Zur Amtsbeendigung des Bundeskanzlers - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 285/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zur Amtsbeendigung des Bundeskanzlers Ausarbeitung WD 3 - 285/07 Abschluss der Arbeit: 25. Juli 2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung Am 7. Mai 1974 überreichte Bundespräsident Gustav Heinemann die Entlassungsurkunden an die Mitglieder der Regierung Willy Brandt und ersuchte den bisherigen Vizekanzler Walter Scheel, die Geschäfte bis zur Wahl eines Nachfolgers weiterzuführen . Am 16. Mai 1974 hat der Bundestag Helmut Schmidt zum neuen Bundeskanzler gewählt.1 2. Entlassung des Kanzlers und Stellung des Vizekanzlers Der Rücktritt des Bundeskanzlers ist zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt , als Selbstverständlichkeit aber zulässig.2 Dem Entlassungsverlangen des Bundeskanzlers hat der Bundespräsident zu entsprechen.3 Vizekanzler kann nach Art. 69 Abs. 1 GG nur sein, wer zugleich Bundesminister ist.4 Gemäß Art. 69 Abs. 2 GG endigt das Amt eines Bundesministers, sobald das Amt des Bundeskanzlers endet. Damit kann der Vizekanzler den Bundeskanzler nach dessen Rücktritt nicht vertreten und er wird auch nicht dessen Nachfolger.5 3. Gewählter und geschäftsführender Bundeskanzler Der neue Bundeskanzler wird nach Art. 63 Abs. 2 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten durch den Bundestag gewählt („gewählter Kanzler“). Bis zur Wahl eines Nachfolgers kann der Bundespräsident nach Art. 69 Abs. 3 GG einen sogenannten geschäftsführenden Bundeskanzler für die Zwischenzeit ernennen.6 Hierfür kommen 1 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Band I, S. 1228. 2 Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 2 Rn. 18. 3 Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 2 Rn. 19. 4 Vgl. Schnappauf, Die geschäftsführende Bundesregierung, Verwaltungsrundschau 1983, 78; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, Berlin, 1969, 38. 5 Vgl. Mager in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 3. Aufl., 1995, Art. 69 Rn. 15; Oldiges, Die interimistische Weiterführung der Amtsgeschäfte des Bundeskanzlers durch den Vizekanzler , Deutsches Verwaltungsblatt 1975, 81; Schnappauf, Die geschäftsführende Bundesregierung , Verwaltungsrundschau 1983, 78. 6 Vgl. Mager in: von Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 3. Aufl., 1995, Art. 69 Rn. 15; Busse in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, Stand April 2003, Art. 69, Rn. 16; Herzog in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Band IV, Stand Juni 2006, Art. 69 Rn. 46; Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 69 Rn. 6; Schröder in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2003, Band III, § 65 Rn. 46. - 4 - nach Art. 69 Abs. 3 GG der bisherige Bundeskanzler oder die bisherigen Bundesminister in Frage.7 4. Auswahl des geschäftsführenden Bundeskanzlers Grundsätzlich hat der Bundespräsident zunächst den bisherigen Bundeskanzler zu ersuchen, die Geschäfte weiterzuführen.8 Dieser ist nach dem Wortlaut des Art. 69 Abs. 3 GG verpflichtet, dem Ersuchen nachzukommen. Der ausscheidende Bundeskanzler könnte sich aber darauf berufen, dass die vorübergehende Fortführung der Geschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers unzumutbar sei. In diesem Fall ist umstritten, ob der Bundespräsident ein anderes Kabinettsmitglied um die Fortführung der Geschäfte ersuchen kann. Bejahte man eine entsprechende Befugnis des Bundespräsidenten, so hätte dieser einen Entscheidungsspielraum, die Gründe für die Unzumutbarkeit anzuerkennen. Dies könnte insoweit bedenklich sein, als das Parlament, und nicht der Bundespräsident den Kanzler „wählt“.9 Führt der bisherige Bundeskanzler die Geschäfte weiter, kann dies jedoch im Einzelfall zu einer evidenten Gefahr für die effiziente Staatsführung oder das Gemeinwohl führen.10 Unter Umständen dürfte es dem Bundespräsidenten daher sogar verwehrt sein, den bisherigen Bundeskanzler um die Geschäftsführung zu ersuchen .11 In diesem Fall hätte der Bundespräsident sein Ersuchen an den bisherigen Vizekanzler zu richten12, für dessen vorrangige Auswahl die Position und Funktionsnähe zum Amt des Bundeskanzlers sprechen.13 7 Vgl. Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3 Rn. 35. 8 Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3 Rn. 30. 9 Busse in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, Stand April 2003, Art. 69 Rn. 16; Oldiges , Die interimistische Weiterführung der Amtsgeschäfte des Bundeskanzlers durch den Vizekanzler , Deutsches Verwaltungsblatt 1975, 84. 10 Vgl. Herzog in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Band IV, Stand Juni 2006, Art. 69 Rn. 55; Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 69 Rn. 6. 11 Vgl. Brockmeyer in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 69 Rn. 6; Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3, Rn. 36; Hermes in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., 2006, Art. 69 Rn. 22; Schröder in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2003, Band III, § 65 Rn. 46. 12 Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3 Rn. 39. 13 Vgl. Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3 Rn. 39. - 5 - Die Spionageaffäre14 im unmittelbaren Wirkungskreis von Willy Brandt dürfte wohl zu einer erheblichen Verunsicherung der Öffentlichkeit und einem Vertrauensverlust in die Person des Bundeskanzlers geführt haben. Im Hinblick darauf dürfte es mit guten Gründen vertretbar gewesen sein, dass der Bundespräsident nicht den bisherigen Bundeskanzler , sondern den Vizekanzler um Fortführung der Geschäfte ersucht hat.15 Während seiner Zeit als geschäftsführender Bundeskanzler hat Walter Scheel folgende Amtsbezeichnungen verwandt: „geschäftsführender Bundeskanzler, Bundesminister Walter Scheel […] Walter Scheel, Bundesminister des Auswärtigen, mit der Führung der Geschäfte des Bundeskanzlers beauftragt“.16 5. Ergebnis Wird der Kanzler aus dem Amt entlassen, verliert sein Stellvertreter ebenfalls das Amt. Damit wird der Vizekanzler nicht automatischer Nachfolger des Kanzlers. Der Nachfolger wird vielmehr durch das Parlament gewählt. Für die Zwischenzeit kann der Bundespräsident den bisherigen Bundeskanzler oder nötigenfalls den bisherigen Vizekanzler zum sogenannten geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen. Im Hinblick auf den Spionageverdacht im Mitarbeiterstab des Bundeskanzlers dürfte es mit guten Gründen vertretbar gewesen sein, dass der Bundespräsident 1974 nicht den bisherigen Bundeskanzler, sondern den bisherigen Vizekanzler mit der vorübergehenden Übernahme der Geschäftsführung beauftragt hat. Mit der Übertragung der Geschäftsführung durch den Bundespräsidenten ist Walter Scheel nicht zum gewählten Bundeskanzler nach Art. 63 Abs. 1 GG geworden, sondern für eine Übergangszeit zum geschäftsführenden Bundeskanzler nach Art. 69 Abs. 3 GG. 14 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Band I, S. 1226. 15 Epping in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., 2005, Art. 69 Abs. 3 Rn. 36 bei Fn. 35. 16 Bulletin der Bundesregierung 1974, Nr. 57 vom 10. Mai 1974, S. 580; Beim Kanzlerwechsel Adenauer /Erhard 1963 und Erhard/Kiesinger (1966) erfolgte die Wahl des Nachfolgers am Tag nach dem Rücktritt des bisherigen Kanzlers ohne zwischenzeitliche Ernennung eines geschäftsführenden Kanzlers, Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Band I, S. 1223 und 1226. - 6 - In der Praxis hat der geschäftsführende Bundeskanzler Walter Scheel die Amtsbezeichnung „geschäftsführender Bundeskanzler, Bundesminister“ bzw. „Bundesminister des Auswärtigen, mit der Führung der Geschäfte des Bundeskanzlers beauftragt“ geführt.