eine freie Liste vorliege, und bei letzterem der Wähler alle seine Stimmen nur an Kandidatinnen oder nur an Kandidaten vergeben könnte.39 So betrachtet, begünstigen diese Wahlrechtsmodalitäten also die Verhältnismäßigkeit einer Paritéregelung nach französischem Vorbild, weil sie die streng alternierende Liste „auflockern“. 3.1.3.2. Meinung 2: Verfassungswidrigkeit Die mehrheitlich in der verfassungsrechtlichen Literatur vertretene Gegenansicht sieht in gesetzlich angeordneten paritätischen Listen einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG.40 33 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 100, für die Landes- und Kommunalebene: Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 58. 34 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 62. 35 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 62. 36 Beim Panaschieren kann der Wähler seine Stimmen auf mehrere Wahlvorschläge verteilen (siehe Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 16). 37 Beim Kumulieren hat der Wähler mehrere, etwa drei Stimmen, die er innerhalb eines Wahlvorschlags einem einzigen Bewerber geben oder auf mehrere Bewerber verteilen kann (Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 16). 38 So z.B. Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 16. 39 Gaßner/Groth/Siederer & Kollegen, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer zwingenden paritätischen Besetzung von Wahllisten im Kommunalwahlrecht Baden-Württemberg, S. 13 f. 40 Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14; Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, abzurufen unter: http://www.landtag.rlp.de/landtag/vorlagen/2-32-16.pdf; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. IV, Art. 38 Rn. 108 (Stand: 10/2010); Roth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Bd. II, 2002, Art. 38 Rn. 79. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 11 Wegen der strengen Formalisierung der Wahlrechtsprinzipien könnten objektive Wertentscheidungen der Verfassung zugunsten der Frauenförderung in diesem Bereich keine Berücksichtigung finden. Nach dieser Auffassung wird die Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 2 GG im Rahmen des wahlrechtlichen Gleichheitssatzes unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Zweifel gezogen.41 Hilfsweise wird argumentiert, dass im Übrigen faktisch zahlenmäßige Ungleichheiten von Frauen und Männern bei der Wahllistenaufstellung ohnehin keine rechtlich relevante Ungleichbehandlung von Frauen gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 GG darstellten, die eine Differenzierung bei der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen könnten. Eine Rechtfertigung nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG scheitere an der Verhältnismäßigkeit; die gesetzlich verbindliche Quotenregelung für Kandidatenlisten stelle eine nicht durch andere Verfassungsprinzipien zu rechtfertigende Diskriminierung dar.42 Denn es fehle jedenfalls an der Erforderlichkeit: Rechtfertige der Verfassungsauftrag nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG trotz der geäußerten Bedenken gegen diese Betrachtung ausnahmsweise den Einsatz eines an sich verfassungswidrigen Mittels – nämlich die Anknüpfung an das Geschlecht – so dürfte dies nur dann erfolgen, wenn der staatliche Förderauftrag auf andere Weise nicht zu erfüllen wäre (ultima ratio). Dies sei bei gesetzlichen Quotenregelungen für Parteienkandidatenlisten zu verneinen, zumal die Unterrepräsentanz von Frauen im Bundestag, aber auch in den Landtagen mit einem Anteil von ein Drittel ungleich geringer sei als in Frankreich, wo der Anteil vor dem Parité-Gesetz bei nur 10,9 % gelegen habe.43 Auch das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) als weiteres Verfassungsprinzip könne nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden, weil die staatlichen Entscheidungen den Willen des Volkes repräsentieren müssten, das Parlament aber nicht das Volk in seiner Zusammensetzung zu spiegeln habe.44 Die bereits auf Landes- und Kommunalebene vielfach existierenden Möglichkeiten des Panaschierens und Kumulierens zur Stärkung des Wählereinflusses auf die Zusammensetzung des Parlaments seien das einfachere und verfassungsrechtlich unbedenklichere Mittel. So hätten es die Wähler in der Hand, Frauen auf der Liste zu bevorzugen.45 Die Existenz dieser Methoden im Wahlrecht könne jedoch in Kombination mit gesetzlichen Paritéregelungen für die Kandidatenlisten der Parteien nicht zur Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG führen, weil die Wirkung 41 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, abzurufen unter: http://www.landtag.rlp.de/landtag /vorlagen/2-32-16.pdf, S. 5. 42 Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14. 