Deutscher Bundestag „Vorsorgekonto“ als Basisprodukt der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge Gesetzgebungskompetenz des Bundes und Vereinbarkeit mit dem europäischen Wettbewerbsrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 2 „Vorsorgekonto“ als Basisprodukt der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge Gesetzgebungskompetenz des Bundes und Vereinbarkeit mit dem europäischen Wettbewerbsrecht Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Abschluss der Arbeit: 2. November 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung; WD 11: Europa Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 1.1. Modell eines Vorsorgekontos nach dem Diskussionspapier der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg 4 1.2. Prüfprogramm 5 2. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 6 2.1. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG 6 2.1.1. Öffentlich-rechtliche Organisationsform 7 2.1.2. Beitragsfinanzierung 7 2.1.3. Versicherungs- und Solidarprinzip 8 2.2. Artikel 105 Abs. 2 GG 10 2.3. Ergebnis 10 3. Vereinbarkeit mit Europäischem Wettbewerbsrecht 11 3.1. Anwendungsbereich des Europäischen Kartellrechts 11 3.1.1. Zwischenstaatlichkeitsklausel 11 3.1.2. Unternehmen 14 3.1.2.1. Europäischer Unternehmensbegriff 14 3.1.2.2. Die Rechtsprechung des EuGH zur Einordnung von Sozialversicherungsträgern als Unternehmen im Besonderen 15 3.1.2.3. Unternehmensbegriff im deutschen Wettbewerbsrecht 17 3.1.2.4. Zusammenfassung: Kriterien für die Einordnung als Unternehmen 18 3.2. Freiwilliges Vorsorgekonto bei der DRV im Anwendungsbereich des Europäischen Wettbewerbsrechts – Qualifizierung als Unternehmen? 19 3.3. Verpflichtendes Vorsorgekonto bei der DRV im Anwendungsbereich des Europäischen Wettbewerbsrechts – Qualifizierung als Unternehmen? 20 3.4. Folgen einer etwaigen Qualifizierung als Unternehmen 20 3.4.1. Kartell- und Missbrauchsverbot 20 3.4.2. Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse? 21 3.4.3. Europäisches Beihilfeverbot 22 3.4.3.1. Durch „Riester-Förderung“? 23 3.4.3.2. Durch Bundeszuschüsse nach § 213 SGB VI oder Quersubvention aus den Beiträgen der Pflichtversicherten? 24 3.5. Ergebnis 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 4 1. Einleitung Im Jahr 2010 wurde durch die Verbraucherkommission Baden-Württemberg die Schaffung eines „Vorsorgekontos“ vorgeschlagen, um ein einfaches und sicheres Basisprodukt im Vergleich zu den vielfach als zu teuer und intransparent empfundenen staatlich geförderten Altersvorsorgeprodukten , die unter dem Stichwort „Riester-Rente“ zusammengefasst sind, zu etablieren.1 Die 7. Verbraucherschutzministerkonferenz am 16. September 2011 in Bremerhaven erteilte sodann dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz den Auftrag, die Einführung eines Basisprodukts für die staatliche Altersvorsorge in Form eines Vorsorgekontos zu prüfen.2 In Ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen führte die Bundesregierung im September 2012 zum Ergebnis der von der Verbraucherministerkonferenz geforderten Prüfung unter anderem aus, dass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Einführung eines staatlichen nicht obligatorischen kapitalgedeckten Altersvorsorgekontos zweifelhaft sei.3 Ferner sei auch die Zulässigkeit eines solchen staatlichen Produkts, das in Konkurrenz zu privaten Altersvorsorgeangeboten treten würde, im Hinblick auf das europäische Wettbewerbsrecht fraglich.4 1.1. Modell eines Vorsorgekontos nach dem Diskussionspapier der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg hat im Rahmen eines Diskussionspapiers modellhaft die Konzeption eines Vorsorgekontos umrissen.5 Danach könnte das Vorsorgekonto folgende Struktur aufweisen: Die bereits vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten zum Rückkauf von Rentenabschlägen gemäß § 187a SGB VI sollen um die Möglichkeit des Sparens erweitert werden.6 Neben der bestehenden Option, Abschläge bei Altersrenten durch eine Einmalzahlung abzuwenden, sieht das Modell vor, die regelmäßige Zahlung zusätzlicher Beiträge über das gesamte Versicherungsleben zuzulassen.7 Ferner soll auch die Einzahlung von Sparbeiträgen im Bereich der Erwerbsminde- 1 Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz, Pressemitteilung Nr. 243/2010, online abrufbar unter http://www.verbraucherkommission.de/servlet/PB/show/2922704/10_09_13%20PM%20Verbraucher kommission_MLR%20Altersvorsorge%2013_09_10.pdf (zuletzt abgerufen am 2. November 2012). 2 Ergebnisprotokoll der 7. Verbraucherschutzministerkonferenz, TOP 16, online abrufbar unter http://www.senatspresse stelle.bremen.de/detail.php?gsid=bremen146.c.44588.de (zuletzt abgerufen am 2. November 2012). 3 Antwort der Bundesregierung, Drs. 17/10889, S. 11. 4 Antwort der Bundesregierung, Drs. 17/10889, S. 11. 5 Hubert Seiter, Claudia Tuchscherer, DRV Baden-Württemberg, „Vorsorgekonto“ bei der DRV – sinnvolle Ergänzung bestehender Altersvorsorgeprodukte zur Bekämpfung künftiger Altersarmut?, Diskussionspapier (im Folgenden Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV). 6 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8. 7 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 5 rungsrenten ermöglicht werden, damit Abschläge im Fall einer vorzeitigen Erwerbsminderungsrente durch deren Rückkauf ganz oder teilweise kompensiert werden können.8 Dabei wird erwogen , dass der Aufwand, der für den Ausgleich der Abschläge im Bereich der Erwerbsminderungsrente aufgebracht werden müsste, von allen Vorsorgesparern getragen wird.9 Wenn keine Erwerbsminderung eintritt oder keine vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente erfolgt, soll eine Verrentung des angesparten Vorsorgevermögens in Form einer zusätzlichen monatlichen Altersrente erfolgen. Das angesparte Guthaben soll vererbbar und steuerfrei sein, die Rentenzahlung selbst unterläge jedoch wie auch die Zahlungen der privaten geförderten Altersvorsorge der nachgelagerten Besteuerung.10 Die Geldanlage soll kapitalgedeckt, jedoch ohne Gewinnerzielungsabsicht und im Rahmen der §§ 80 ff. SGB IV erfolgen. Die Spareinlagen wären somit mündelsicher anzulegen und so zu verwalten , dass ein angemessener Ertrag erzielt wird sowie eine ausreichende Liquidität gewährleistet ist.11 Hierzu zählen Sichteinlagen auf Girokonten, Termingeldanlagen, Spareinlagen, Inhabersparbriefe und Termin- oder Festgeldanlagen. Ferner wird in dem Diskussionspapier davon ausgegangen, dass die DRVen eine organisatorische Trennung zwischen den Bereichen des kapitalgedeckten „Vorsorgevermögens“ und der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung vornehmen müssten.12 Um die Attraktivität des Vorsorgekontos zu erhöhen, sieht das Modell vor, dass die Möglichkeit einer staatlichen Förderung im Bereich des Steuerrechts entsprechend der sogenannten „Riester- Rente“ eröffnet wird.13 Die Tätigkeit der DRV bei der Verwaltung des Vorsorgekontos soll der Aufsicht der BaFin unterliegen .14 1.2. Prüfprogramm Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf den zuvor dargestellten Eckpunkten des Diskussionspapiers der DRV Baden-Württemberg. Untersucht werden zum einen die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Einführung eines sogenannten „Vorsorgekontos“ als Basisprodukt im Rahmen der staatlich geförderten privaten Altersversorgung (2.) sowie zum anderen dessen Vereinbarkeit mit dem europäischen Wettbewerbsrecht (3). 