© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 285/20 Erforderlichkeit eines Bundestagspolizeigesetzes Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 285/20 Seite 2 Erforderlichkeit eines Bundestagspolizeigesetzes Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 285/20 Abschluss der Arbeit: 14. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 285/20 Seite 3 1. Einleitung Der Sachstand befasst sich mit der Notwendigkeit einer formell-gesetzlichen Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Polizei beim Deutschen Bundestag.1 Die Frage ist in der Literatur seit langem umstritten . Die Rechtsprechung hat bisher keine Klärung gebracht. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht die Frage in einem Beschluss vom 9. Juni 2020 aufgeworfen, sie im Ergebnis jedoch offen gelassen.2 Für die Legitimation von Grundrechtseingriffen ist nach dem Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes eine formell-gesetzliche Grundlage erforderlich.3 Es gibt zurzeit keine parlamentsgesetzliche Grundlage für Eingriffe durch die Polizei beim Deutschen Bundestag. Zwar enthält die Dienstanweisung für den Polizeivollzugsdienst beim Deutschen Bundestag (DA-PVD) inhaltlich einschlägige Vorgaben. Dabei handelt es sich jedoch bloß um eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift, nicht um ein Gesetz.4 Auch im Bundespolizeigesetz sowie anderen Bundesgesetzen finden sich keine Ermächtigungsgrundlagen für konkrete Maßnahmen der Polizei beim Deutschen Bundestag.5 Infrage kommt somit aktuell nur der unmittelbare Rückgriff auf Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG als Ermächtigungsgrundlage . Nach Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG übt der Bundestagspräsident das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus. Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG enthält zunächst eine Aufgabenzuweisung an den Bundestagspräsidenten. So wird seine ausschließliche Zuständigkeit begründet, im Bereich des Bundestages für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Sorge zu tragen.6 Problematisch ist aber, ob Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG zugleich zu polizeilichem Eingriffshandeln ermächtigt , d. h. unmittelbar selbst Eingriffsbefugnisse begründet. 1 Für eine ältere umfassende Darstellung des Problems siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten, WD 3 - 3000 - 139/13. 2 BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2020, Az. 2 BvE 2/19, NVwZ 2020, 1102 (1103). 3 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 276 ff. 4 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2020, Az. 2 BvE 2/19, NVwZ 2020, 1102 (1103) m.w.N. 5 Vgl. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Werkstand: 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 170 f. 6 Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 138. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 285/20 Seite 4 2. Überwiegende Auffassung In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass polizeiliche Maßnahmen mit Eingriffscharakter unmittelbar auf Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG gestützt werden können.7 Dies soll für alle Arten polizeilichen Handelns, also für Polizeiverfügungen, Polizeiverordnungen und Realakte gleichermaßen gelten.8 Um den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsermächtigungen zu genügen bzw. Grenzen der Eingriffsbefugnisse des Präsidenten formulieren zu können, gehen Vertreter dieser Auffassung auf verschiedenen Wegen von einer Rückbindung an den Inhalt konkreter Polizeigesetze aus. So wird vertreten, dies sei durch einen Rückgriff auf die in den Landespolizeigesetzen und im Bundespolizeigesetz „im Wesentlichen übereinstimmend ausformulierten Grundsätze des Polizeirechts“ zu erreichen.9 Andere Vertreter dieser Auffassung meinen, Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG stelle eine „verfassungsunmittelbare polizeiliche Generalklausel“10 dar bzw. die Bestimmung rezipiere die polizeiliche Generalklausel.11 Dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz solle genügt sein, wenn sich der Bundestagspräsident bei der Ausübung der Polizeigewalt an diesen „herkömmlichen Grundsätzen des allgemeinen Polizeirechts orientiert“.12 7 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 169 ff.; Schliesky, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 40 Rn. 27; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, 200. EL September 2019, Art. 40 Rn. 302; ders., in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 45. Edition, Stand: 15. November 2020, Art. 40 Rn. 52; Lang, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Bd. 3, Stand: EL 3/20 Oktober 2020, Art. 40 Rn. 49; Wilrich, Der Bundestagspräsident, in: DÖV 2002, 152 (155); Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland und ihre Aufgaben im parlamentarischen Geschäftsgang, 2000, S. 267 f.; Köhler, Die Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten im deutschen Staatsrecht, in: DVBl. 1992, 1577 (1581); Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, 1963, S. 138 f.; Reinecke, Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten, 1959, S. 201. 8 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 169 ff.; Brocker, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, 200. EL September 2019, Art. 40 Rn. 302; Köhler, Die Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten im deutschen Staatsrecht, in: DVBl. 1992, 1577 (1581 f.); a. A. für den Erlass von Rechtsverordnungen hingegen Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, 1963, S. 139 f. 9 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 171. 10 Lang, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Bd. 3, Stand: EL 3/20 Oktober 2020, Art. 40 Rn. 49. 11 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Auflage 1986, S. 72. 12 Köhler, Die Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten im deutschen Staatsrecht, in: DVBl. 1992, 1577 (1581); i.E. ebenso Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Werkstand: 91. EL 2020, Art. 40 Rn. 171. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 285/20 Seite 5 3. Mindermeinung Im Gegensatz zur überwiegenden Auffassung sieht eine Mindermeinung in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG ausschließlich eine Aufgabenzuweisungsnorm, der sich Eingriffsbefugnisse nicht entnehmen ließen.13 Die Bestimmung enthalte weder selbst eine Eingriffsermächtigung zur Gefahrenabwehr, noch sei es aus rechtssystematischen Gründen zulässig, in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG eine rezipierte polizeiliche Generalklausel zu sehen.14 Aus einer derartigen Rezeption Eingriffsbefugnisse abzuleiten , sei mit dem Vorbehalt des Gesetzes nicht vereinbar. Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG lasse sich auch nicht grundrechtsdogmatisch stimmig als Ausnahmetatbestand gegenüber den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen einordnen.15 Nach dieser Auffassung besteht keine Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe in Ausübung der präsidialen Polizeigewalt. 4. Fazit Die überwiegende Auffassung in der Literatur sieht in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG eine ausreichende Rechtsgrundlage für polizeiliche Eingriffsmaßnahmen. Wie diese Frage gerichtlich entschieden würde, ist allerdings offen. Aus Gründen der größtmöglichen Rechtssicherheit könnte es daher angezeigt sein, eine hinreichend bestimmte, formell-gesetzliche Rechtsgrundlage zu schaffen. Letztlich dürfte es sich dabei vor allem um eine politische Entscheidung handeln. *** 13 Ramm, Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten, in: NVwZ 2010, 1461 (1465 f.); Friehe, Extragesetzliche Parlamentspolizei?, in: DÖV 2016, 521 (522); Dicke, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. 2, 2002, Art. 40 Rn. 53; Wehr, Bundespolizeigesetz, 2. Auflage 2015, § 9 Rn. 9. 14 Vgl. Ramm, Die Polizeigewalt des Bundestagspräsidenten, in: NVwZ 2010, 1461 (1465 f.); 15 Friehe, Extragesetzliche Parlamentspolizei?, in: DÖV 2016, 521 (523).