43 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 7. 44 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 11. 45 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 12 der Quotierung – wie von der Gegenansicht vorgetragen – auf diese Weise „abgemildert“ werde. Denn es bestehe auch die Möglichkeit, dass die Liste unverändert angenommen werde, wovon jedenfalls auf kommunaler Ebene bei größeren Wahlgebieten in stärkerem Maße Gebrauch gemacht werde.46 3.2. Parteienfreiheit gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG Eine gesetzliche Regelung, welche die Zulassung einer Wahlliste zur Bundestagswahl von einer verbindlichen Quotenregelung abhängig macht, könnte zudem die grundgesetzlich zugesicherte Parteienfreiheit beschränken. Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG umfasst i.V.m. Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG über den Wortlaut hinaus nicht nur die Freiheit der Gründung politischer Parteien als unantastbaren Kernbereich, sondern auch die Freiheit der parteimäßigen Betätigung.47 Es ist umstritten, ob gesetzliche Paritévorgaben für die Aufstellung von Kandidatenlisten einen Eingriff in diese Parteienautonomie darstellen. 3.2.1. Meinung 1: Ausgestaltung des innerparteilich geltenden Demokratiegebotes nach Art. 21 Abs. S. 3 GG Nach einer Ansicht stellt die Vorgabe keinen Eingriff dar, sondern ist lediglich eine inhaltliche Ausgestaltung des innerparteilichen Wahlsystems, welches nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG dem Demokratiegebot zu genügen habe. Dies bedeute auch die Ermöglichung einer effektiven demokratischen Teilhabe von Frauen auf die Ausübung staatlicher Gewalt durch die Staatsorgane, hier das Parlament. Dies müssten die Parteien durch ihre Strukturen im Sinne einer Chancengleichheit bei der Kandidatenaufstellung vorbereiten.48 3.2.2. Meinung 2: Eingriff in die Parteienfreiheit Zum Teil wird in verbindlichen gesetzlichen Paritéregelungen für die Listenaufstellung der Parteien dagegen ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Parteienfreiheit gesehen.49 3.2.3. Rechtfertigung des Eingriffs in die Parteienfreiheit Die Frage, ob die Paritéregelung für die Kandidatenlisten der Parteien nach französischem Vorbild als Eingriff in die Parteiautonomie gerechtfertigt werden kann, wird unterschiedlich beantwortet: 46 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 8. 47 Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 21 Rn. 280 (Stand: 01/2012). 48 Siehe Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunalund Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 36. 49 Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 13 3.2.3.1. Meinung 1: Verhältnismäßige Regelung Nach einer Ansicht handelt es sich um eine verfassungskonforme Maßnahme: Unterstelle man die Eingriffsqualität der Maßnahme, so sei diese verhältnismäßig. Zu dem Ergebnis gelange man unter Zugrundelegung der Argumentation zu Art. 38 GG im Sinne einer geeigneten, erforderlichen und angemessenen Regelung zur Verwirklichung anderer Verfassungsprinzipien aus Art 21 Abs. 1 S. 3 GG (innerparteiliche Demokratie) i. V. m. Art. 20 GG, Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG (staatliches Fördergebot) (s.o. 2.1.3.1).50 3.2.3.2. Meinung 2: Unverhältnismäßige Einschränkung Nach anderer Ansicht beschränkt eine gesetzlich bindende Paritéregelung für die Kandidatenaufstellung der Parteien in unverhältnismäßiger Weise den organisatorischen Gestaltungsspielraum der Parteien.51 Sie beeinflusse das inhaltlich-programmatische Profil einer Partei und verletzte hiermit ihre verfassungsrechtlich verbürgte Unabhängigkeit.52 Durch eine gesetzliche Quote könnten sich Parteien gezwungen fühlen, Kandidaten bzw. hier Kandidatinnen vorzuschlagen, die ihren Erfolg oder ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellten.53 Kleinere Parteien würden wegen geringerer Personalressourcen übermäßig belastet, Neugründungen, die programmatisch ein Geschlecht mehr anzögen, über Gebühr erschwert. 3.3. Spezieller Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Grundsätzlich ist es dem Staat nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG untersagt, jemanden wegen seines Geschlechts zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Mit einer gesetzlichen Quotierungsregelung könnte der einzelne Kandidat bei der Aufstellung der Wahllisten aufgrund seines Geschlechts nicht mehr auf jedem gewünschten Listenplatz kandidieren. Ihm wäre es einzig aufgrund seines Geschlechts verwehrt, auf einem Listenplatz zu kandidieren, der – zur Erreichung der Quote – nunmehr nur noch dem anderen Geschlecht offen steht. Eine Ansicht hält Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG im Kontext der Wahlrechtsgleichheit für anwendbar und argumentiert in Bezug auf die gesetzliche Quotierungsregelung wie auch in Bezug auf Art. 38 und 21 GG: Die Regelung stelle eine mit dem Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts vereinbare Maßnahme dar, weil sich die Ungleichbehandlung mit dem staatlichen Förderungsauftrag der 50 Laskowski, Pro Parité! Ohne gleichberechtigte Gesetze keine gleichberechtigte Gesellschaft, in: djbZ 2014, S. 93 ff., S. 100. 