8 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8. 9 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8 f. 10 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 11. 11 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 10. Vgl. zu den gesetzlichen Vorgaben zu Anlage und Verwaltung der Mittel im Einzelnen: Pohl, in: Kreikebohm SBG IV, 1. Auflage 2008, § 80 Rn. 5 - 15. 12 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 10. 13 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 11. 14 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 6 Die vorliegende Ausarbeitung wurde gemeinschaftlich von den Fachbereichen WD 3 (Verfassung und Verwaltung) und WD 11 (Europa) erstellt. Die Bearbeitung des Gliederungspunktes 2. erfolgte durch WD 3, die des Gliederungspunktes 3. durch WD 11. 2. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Gemäß Artikel 70 Abs. 1 GG steht grundsätzlich den Ländern das Gesetzgebungsrecht zu, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund für bestimmte Bereiche eine Gesetzgebungskompetenz verleiht. Eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die zu regelnde Materie ist nicht ersichtlich. Es könnte jedoch eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gegeben sein. Dies setzt voraus, dass einer der Kompetenztitel aus Artikel 74 Abs. 1 GG einschlägig ist. Vorliegend könnte sich das Recht des Bundes, Regelungen zum Vorsorgekonto zu treffen, aus der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiete der „Sozialversicherung“ gemäß Artikel 72 GG in Verbindung mit Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergeben. Soweit das Vorsorgekonto steuerlich entsprechend der sogenannten „Riester-Rente“ gefördert werden soll, könnte das Gesetzgebungsrecht des Bundes aus Artikel 105 Abs. 2 GG abzuleiten sei. 2.1. Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG „Sozialversicherung“ im Sinne des Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein verfassungsrechtlicher „Gattungsbegriff, der alles umfasst, was sich der Sache nach als Sozialversicherung darstellt“.15 Er ist zukunftsoffen16, indem er erlaubt, neue Sozialleistungen in das Gesamtsystem einzubeziehen, wenn diese in ihren wesentlichen Strukturelementen, insbesondere in der organisatorischen Durchführung und hinsichtlich der abzudeckenden Risiken, dem Bild entsprechen, das durch die klassische Sozialversicherung im Sinne einer gemeinsamen Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit geprägt ist.17 Kennzeichnend ist dabei zum einen die Art und Weise, wie die Aufgabe organisatorisch bewältigt wird, nämlich durch Sozialversicherungsträger , die als selbstständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts ihre Mittel durch Beiträge aufbringen und zum anderen, die Verwirklichung der Elemente „sozial“ und „Versicherung“.18 15 BVerfGE 11, 105 (112); BVerfGE 75, 108 (146); BVerfGE 87, 1 (34). 16 Vgl. Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, 6. Auflage 2012, Art. 74 Rn. 55; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Auflage 2010, Art. 74 Rn. 105. 17 BVerfGE 87, 1 (34) m.w.N.; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Auflage, 2011, Art. 74 Rn. 149. 18 BVerfGE 113, 167 (197). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 7 Der höchstrichterlichen Rechtsprechung lassen sich zur Auslegung des Sozialversicherungsbegriffes im Sinne des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 12 GG vier Kriterien entnehmen: - die Einbindung in eine öffentlich-rechtliche Organisationsform, - die Beitragsfinanzierung, - das Versicherungs- und - das Solidarprinzip. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist stets zu vergegenwärtigen, dass es keine Frage der Gesetzgebungszuständigkeit nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG darstellt, in welcher konkreten Weise ein Sozialversicherungssystem ausgestaltet ist.19 2.1.1. Öffentlich-rechtliche Organisationsform Die Einbindung des Vorsorgekontos in eine öffentlich-rechtliche Organisationsform hängt entscheidend von der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung ab. Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts.20 Soweit das Vorsorgekonto bei den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung angesiedelt werden sollte, wäre die Einbindung in eine öffentlich-rechtliche Organisationsform gegeben. Nach der Modellskizze der DRV Baden-Württemberg soll das Vorsorgekonto organisatorisch der gesetzlichen Rentenversicherung zugeordnet werden. Neben der bereits „bestehenden Möglichkeit , Abschläge bei Altersrenten durch eine Einmalzahlung abzuwenden“, soll durch das Vorsorgekonto „die regelmäßige Zahlung zusätzlicher Beiträge über das gesamte Versicherungsleben“ zugelassen werden, was durch eine entsprechende Ergänzung des § 187a SGB VI um „die Möglichkeit des Sparens“ zu erreichen wäre.21 2.1.2. Beitragsfinanzierung Der Kompetenztitel „Sozialversicherung“ ist nur einschlägig, sofern die ausgekehrten Leistungen überwiegend durch Beiträge finanziert werden.22 Sozialversicherung ist somit die Vorsorge im Hinblick auf zukünftige Lebenslagen, wie das Alter, und bestimmte Risiken, etwa Arbeitslosigkeit , Krankheit, Invalidität oder Pflegebedürftigkeit, mit versicherungstechnischen Instrumenten, vornehmlich finanziert durch Beiträge der Versicherten.23 Davon abzugrenzen sind diejenigen Sozialleistungsbereiche, die durch Steuern finanziert werden.24 19 BVerfGE 109, 96 (109 f.). 20 Preis, in: Preis/Fuchs, Sozialversicherungsrecht, 1. Auflage, 2005, S. 659. 21 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8. 22 BVerfGE 75, 108 (116 f.). 23 Muckel, Sozialrecht, 1. Auflage, 2003, § 4 Rn. 3. 24 Muckel, Sozialrecht, 1. Auflage, 2003, § 4 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 8 Das von der DRV Baden-Württemberg skizzierte Modell des Vorsorgekontos schlägt zur Finanzierung die regelmäßige Zahlung zusätzlicher Beiträge über das gesamte Versicherungsleben vor.25 Dies entspricht dem Grundsatz der Beitragsfinanzierung im Bereich der Sozialversicherung.26 Dass sich die Beitragszahlung nicht an einen bestimmten Personenkreis richtet bzw. an eine Notlage gebunden ist, steht dem nicht entgegen.27 2.1.3. Versicherungs- und Solidarprinzip Das Versicherungsprinzip verlangt nach gemeinsamer Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit.28 Da die „klassische Sozialversicherung“ selbst inzwischen nicht mehr durch das Versicherungsprinzip in Reinform geprägt ist, sind an dessen Vorliegen keine zu strengen Anforderungen zu stellen.29 So kann im Bereich der Sozialversicherung, anders als in der Privatversicherung, keine strikte Bindung an ein Versicherungsrisiko gefordert werden.30 Charakteristisch ist vielmehr, dass das Prinzip des versicherungsrechtlichen Risikoausgleichs sozial modifiziert und mit Elementen der öffentlichen Fürsorge verbunden wird.31 Inwieweit der Verwirklichung von Versicherungs- und Solidarprinzip bei der konkreten Ausgestaltung der Finanzierung einer Sozialleistung Rechnung getragen wird, ist für die Frage der Gesetzgebungszuständigkeit indes nicht entscheidend. Halten sich die gesetzgeberischen Regelungen sachlich -gegenständlich im Kompetenzbereich Sozialversicherung, sind kompetenzrechtlich auch die zur Finanzierung getroffenen Regelungen des Beitrags- und Finanzausgleichsrechts unbedenklich.32 Die Einzahlungen auf das Vorsorgekonto wirken sich auf den Rentenanspruch der Vorsorgesparer aus, indem Rentenabschläge mittels der eingezahlten Sparbeiträge „zurückgekauft“ werden. Damit dürfte nicht nur eine organisatorische, sondern auch eine sachliche Zuordnung zur gesetzlichen Rentenversicherung und damit zur Sozialversicherung gegeben sein.33 Infolgedessen, vermag die konkrete Ausgestaltung der Finanzierung im Hinblick darauf, in welchem Umfang sie dem Versicherungs- und dem Solidarprinzip Rechnung trägt, keinen maßgeblichen Einfluss auf die Frage der Gesetzgebungskompetenz zu nehmen. Jedoch muss das Modell des Vorsorgekontos zumindest zu einem gewissen Teil sowohl Elemente des Versicherungs- als auch des Solidar- 25 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 8. 26 Vgl. BVerfGE 75, 108; (146 f.); BVerfGE 109, 96 (110). 27 BVerfGE 11, 105 (113); BVerfGE 75, 108 (146). 28 BVerfGE 75, 108 (146). 29 Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Auflage, 2010, Art. 74 Rn.105: „Den Bundesgesetzgeber an den Fiktionen eines ‚Versicherungscharakters der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung festzuhalten, hieße im Ergebnis, das System der sozialen Sicherung auf Dauer zur Reformunfähigkeit zu verdammen“. 30 BVerfGE 11, 105 (114). 31 BVerfGE 113, 167 (196); vgl. auch BVerfGE 79, 223 (236 f.). 32 BVerfGE 113, 167 (197); ebenso bereits BVerfGE 75, 108 (148). 33 Vgl. BVerfGE 87, 1 (34) zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 9 prinzips enthalten. Dabei kommt es aber nicht darauf an, dass beide gleichermaßen zur Geltung gelangen, weil für die Geltung eines Hälftigkeitsgrundsatzes zwischen den Elementen „Sozial“ und „Versicherung“ im Text der Kompetenznorm jeder Anhaltspunkt fehlt.34 Das Versicherungsprinzip fordert eine Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung.35 Dieses Prinzip wird den Eckwerten des Diskussionspapiers der DRV Baden-Württemberg zufolge insoweit verwirklicht, als die Beitragszahlung auf ein Vorsorgekonto den Bezug einer Alters- oder Erwerbsminderungsrente in Abhängigkeit von der Höhe des angesparten Vermögens abschlagsfrei beziehungsweise mit geringeren Abschlägen ermöglicht.36 Kommt es nicht zum Eintritt einer Erwerbsminderung oder der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente, soll das durch Beiträge angesparte „Vorsorgevermögen“ verrentet werden. Der Vorsorgesparer bekäme daher in Abhängigkeit der Höhe seines durch eigene Beiträge angesparten „Vorsorgevermögens“ monatlich eine weitere Rente zusätzlich zur gesetzlichen Altersrente ausbezahlt.37 Das untersuchte Modell des Vorsorgekontos weist daher hinsichtlich der Finanzierung eindeutige Elemente des Versicherungsprinzips auf. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts basiert die Sozialversicherung jedoch nicht allein auf dem Versicherungsprinzip, sondern weist auch das Element der staatlichen Fürsorge auf.38 Sie beinhaltet einen nach Maßgabe des Solidarprinzips ausgestalteten sozialen Ausgleich und geht damit über die reine Risikoabsicherung nach dem Versicherungsprinzip hinaus.39 Das Solidarprinzip ermöglicht somit soziale Sicherheit jenseits des Grundsatzes der Beitragsäquivalenz. Soweit im Bereich des Vorsorgekontos die Beitragshöhe nicht nach Alter, Geschlecht oder gesundheitlichen Risiken bemessen würde, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wäre die versicherungsmathematische Äquivalenz zwischen Beitrag und Risiko zugunsten des Solidarprinzips durchbrochen. Nach der Modellskizze der DRV Baden-Württemberg soll die Höhe der Beiträge zum Vorsorgekonto nach einem prozentualen Anteil vom Bruttoeinkommen bemessen werden.40 Entscheidend für die Beitragshöhe wäre folglich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Vorsorgesparers und nicht die Größe des individuellen Versicherungsrisikos. Vor diesem Hintergrund weist das skizzierte Modell des Vorsorgekontos auch typische Elemente des Solidarprinzips in der Sozialversicherung auf. Sofern für den Bereich der Erwerbsminderungsrenten ferner festgelegt werden würde, dass der finanzielle Aufwand, der für den Ausgleich der Abschläge aufgebracht werden muss, von allen 34 BVerfGE 113, 167 (197). 35 BVerfGE 79, 87 (101). 36 Vgl. Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 9. 37 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 9. 38 BVerfGE 11, 105 (114); BVerfGE 76, 256 (301). 39 BVerfGE 14, 312 (317); BVerfGE 22, 241 (253); BVerfGE 48, 346 (358). 40 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 10 Vorsorgesparern zu tragen ist, käme auch dadurch der Solidargedanke der gesetzlichen Regelung zum Ausdruck. 2.2. Artikel 105 Abs. 2 GG Im Hinblick auf die in der Modellskizze der Rentenversicherung Baden-Württemberg vorgesehene steuerliche Förderung des Vorsorgekontos entsprechend der bestehenden Förderung der sogenannten „Riester-Rente“ könnte sich die Regelungskompetenz des Bundes aus Artikel 105 Abs. 2 GG ergeben. In der Modellskizze der DRV Baden-Württemberg wird vorgeschlagen, die Attraktivität des Vorsorgekontos zu erhöhen und seine Verbreitung zu fördern, indem die Förderung der sogenannten „Riester-Rente“ auf das skizzierte Modell ausgeweitet wird.41 Diese Förderung könnte durch eine Anpassung des Einkommensteuergesetzes42 (EStG) erreicht werden. Die Gesetzgebungskompetenz für Änderungen in der Erhebung der Einkommensteuer dürfte sich aus Artikel 105 Abs. 2 GG ergeben. Danach hat der Bund die Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 vorliegen. Das Aufkommen der Einkommensteuer steht nach Artikel 106 Abs. 3 GG zum Teil dem Bund zu. Die Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung ergibt sich also aus Artikel 105 Abs. 2 2. Alt. i. V. m. Artikel 106 Abs. 3 S. 1 und 2 GG. Auf die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung im gesamtstaatlichen Interesse nach Artikel 105 Abs. 2 3. Alt. i. V. m. Artikel 72 Abs. 2 GG kommt es damit nicht an.43 2.3. Ergebnis Dem Bund dürfte nach vorläufiger Bewertung die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zum Erlass gesetzlicher Regelungen zur Einführung eines Vorsorgekontos zustehen, sofern sie sich an den Eckwerten des Modells der DRV Baden-Württemberg orientieren. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich auf der Grundlage des vorgelegten Modells aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, da die Schaffung der gesetzlichen Grundlagen des Vorsorgekontos in den Bereich der „Sozialversicherung “ einzuordnen sein dürfte. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Einführung einer steuerrechtlichen Förderung des Vorsorgekontos entsprechend den Bestimmungen zur sogenannten „Riester-Rente“ dürfte aus Artikel 105 Abs. 2 GG abzuleiten sein. Auf die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung käme es im Zusammenhang mit einer Berufung auf die Kompetenztitel aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Artikel 105 Abs. 2 GG nicht an. Eine abschließende Beurtei- 41 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, S. 11. 