51 So etwa Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar , Bd. III, Art. 21 Rn. 353 Fn. 796 (Stand: 01/2012). 52 So etwa Roth, in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Bd. II, 2002, Art. 38 Rn. 79; Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz , Kommentar, Bd. III, Art. 21 Rn. 144 (Stand: 01/2012); siehe hierzu auch Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 7. 53 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 7 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 14 Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG rechtfertigen lasse.54 Nach der Gegenauffassung findet Art. 3 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit den streng formalisierten Wahlrechtsprinzipien nach Art. 38 GG keine Anwendung.55 4. Paritévorgaben für Wahlkreiskandidaten und Sanktionen bei der staatliche Parteien(teil)finanzierung 4.1. Gesetzliche Quotierung bei den Wahlkreiskandidaten der Parteien Überträgt man die Paritévorgaben nach französischem Vorbild im Bereich der Direktkandidatenaufstellung für die Bundestagswahlen, so könnten diese entweder alternativ oder kumulativ zur gesetzlichen Listenquotierung eingeführt werden. Auch für Paritévorgaben nach französischem Vorbild im Bereich der Direktkandidatenaufstellung bilden Art. 38 und 21 GG die zentralen verfassungsrechtlichen Prüfmaßstäbe. Die Frage einer Quotenregelung für diesen Bereich wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur aber kaum erörtert.56 Festzuhalten ist im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, dass die Maßnahme für den Bereich der Kandidatenaufstellung jedenfalls weniger einschneidend im Hinblick auf das Vorschlagrecht der Parteien ist als die gesetzliche Quotierung der Kandidatenlisten, weil ein Verstoß nicht zur Ungültigkeit des Wahlvorschlags führt. Die Parteien können also auch gegen die paritätischen Vorgaben verstoßen, ihre Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten bleiben wählbar. Letztlich wird deshalb auch von Befürwortern einer gesetzlichen Quotierung im Wahlrecht eingeräumt, dass sich das Mittel in Frankreich nach dem bestehenden System als wenig geeignet zur effektiven Umsetzung der Geschlechterparität in der Nationalversammlung erwiesen habe.57 Weiter ist für das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zu berücksichtigen, dass bei Parteien, die zahlreiche Wahlkreise direkt gewinnen, wegen der Anrechnung der Direktmandate auf die Listenplätze die Landesliste nicht mehr zum Zuge kommt. Die Paritévorgaben für die Landeslisten der Parteien gingen in diesem Falle ins Leere, wenn nicht kumulativ auch für die Direktkandidaten eine Quotierungspflicht – anders als nach dem französischen Modell – mit der Folge der Ungültigkeit des Vorschlags bei Verstoß gegen die Parität bestünde. Gegen eine solche Bestimmung dürften aber dieselben verfassungsrechtlichen Bedenken vorgetragen werden können wie in Bezug auf die gesetzliche Quotierung der Kandidatenlisten (s.o. 2.). 54 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunalund Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 52 ff. 55 Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl., 2013, § 27 Rn. 14. 56 So etwa bei Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 9; Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen , Juni 2014, S. 57 f. 57 Laskowski, Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gesetzlicher Paritéregelungen für Kommunalund Landtagswahlen in Thüringen, Juni 2014, S. 57 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 15 4.2. Sanktionen bei der Parteienfinanzierung In der Kürzung der Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung liegt unstreitig ein Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien.58 Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG herzuleiten.59 Es steht danach in engem Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Aus diesem Grund gilt grundsätzlich eine streng formale Gleichheit.60 Es besteht ein grundsätzliches Differenzierungsverbot, das nur durch einen besonders zwingenden Grund durchbrochen werden darf. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit führt daher bei dem Ermessen des Gesetzgebers zu besonders engen Grenzen.61 Der Staat darf vor allem die vorgefundene Wettbewerbslage nicht verfälschen.62 Des Weiteren ist anzuführen, dass die politischen Ziele der einzelnen Parteien (hierzu gehört auch die faktische Durchsetzung der Gleichberechtigung) für ihre Parteieigenschaft und damit den Genuss der damit vermittelten besonderen Rechte keine Rolle spielen.63 Sie können somit auch nicht als Unterscheidungskriterium für staatliche Zuwendungen herangezogen werden. Selbst Parteien, die offensichtlich das Ziel verfolgen, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, müssen bis zu einem Verbot durch das Bundesverfassungsgericht zunächst mit den übrigen Parteien gleich behandelt werden.64 Hieraus dürfte folgen, dass eine Kürzung staatlicher Mittel der Parteienfinanzierung erst Recht nicht an die personellen Aufstellungsregeln der Parteien in den Wahlkreisen – hier die Nichtparität – angeknüpft werden darf.65 Sofern die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Mittelkürzung bei nicht paritätischer Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen überhaupt in der Literatur erörtert wird,66 wird diese 58 Siehe zum Ganzen auch kritisch , Möglichkeiten der paritätischen Besetzung des Bundestages mit beiden Geschlechtern, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 008/08, S. 16 f. 59 So BVerfGE 85, 264, 296; 107, 286, 294; 111, 398; Herleitung str., siehe Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar , Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 21 Rn. 76 m. w. N. 60 Vgl. z. B. BVerfGE 104, 14, 20; 111, 382, 398. 61 Vgl. BVerfGE 73, 40, 88 f.; 82, 322, 337 f.; 85, 264, 297; 111, 382, 398. 62 Vgl. BVerfGE 69, 92, 109; 73, 40, 89; 85, 264, 297; 104, 287, 300; 111, 382, 398. 63 BVerfGE 47, 198 (223); Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 21 Rn. 38. 64 BVerfGE 39, 334 (357); Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, Art. 21 Rn. 358 (Stand: 01/2012). 65 Vgl. auch , Möglichkeiten der paritätischen Besetzung des Bundestages mit beiden Geschlechtern , Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 008/08, S. 17. 66 Laskowski als Befürworterin der Paritéregelungen für Parteilisten bewertet das französische Modell in Bezug auf die Wahlkreisregelung mit Mittelkürzungssanktion bei der staatlichen Parteienfinanzierung nur aus rein tatsächlicher Sicht kritisch, weil es nicht den gewünschten Erfolg in Bezug auf die paritätische Besetzung in der Nationalversammlung gezeigt habe (s.o. auch 3.1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 – 287/14 Seite 16 Einschätzung unter Berücksichtigung der dargelegten engen Grenzen eines Eingriffs in die Chancengleichheit der Parteien im Ergebnis bestätigt: Finanzielle Sanktionen verstießen gegen das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit, da sie in die Willensbildung des Volkes eingriffen und ohne besonders zwingenden Grund die Chancen der Parteien bei der Wahl veränderten , ggf. sogar das Entstehen neuer Parteien übermäßig erschwerten und die Betätigung kleiner Parteien unangemessen beeinträchtigten.67 Mitunter wird die Bewertung der Verfassungskonformität offengelassen: So weist ein Gutachten zur Zulässigkeit von Paritéregelungen auf Landesebene darauf hin, dass nur der Bund für eine Sanktionsregelung bei der Parteienfinanzierung die Gesetzgebungskompetenz besäße. Im Übrigen sei die konkrete Ausgestaltung einer neuerlichen umfassenden Begutachtung unter Berücksichtigung der von der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgestellten Grundsätze zur Parteienfinanzierung zu unterziehen.68 5. Grundgesetzänderung Während die allein einfachgesetzlich normierte Pflicht zur paritätischen Kandidatenaufstellung bei der Bundestagwahl und auch auf Landes- und Kommunalebene verfassungsrechtlich überwiegend kritisch bewertet wird (s.o. 2. bis 4.), dürften solche Bestimmungen jedoch nach einer Grundgesetzänderung vergleichbar der Regelung in der französischen Verfassung möglich sein. Eine solche Verfassungsänderung, die beispielsweise in Art. 38 Abs. 1 GG festschriebe, dass durch Gesetz der gleiche Zugang von Frauen und Männern zum Abgeordnetenmandat zu fördern sei, würde keinen Verstoß gegen die so genannte Ewigkeitsgarantie der Art. 79 Abs. 3, Art. 1, Art. 20 GG darstellen und wäre damit verfassungsrechtlich zulässig.69 67 Jutzi, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung „Gendergerechte Demokratie“ am 10. Februar 2012 in der Enquete 16/2 „Bürgerbeteiligung“ des rheinland-pfälzischen Landtages, S. 9. 68 Gaßner/Groth/Siederer & Kollegen, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer zwingenden paritätischen Besetzung von Wahllisten im Kommunalwahlrecht Baden-Württembergs. 24. 69 So auch , Möglichkeiten der paritätischen Besetzung des Bundestages mit beiden Geschlechtern , Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 008/08, S. 7.