42 Einkommensteuergesetz (EStG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Oktober 2009 (BGBl. I S. 3366, ber. I 2009 S. 3862), zuletzt geändert durch Art. 3 Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes und von steuerlichen Vorschriften vom 8. Mai 2012 (BGBl. I S. 1030). 43 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Auflage, 2011, Art. 105, Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 11 lung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes kann jedoch erst auf der Grundlage eines konkreten Gesetzesentwurfs erfolgen. 3. Vereinbarkeit mit Europäischem Wettbewerbsrecht Europarechtliche Bedenken hinsichtlich der Einführung eines Vorsorgekontos könnten sich insbesondere aus wettbewerbs- und beihilferechtlicher Perspektive ergeben. Entsprechend wird zunächst untersucht, ob die Errichtung und Verwaltung eines Vorsorgekontos bei der DRV44 in den Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts fällt (3.1.), um dann im Einzelnen zu prüfen, ob die Errichtung und Verwaltung eines freiwilligen (3.2.) bzw. eines verpflichtenden (3.3) Vorsorgekontos bei der DRV eine unternehmerische Tätigkeit und damit dem Wettbewerbsrecht unterworfen wäre. Im Anschluss wird auf die Folgen einer Qualifizierung als Unternehmen im Zusammenhang mit dem Kartell- und dem Beihilferecht eingegangen (3.4.). 3.1. Anwendungsbereich des Europäischen Kartellrechts Das europäische Wettbewerbsrecht ist in den Art. 101 ff. AEUV45 normiert. Zusammen mit den Grundfreiheiten46 sollen die Regelungen den freien Wirtschaftsverkehr im europäischen Binnenmarkt sicherstellen.47 Das Wettbewerbsrecht knüpft dabei an private Verhaltensweisen an und dient dazu, den funktionierenden Wettbewerb zwischen autonom entscheidenden Privaten nicht zu verfälschen.48 Fraglich ist zunächst, ob die Errichtung und Verwaltung eines (verpflichtenden oder freiwilligen) Vorsorgekontos bei der DRV überhaupt in den Anwendungsbereich des europäischen im Gegensatz zum nationalen Wettbewerbsrecht fällt. 3.1.1. Zwischenstaatlichkeitsklausel Grundsätzlich hat das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbar und gegenüber widerstreitendem innerstaatlichem Recht Vorrang.49 Dieser Vorrang des Unionsrechts gilt im Grundsatz 44 Der Begriff der DRV wird vorliegend übergreifend für die Rentenversicherungsträger auf Bundes- und auf Regionalebene verwendet. Einen Überblick über Struktur der gesetzlichen Rentenversicherung bieten Ruland/Dünn, Die Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung – Ein Überblick, NZS 2005, 113, 115ff. 45 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union i.d.F. des Vertrages von Lissabon vom 9.5.2008 (ABl. C 83/47 vom 30.3.2010). Das Amtsblatt der EU ist online abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/RECH_reference_pub.do (zuletzt abgerufen am 2. November 2012). 46 Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV); Personenverkehrsfreiheiten (Art. 45 ff.; Art. 49 ff.; Art. 56 ff. AEUV); Kapitals - und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV). 47 Frenz, Handbuch des Europarechts, Band 2, Europäisches Kartellrecht, 2006, Rn. 267 (S. 103). 48 Frenz, Kartellrecht, a.a.O., Rn. 269 (S. 104). 49 St. Rsprg. seit EuGH, Rs. 6/64 (Costa ./. ENEL), Slg. 1964, 1259 (Die Entscheidungen des EuG und des EuGH sind online abrufbar nach dem Aktenzeichen unter http://eur-lex.europa.eu/RECH_recueil.do oder nach der Fundstelle in Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 12 auch im Verhältnis von europäischem und deutschem Wettbewerbsrecht (vgl. Art. 3 Abs. 2 Kartellverfahrensverordnung 50).51 Der Anwendungsvorrang des europäischen Wettbewerbsrechts gilt aber nur in dessen Anwendungsbereich. Dieser ist dann eröffnet, wenn die fragliche wettbewerbsbeschränkende Maßnahme geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (Zwischenstaatlichkeitsklausel, Art. 101, 102 und 107 AEUV). Die Zwischenstaatlichkeitsklausel hat dabei eine doppelte Funktion: Zum einen ist sie materielles Tatbestandsmerkmal und wäre als solches erst im Anschluss an die anderen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen Vorschrift zu prüfen. Zum anderen bestimmt und begrenzt sie aber auch den Anwendungsbereich des EU-Wettbewerbsrechts insofern, als dass wettbewerbsbeschränkende Verträge und Missbräuche marktbeherrschender Stellungen dann nicht am Maßstab des EU- Kartellrechts zu messen sind, wenn ihnen die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels fehlt. Solche Maßnahmen wären dann allein am nationalen Wettbewerbsrecht zu messen. Die Prüfung der Zwischenstaatlichkeitsklause kann danach auch – wie hier – ganz am Anfang erfolgen.52 Die Zwischenstaatlichkeitsklausel wird in der Rechtsprechung des EuGH53 und auch von der Kommission54 in der Regel weit ausgelegt. So genügt es, dass sich „anhand einer Gesamtheit objektiver , rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen kann.“55 Teilweise heißt es auch, dass eine Vereinbarung geeignet sein müsse, „die Freiheit des Handels zwischen den Mitgliedder Sammlung der Rechtsprechung unter http://eur-lex.europa.eu/RECH_recueil.do; zuletzt abgerufen am 2. November 2012). 50 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (Text von Bedeutung für den EWR) ABl. L 1 vom 4.1.2003, zuletzt geändert durch VO (EG) 1419/2006 vom 25.9.2006, ABl. L 269, 1 vom 28.9.2006; konsolidierte Fassung abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2003R0001:20061018:DE:PDF (zuletzt abgerufen am 2. November 2012). In der Kartellverfahrensverordnung ist das Verfahren zur Durchsetzung der Wettbewerbsregeln geregelt. Die behördliche Durchsetzung der Wettbewerbsregeln obliegt danach grundsätzlich der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden nebeneinander. Eine Zuständigkeit der Kommission ergibt sich aber selbstverständlich nur im Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts, also dann wenn die Zwischenstaatlichkeitsklausel erfüllt ist. 51 Zum Rangverhältnis zwischen europäischem und deutschem Wettbewerbsrecht vgl. Emmerich, Kartellrecht, 2011, S. 48 ff. 52 Zum Prüfungsstandort der Zwischenstaatlichkeitsklausel vgl. Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage, 2012, Art. 101 Abs. 1 AEUV, Rn. 194 m.w.N. 53 Vgl. schon EuGH, Rs. 56/65 (Maschinenbau Ulm), Slg. 1966, 281, 303. (Der Gerichtshof der Europäischen Union setzt sich zusammen aus dem Gerichtshof „im engeren Sinn“ (EuGH) und dem Gericht (vormals Gericht erster Instanz - EuG), vgl. Art. 251 ff. AEUV.) 54 Vgl. Bekanntmachung der Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004/C 101/07, S. 81ff. (im Folgenden Leitlinien der Kommission). 55 EuGH, Rs. 56/65 (Maschinenbau Ulm), a.a.O., 303. Vgl. auch Leitlinien der Kommission, a.a.O., Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 13 staaten in einer Weise zu gefährden, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen Marktes nachteilig sein können“.56 Insgesamt ist aber nach Rechtsprechung und Kommissionspraxis davon auszugehen, dass es ausreichend ist, wenn der Handel sich ohne die in Rede stehende Maßnahme generell anders entwickeln würde.57 Die Zwischenstaatlichkeitsklausel wäre danach sowohl erfüllt, wenn es zu einer grenzüberschreitenden Hemmung von Handelsströmen käme, als auch dann, wenn der grenzüberschreitende Handel gefördert würde. Entsprechend sind nur solche Wettbewerbsbeschränkungen dem Anwendungsbereich des AEUV entzogen, die lediglich lokale oder regionale Bedeutung haben, während sämtliche Wettbewerbsbeschränkungen mit überregionaler Bedeutung auch der europarechtlichen Wettbewerbskontrolle unterliegen.58 Die Feststellung der Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels beruht auf einer Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung von unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen der zu beurteilenden Maßnahme. Etwaige Wirkungen sind in dem wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhang, in dem die Verträge, Beschlüsse und Verhaltensweisen stehen , zu betrachten.59 Letztlich ist entscheidend, ob eine Maßnahme nach der Lebenserfahrung eine Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten haben kann. Eine Einschränkung des „umfassenden Geltungsanspruchs“60 der europäischen Wettbewerbsregeln ergibt sich aus dem Kriterium der Spürbarkeit der Handelsbeeinträchtigung. Dieses Erfordernis soll die Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln auf diejenigen Maßnahmen beschränken, die unter dem Gesichtspunkt des Zusammenwachsens der Märkte und der Anforderungen eines funktionsfähigen Wettbewerbs von erheblicher Bedeutung sind. Das wird vom EuGH dann verneint , wenn die von einer wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme betroffenen Erzeugnisse lediglich einen „unbedeutenden Prozentsatz des Gesamtmarktes dieser Erzeugnisse im Gebiet des Gemeinsamen Marktes ausmachen“, so dass die Auswirkungen der Maßnahme als geringfügig vernachlässigt werden können.61 Würde also die Tätigkeit der DRV im Zusammenhang mit dem Vorsorgekonto als unternehmerisch eingestuft62, wäre zu fragen, ob die Ausgestaltung und Ausführung ihrer Tätigkeit geeignet wäre, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, d.h. ob Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten denkbar sind. Für die Tätigkeit gesetzlicher Krankenkassen wird zwar die Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel abgelehnt63, im Zusammenhang mit einer freiwilligen Rentenversicherung ist aber durchaus denkbar, dass private Renten- 56 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-215 und 216/96 (Bagnasco), Slg. 1999, I-135, Rn. 47. 57 Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, a.a.O., Rn. 198 m.w.N. 58 Wie hier auch Emmerich, Kartellrecht, S. 30, Rn. 22; Vgl. Begründung der 7. GWB-Novelle aus dem Jahre 2005, BT- Drs. 15/3640, S. 21 ff.. Siehe auch die zahlreichen Beispiele in den Leitlinien der Kommission, a.a.O., Rn. 61ff. 59 EuGH, Rs. 23/67 (de Haecht), Slg. 1967, 544, 555. 60 Emmerich, Kartellrecht, S. 30, Rn. 23. 61 Vgl. u.a. EuGH, Rs. C-215/96 und C-216/96 (Bagnasco), Slg. 1999, I-161, 178f., Rn. 47ff. 62 Dazu unten 3.1.2 Unternehmen S. 14 ff. 63 Emmerich, Kartellrecht, S. 309, Rn. 20a m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 14 versicherer aus anderen Mitgliedstaaten ein Interesse am deutschen Altersvorsorgemarkt haben, so dass etwaige Maßnahmen der DRV Auswirkungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten haben könnten. Es ist also nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Tätigkeit der DRV im Rahmen des Vorsorgekontos der Kontrolle des europäischen Wettbewerbsrechts unterworfen ist. Nach Art. 5 der Kartellverfahrensverordnung wären dann die nationalen Wettbewerbsbehörden neben der Kommission verpflichtet, sowohl die Regeln des nationalen Wettbewerbsrechts als auch die des europäischen Wettbewerbsrechts parallel anzuwenden, und im Fall des Widerspruchs dem europäischen Recht Vorrang einzuräumen. 3.1.2. Unternehmen Das europäische Wettbewerbsrecht richtet sich ferner allein an Unternehmen und Unternehmensvereinigungen . Wettbewerbsrechtliche Bedenken gegen die Errichtung eines „Vorsorgekontos “ bei der DRV können sich also allenfalls ergeben, wenn ihre Tätigkeit in diesem Zusammenhang als unternehmerisch i.S.d. Art. 101 ff. AEUV zu qualifizieren wäre. 3.1.2.1. Europäischer Unternehmensbegriff Der Begriff der unternehmerischen Tätigkeit bzw. des Unternehmens ist im europäischen Recht nicht legaldefiniert, wurde aber in der Rechtsprechung des EuGH konkretisiert. Es hat sich der sogenannte funktionale Unternehmensbegriff64 herausgebildet: Ein Unternehmen ist danach jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform oder der Art ihrer Finanzierung.65 Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit ist dabei durch das Anbieten von Gütern und Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt gekennzeichnet und von dem der hoheitlichen Tätigkeit abzugrenzen.66 Der EuGH nimmt hoheitliches Handeln regelmäßig dann an, wenn die fragliche Tätigkeit nach den Traditionen der Mitgliedstaaten zu den wesentlichen Staatsaufgaben gehört, die im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden.67 Einen Anhaltspunkt für eine wirtschaftliche und damit unternehmerische Tätigkeit bildet der Umstand, dass die betreffenden Güter oder Dienstleistungen auch von einem Privaten in der Absicht der Gewinnerzielung angeboten bzw. erbracht werden können.68 Die Unternehmenseigenschaft ist dabei relativ, d.h. immer nur 64 Im Gegensatz zum institutionellen Unternehmensbegriff, der das Gewicht auf die Organisation und die Dauer der wirtschaftlichen Einheit legt. Vgl. dazu Emmerich, Kartellrecht, S. 31, Rn. 25ff. oder ders., in: Immenga/Mestmäcker, EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 101 Abs. 1, Rn. 8. 65 St. Rsprg., vgl. u.a. EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner und Elser), Slg. 1991, I-1979; Rs. C-205/03 P (Fenin), Slg. 2006, I-6295. Vgl. hierzu auch die umfangreichen Nachweise bei Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, a.a.O., Rn. 7 (Fn. 9, 10 und 11). 66 EuGH, Rs. C-35/96 (Kommission./.Italien), Slg. 1998, I 3851, Rn. 36; Rs. C-218/00 (Cisal), Slg. 2002, I 691, Rn. 23; zuletzt auch Rs. C-138/11 (Compass Datenbank), Slg. 2012, Rn. 35. 67 Vgl. etwa für den Umweltschutz, EuGH, Rs. C-343/95 (Diego Cali), Slg. 1997, I-1580, 1588f., Rn. 22ff. 68 EuGH, Rs. C-82/01 P (Aéroports de Paris), Slg. 2002, I-9297, Rn. 82; Rs. T-155/04 (SELEX), Slg. 2006, II4797, Rn. 88. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 15 im Hinblick auf eine konkrete Tätigkeit und Rechtsbeziehung zu bestimmen.69 Ein Rechtssubjekt kann also mit Blick auf einen Teil seiner Tätigkeit – wenn dieser Teil wirtschaftlicher Natur ist – als Unternehmen zu qualifizieren sein, hinsichtlich eines anderen Teils hingegen nicht unter den Unternehmensbegriff fallen. 3.1.2.2. Die Rechtsprechung des EuGH zur Einordnung von Sozialversicherungsträgern als Unternehmen im Besonderen Der EuGH war im Konkreten mehrfach mit der Frage befasst, ob Sozialversicherungsträger in den Mitgliedstaaten Unternehmen sind.70 Nachdem er zunächst darauf abstellte, ob die von ihm ausgeführte Aufgabe auch von Privaten wahrgenommen werden könne71, prüfte er später, ob eine Einrichtung eine Aufgabe mit ausschließlich sozialem Charakter erfüllt. Entscheidend sei, dass die Leistung von Gesetzes wegen und unabhängig von der Höhe der zuvor von den Versicherten geleisteten Beiträge erbracht werde.72 Später entschied dann das EuG73, bestätigt durch den EuGH74, dass trotz wettbewerblicher Tätigkeit auf dem Nachfragemarkt die Unternehmenseigenschaft eines Sozialversicherungsträgers zu verneinen sei, wenn er sich der Mittel des Privatrechts bediene und wenn auch die Verwendung der nachgefragten Produkte einer wirtschaftlichen und nicht einer hoheitlichen Tätigkeit zugeordnet werden könne. Der Charakter der späteren Verwendung der nachgefragten Leistungen und Produkte bestimme zwangsläufig auch den Charakter der Einkaufstätigkeit. Solange also die Tätigkeit eines Sozialversicherungsträgers im Kernbereich nicht wirtschaftlich sei, sei auch das Verhältnis zu den Leistungserbringern als nicht-wirtschaftlich zu qualifizieren. Im Jahr 2004 urteilte der EuGH dann, dass die Tätigkeiten von Einrichtungen wie den deutschen gesetzlichen Krankenkassen nicht wirtschaftlicher Art und der AOK-Bundesverband demnach kein Unternehmen im Sinne von damals Art. 81, 82 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV)75, jetzt Art. 101, 102 AEUV, sei.76 Verwaltungseinrichtungen der ge- 69 Vgl. EuGH, Rs. 118/85 (Kommission./.Italien), Slg. 1987, I-2599, Rn. 7; Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C- 355/01 (AOK Bundesverband), Slg. 2004, I-2524, Rn. 58. 70 Für zusammenfassende Überblicke über die Rechtsprechung des EuGH vgl. Röbke, Die Leistungsbeziehungen der gesetzlichen Krankenversicherung im Lichte des europäischen Wirtschaftsrechts, Hamburg 2009, S. 245ff. oder von Laer, Die gesetzlichen Krankenkassen im Anwendungsbereich des Kartell- und Lauterkeitsrechts, Inwieweit finden GWB und UWG Anwendung?, Hamburg, 2011, 40ff. Siehe insbesondere für den beihilferechtlichen Kontext Bühner/Sonder, Die Finanzierung von Sozialdienstleistungen nach den neuen Regelungen des EU-Beihilfenrechts über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse („Almunia“-Paket), NZS 2012, 688ff. 71 Vgl. EuGH, Rs. C-41/90 (Höfner und Elser), Slg. 1991, I-1979. 72 Vgl. EuGH, Rs. C-159/91 und C-160/91 (Poucet et Pistre), Slg. 1993, I-637; Rs. C- 244/94 (Fédération Francaise des Sociétés D’Assurance), Slg. 1995, I-4013; Rs. C-67/96 (Albany), Slg. 1999, I-5751; Rs. C-219/97 (Maatschappij), Slg. 1999 I- 6121; Rs. C-180/98 bis C-184/98 (Pavlov u.a.), Slg. 2000, I-6497, 2. Leitsatz; Rs. C-218/00 (Cisal), Slg. 2002, I-691. 73 EuG, Rs. T-319/99 (Fenin), Slg. 2003, II-357. 74 EuGH, Rs. C-205/03 P (Fenin), Slg. 2006, I-6295. 75 Konsolidierte Fassung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrags von Nizza vom 10.03.2001 (ABl. C 325/33 vom 24. Dezember 2002). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 16 setzlichen Kranken- und Rentenversicherungssysteme seien dann rein sozial und damit nicht unternehmerisch tätig, wenn sie - kraft gesetzlicher Bindung im Dienste solidarischer Zwecke agierten, - auf die Höhe der Beiträge, die Verwendung der Mittel und die Bestimmung des Leistungsumfangs nicht nach freiem Ermessen Einfluss nehmen könnten und - keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen.77 Da die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland über einen Kosten- und Risikoausgleich zu einer Solidargemeinschaft zusammengeschlossen und das Verhältnis unter ihnen durch Kooperation und nicht durch Wettbewerb geprägt sei, sei die Festlegung von Höchstbeträgen für die Kostenübernahme von Arzneimitteln durch Zusammenschlüsse deutscher Krankenkassen nicht am Kartellverbot des AEUV zu messen. Der EuGH hat in dieser Entscheidung aber auch ausdrücklich ausgeführt, dass es sich nicht ausschließen lasse, „dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten, d.h. die Kassenverbände, außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären die von ihnen zu treffenden Entscheidungen möglicherweise als Beschlüsse von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen anzusehen.“78 Damit hat der EuGH zwar zunächst die Unternehmenseigenschaft der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ausdrücklich verneint, den Weg hin zu einer anderen Beurteilung aber offen gelassen. Im Rahmen einer Entscheidung über eine freiwillige Zusatzrentenversicherung in Frankreich hat der EuGH dann entschieden, dass das Element der Freiwilligkeit, die Finanzierung über das Kapitalisierungsverfahren und die Abhängigkeit der gewährten Leistungen von den eingebrachten Beiträgen zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit führten, die in Wettbewerb zu anderen Versicherungsunternehmen stehe.79 Dieser Beurteilung stünden auch Elemente der Solidarität, die fehlende Gewinnerzielungsabsicht und der verfolgte soziale Zweck nicht entgegen.80 In einer Entscheidung aus dem Jahre 2011 hat der EuGH dann für eine Zusatzkrankenversicherung im Rahmen eines französischen Tarifvertrages – obwohl sie keinen Gewinnzweck verfolgte und trotz ihres sozialen Zwecks und einer erheblichen Verwirklichung des Solidaritätsprinzips (beitragsunabhängiger Leistungskatalog und zum versicherten Risiko nicht proportionaler Beitragssatz ) – deren wirtschaftlichen Charakter und damit die Unternehmenseigenschaft für möglich gehalten, da die Aufgabe der Überwachung der Funktionsweise des Versicherungssystems nicht eindeutig dem Staat sondern Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer übertragen 76 Vgl. EuGH, Rs. C-264/01 u.a. (AOK Bundesverband), Slg. 2004, I-2493, Rn. 47ff. 77 EuGH, Rs. C-264/01 u.a. (AOK Bundesverband), a.a.O., Rn. 47. 78 EuGH, Rs. C-264/01 u.a. (AOK Bundesverband), a.a.O., Rn. 47, a.a.O., Rn. 58. 79 EuGH, Rs. C-244/94 (Fédération Française des Sociétés D’Assurance), a.a.O., Rn.17. 80 EuGH, Rs. C-244/94 (Fédération Française des Sociétés D’Assurance), a.a.O., Rn.18 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 17 worden sei.81 Entscheidend sei, ob die betreffende Krankenkasse von den Sozialpartnern anhand finanzieller und wirtschaftlicher Erwägungen unter anderen Unternehmen ausgewählt wurde, mit denen sie auf dem Markt der von ihr angebotenen Versorgungsdienstleistung konkurrierte.82 3.1.2.3. Unternehmensbegriff im deutschen Wettbewerbsrecht Abhängig von der Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel ist gegebenenfalls auch das deutsche Wettbewerbsrecht zu beachten.83 Auch im deutschen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)84 wird der Begriff des Unternehmens zwar vielfach erwähnt, aber nicht definiert. In Literatur und Rechtsprechung hat sich – wie im Europarecht – mit Blick auf das Ziel des GWB, die Freiheit des Wettbewerbs zu schützen , auch ein weiter, funktionaler bzw. tätigkeitsbezogener Unternehmensbegriff herausgebildet. So kommt es auch hier nicht auf die handelnde (juristische) Person sondern auf die jeweilige Tätigkeit im konkreten Einzelfall an. Ein Unternehmen liegt nach der Rechtsprechung des Kartellsenats des Bundesgerichtshofs (BGH) danach bei jeder selbständigen Tätigkeit im geschäftlichen Verkehr vor, die auf das Anbieten oder Nachfragen von Waren oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt gerichtet ist und sich nicht auf die Deckung des privaten Lebensbedarfs beschränkt.85 Von geschäftlichem Verkehr wird insoweit gesprochen, als es sich um wirtschaftliche Vorgänge handelt, die durch privatrechtliche Rechtsgeschäfte abgewickelt werden. Teilnehmer öffentlich-rechtlicher (Wettbewerbs-)Beziehungen sind danach keine Unternehmen i.S.d. des GWB. Der BGH unterwirft aber auch Hoheitsträger dem Kartellrecht, wenn sie in Konkurrenz zu privaten Anbietern treten und im konkreten Fall Leistungen neben anderen auf dem Markt anbieten oder nachfragen.86 Entsprechend findet nach § 130 Abs. 1 S. 1 GWB das Gesetz „auch Anwendung auf Unternehmen die ganz oder teilweise im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die von ihr verwaltet oder betrieben werden“. Angesichts der Ähnlichkeit des deutschen und des europäischen Unternehmensbegriffes stellt sich erneut die Frage nach dem Vorrang des europäischen Wettbewerbsrechts. Bereits mit der 7. GWB-Novelle aus dem Jahr 200587 wurden die Vorschriften des 1. Teils des GWB an die Regelungen der heutigen Art. 101 ff. AEUV angepasst.88 So sollten ausweislich der damaligen Gesetzesbegründung die Tatbestandsmerkmale des § 1 GWB, wie etwa die Begriffe des Unternehmens 81 EuGH Rs. C-437/09 (AG2R Prevoyance), Slg. 2011, Rn. 46 ff. 82 EuGH, Rs. C-437/09 (AG2R Prevoyance), a.a.O., Rn. 65. 83 Vgl. oben 3.1.1 Zwischenstaatlichkeitsklausel, S. 12ff., a.E. 84 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15.07.2005, BGBl. I S. 2114, ber. 2009, S. 3850. 85 Vgl. u.a. BGHZ 36, 91 (102ff) = NJW 1962, 196; BGHZ 137, 297 (304) = NJW 1998, 756. Zum Ganzen Emmerich, Kartellrecht, München 2012, S. 301 ff., insbesondere S. 308. 86 Vgl. etwa BGH, KVR 9/11 (Niederbarnimer Wasserverband), NJW 2012, 1150, Rn. 10ff. m.w.N. Sieh dazu auch von Laer, a.a.O., S. 36 m.w.N. 87 Begr. RegE 7. GWB-Novelle, BT Drucks. 15/3640. 88 BT-Drs. 15/3640, S. 21 ff; Klees, Welcher Unternehmensbegriff gilt im GWB?, EWS 2010, 1 (6); von Laer, a.a.O., S. 59. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 18 oder der Unternehmensvereinigungen oder das Merkmal der Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs im Lichte der zu Art. 81 Abs. 1 EG, jetzt Art. 101 Abs. 1 AEUV, ergangenen Rechtsprechung und Rechtsanwendungspraxis auszulegen und anzuwenden sein.89 Die weitgehend an den Wortlaut des Art. 101 AEUV angeglichene Vorschrift des § 1 GWB ist damit Ausdruck des Willens des Gesetzgebers, die Regelungen aus dem europäischen Recht zu übernehmen.90 Es findet sich jedoch kein ausdrücklicher gesetzlicher Verweis auf Rechtsanwendungspraxis des EuGH, so dass von Gesetzes wegen bei der Auslegung des GWB keine unmittelbare Bindung an die europäische Rechtsprechung gibt.91 § 2 Abs. 2 GWB verweist aber dynamisch auf die europäische Gruppenfreistellungsverordnung, so dass sich eine Änderung dieser Verordnung durch den europäischen Gesetzgeber direkt auf die Rechtslage nach dem GWB auswirkt . Insgesamt ist damit – gesetzgeberisch gewollt – eine Konvergenz der im EU-Kartellrecht und im GWB verwendeten Tatbestände und Rechtsbegriffe zu erkennen, so dass die Rechtsprechung des EuGH zum Unternehmensbegriff auch auf der nationaler Ebene zu beachten ist. Dies gilt selbst dann, wenn die Art. 101 ff. AEUV mangels Zwischenstaatlichkeit nicht anwendbar sind. Teilweise wird sogar vertreten, dass wegen der Übernahme des europäischen Kartellrechts in das GWB auch für Sachverhalte außerhalb der Anwendbarkeit des europäischen Rechts gar kein autonomer Anwendungsbereich für § 1 GWB mehr besteht.92 § 1 GWB ist im Ergebnis jedenfalls wie Art. 101 AEUV auszulegen. Letztlich muss also für die Frage, ob eine Einheit als Unternehmen nach europäischem und/oder nach deutschem Recht zu qualifizieren ist, die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt werden. Für einen eigenständigen deutschen Unternehmensbegriff bleibt insofern kein Raum.93 3.1.2.4. Zusammenfassung: Kriterien für die Einordnung als Unternehmen Entscheidend ist damit sowohl im europäischen als auch im deutschen Wettbewerbsrecht, ob die betreffende Einheit (etwa ein Sozialversicherungsträger) bei der fraglichen Handlung eine wirtschaftliche Tätigkeit im Wettbewerb mit anderen Unternehmen in Abgrenzung zu einer hoheitlichen oder solidarischen Tätigkeit ausübt. Die Aktivitäten einer Einheit sind dabei „wettbewerbs- 89 BT-Drs. 15/3640, S. 44. 90 Bunte, in: Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1., 10. Auflage, 2006, Einl. Rn. 60; Roth, Zum Unternehmensbegriff im deutschen Kartellrecht, in: Hilty (Hrsg.), Schutz von Kreativität und Wettbewerb: Festschrift für Ulrich Loewenheim zum 75. Geburtstag, 2009, S. 545 (559f.); Klees, a.a.O. (6). 91 von Laer, a.a.O, S. 60 m.w.N. 92 Vgl. im Einzelnen Bechtold, GWB, 5. Auflage 2008, Einf. Rn. 19, 20; Säcker, in: Münchener Kommentar zum Deutschen und Europäischen Wettbewerbsrecht, Band 2, 2008, § 1 GWB, Rn. 2ff.; Rehbinder, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht EG/Teil 2, 4. Auflage 2008, Art. 3 VO 1/2003, Rn. 24; Bechtold, GWB, 5. Auflage, 2008, Einf, Rn. 62, 76 jeweils m.w.N. 93 h.M., vgl.: Säcker, in Münchener Kommentar zum Deutschen und Europäischen Wettbewerbsrecht, Band 2, 2008, § 1 GWB, Rn. 2ff.; Rehbinder, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 2, 4. Auflage 2008, Art. 3 VO 1/2003, Rn. 24; Bechtold, GWB, 6. Auflage 2010, Einf., Rn. 62, 76; Holzmüller, a.a.O. (486); von Laer, a.a.O, S. 54, jeweils m.w.N.; so auch BGH, vgl. z.B. Beschluss vom 16.01.2008 – KVR 26/07 –, Rn. 21; LSG Darmstadt, Urteil vom 15.09.2011, L 1 KR 89/10 KL; beide zitiert nach juris; a.A. Kersting/Faust, Krankenkassen im Anwendungsbereich des Europäischen Kartellrechts, WuW 2011, 6 (15). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 19 rechtlich teilbar“94, d.h. ein Sozialversicherungsträger kann neben seinen Aufgaben rein sozialer Art, die nicht der Kontrolle des Wettbewerbsrechts unterliegen, auch Geschäftstätigkeiten mit wirtschaftlichem Zweck ausüben.95 Um eine Abgrenzung vorzunehmen, verdichtet96 sich die Prüfung nach der Rechtsprechung des EuGH insgesamt darauf, - ob die jeweilige Einheit einen Gewinnzweck/eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt, - ob die jeweilige Tätigkeit auf der Grundlage eines Solidarprinzips, geprägt durch Zwangsversicherung bzw. Pflichtmitgliedschaft, Umlagefinanzierung, gesetzlich festgelegte und risikounabhängige Beiträge sowie einen beitragsunabhängigen Leistungskatalog ausgeführt wird, - ob zwischen den Einheiten desselben Systems und/oder mit privatwirtschaftlichen Unternehmen ein Wettbewerb stattfindet und - in welchem Umfang der Staat die Funktionsweise des Versicherungssystems beaufsichtigt.97 3.2. Freiwilliges Vorsorgekonto bei der DRV im Anwendungsbereich des Europäischen Wettbewerbsrechts – Qualifizierung als Unternehmen? Für die Beantwortung der Frage, ob die Tätigkeiten der DRV im Zusammenhang mit einem freiwilligen „Vorsorgekonto“ als unternehmerisch zu qualifizieren wären, ist also entscheidend, ob es sich dabei um hoheitliche, rein solidarische oder aber um wirtschaftliche Tätigkeiten nach den oben genannten Kriterien handeln würde. Vor dem Hintergrund, dass nach der vorliegenden Modellskizze das Vorsorgekonto kapitalgedeckt finanziert würde98, spricht nach den in der EuGH-Rechtsprechung entwickelten Kriterien Einiges für eine Einordnung als Unternehmen i.S.v. Art. 101ff. AEUV und damit für eine Anwendung der europäischen und/oder deutschen Wettbewerbsvorschriften. In vielen Entscheidungen hatte der EuGH gerade wegen des angewandten Kapitalisierungsprinzips eine Unternehmenseigenschaft bejaht.99 Würde die Einzahlung in das kapitalgedeckt finanzierte Vorsorgekonto freiwillig sein, bedürfte es im Sinne der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls der Verwirklichung der anderen Kriterien, um eine Einordnung als Unternehmen verneinen zu können. Entsprechend wäre entscheidend, dass das Vorsorgekonto auf der Grundlage eines Solidarprinzips, welches zwar nicht durch eine Pflichtmitgliedschaft, aber durch eine Umlagefinanzierung, gesetzlich festgelegter Beiträge und einen Leistungskatalog, der von den konkreten Beiträgen unabhängig ist, geprägt ist. Zudem käme es darauf an, ob die DRV mit dem Vorsorgekonto in Wettbewerb etwa zu privatwirtschaftlichen Unternehmen der privaten Altersvorsorge treten würde, 94 Frenz, Handbuch des Europarechts, Band 2, Europäisches Kartellrecht, 2006, Rn. 363 (S. 135f.). 95 Vgl. EuGH, Rs. C-264/01 (AOK Bundesverband), a.a.O., Rn. 58f. 96 Vgl. auch Röbke, a.a.O., S. 252. 97 Im Einzelnen oben 3.1.2.2 Die Rechtsprechung des EuGH zur Einordnung von Sozialversicherungsträgern als Unternehmen im Besonderen, S. 16ff. 98 Diskussionspapier „Vorsorgekonto“ bei der DRV, a.a.O., S. 9. 99 Vgl. EuGH, Rs. C-219/97 (Maatschappij), a.a.O., Rs. C-180/98 u.a. (Pavlov), a.a.O.; Rs. C-244/94 (Fédération française des sociétés d’assurance), a.a.O.; Rs. c-67/96 (Albany), a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 20 d.h. ob auch bei privaten Altersvorsorgeunternehmen die Errichtung eines „Vorsorgekontos“ zum Rückkauf von Abschlägen möglich wäre. Um die Unternehmenseigenschaft ausschließen zu können , wäre es weiterhin erforderlich, die Tätigkeit der DRV im Zusammenhang mit dem Vorsorgekonto der staatlichen Aufsicht zu unterstellen. Es ist damit denkbar, dass die DRV im Zusammenhang mit der Verwaltung eines freiwilligen Vorsorgekontos als Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts zu qualifizieren wäre, angesichts der dezidierten vom EuGH entwickelten Kriterien aber durchaus möglich, auch ein freiwilliges Vorsorgekonto so auszugestalten, dass die Unternehmenseigenschaft verneint werden kann. 3.3. Verpflichtendes Vorsorgekonto bei der DRV im Anwendungsbereich des Europäischen Wettbewerbsrechts – Qualifizierung als Unternehmen? Ob ein verpflichtendes Vorsorgekonto, das bei der DRV ohne die Verfolgung einer Gewinnerzielungsabsicht geführt würde, zu einer Bejahung der Unternehmenseigenschaft führen würde, ist fragwürdig. Eine Pflichtmitgliedschaft bzw. Zwangsversicherung ist nämlich eines der Indizien für die Verwirklichung des Solidarprinzips. Weitere Indizien wären eine Umlagefinanzierung (wie sie nach dem Diskussionspapier im Zusammenhang mit der Erwerbsminderungsrente angedacht ist100), gesetzlich festgelegte und risikounabhängige Beiträge sowie ein beitragsunabhängiger Leistungskatalog. Ebenso dürfte eine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Vorsorgekontos ausschließen, dass die DRV in einen Wettbewerb mit Versicherungsunternehmen, die Altersvorsorgeprodukte anbieten, treten würde. Bliebe nach der Rechtsprechung des EuGH nur noch zu prüfen, ob und in welchem Umfang der Staat die Funktionsweise des Vorsorgekontos bei der DRV beaufsichtigen würde. Soweit eine Ausgestaltung entsprechend der vom EuGH entwickelten Kriterien erfolgte, wäre eine Unternehmenseigenschaft der DRV im Zusammenhang mit der Verwaltung eine verpflichtenden Vorsorgekontos abzulehnen. 3.4. Folgen einer etwaigen Qualifizierung als Unternehmen Eine Qualifizierung als Unternehmen würde u.a. den Anwendungsbereich der europäischen Wettbewerbsregeln im weiteren Sinne, zu denen neben dem Kartell- und Missbrauchsverbot, auch das Beihilferecht und das Vergaberecht zählen, eröffnen. 3.4.1. Kartell- und Missbrauchsverbot So verbietet Art. 101 Abs. 1 AEUV „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen bzw. aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder 100 Vgl. oben 1.1 Modell eines Vorsorgekontos nach dem Diskussionspapier der Deutschen Rentenversicherung Baden- Württemberg, S. 4 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 21 bewirken“. Welche Art von Verhaltensweisen untersagt ist, wird in Art. 101 Abs. 1 lit. a) bis lit. e) AEUV präzisiert. Art. 101 Abs. 3 AEUV enthält Befreiungstatbestände bzw. Rechtfertigungsgründe 101 für bestimmte wettbewerbsbeeinträchtigende Verhaltensweisen. Art. 102 AEUV hingegen verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies zu einer Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels führen kann. Auch hier sind in Art. 102 Abs. 1 lit. a) bis lit. d) AEUV einzelne Missbrauchsarten präzisiert worden. Folge einer Einordnung der Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Vorsorgekonto als unternehmerisch wäre, dass – bei Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel – die DRV selbst an das Kartellverbot aus Art. 101 AEUV und das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung aus Art. 102 AEUV gebunden wäre. Es steht insofern außer Frage, dass die Wettbewerbsregeln grundsätzlich auch für öffentliche Unternehmen gelten (vgl. Art. 106 Abs. 1 AEUV).102 3.4.2. Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse? Etwas anders könnte nur gelten, wenn die DRV im Zusammenhang mit der (unternehmerischen) Verwaltung eines Vorsorgekontos mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse i.S.v. Art. 106 Abs. 2 AEUV betraut wäre. Nach dieser Vorschrift gelten die Wettbewerbsregeln nur eingeschränkt. Die Grenze liegt dort, wo die Erfüllung der übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert wird. In der Rechtsprechung wurde diese Voraussetzung insofern abgeschwächt, als dass die gemeinwohlbezogene Aufgabe nicht mehr zu tragbaren bzw. wirtschaftlich ausgewogenen Bedingungen erfüllt werden kann.103 An dieser Stelle ist schon fraglich, ob die Führung eines Vorsorgekontos der privaten Altersvorsorge eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse wäre. Gemeint sind damit vielmehr alle wirtschaftlichen Aktivitäten zur Sicherung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge.104 Die Spruchpraxis von Kommission und Gerichtshof grenzt den Begriff von zwei Seiten her ein: „Abzugrenzen ist zum einen gegenüber reinen Individual- oder Gruppeninteressen. Dienstleistungen sind nur dann „allgemein“, wenn sie zumindest auch im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden.“105 Ein starkes Indiz für ein Handeln zugunsten der Allgemeinheit ist etwa gegeben, wenn ein Unternehmen auch dort tätig wird, wo dies seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen widerspricht.106 Das ist z.B. der Fall bei teilweise unrentablen Dienstleistungen, die aber zur 101 Frenz, Europäisches Kartellrecht, Rn. 320 (S. 120) m.w.N. 102 Zu der grundsätzlichen Geltung des Wettbewerbsrechts für öffentliche Unternehmen siehe Frenz, Europäisches Kartellrecht, S. 741 ff. (Rn. 1993 ff.). 103 Vgl. dazu Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3, Beihilfen- und Vergaberecht, S. 378, (Rn. 1137 m.w.N.). 104 Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 106 AEUV, Rn. 36 m.w.N. 105 Jung, a.a.O., Rn. 38 m.w.N. 106 Jung, a.a.O., Rn. 38 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 22 gleichmäßigen Versorgung der Bevölkerung flächendeckend erbracht werden müssen.107 Zum anderen sind allgemein wirtschaftliche Interessen abzugrenzen gegenüber öffentlichen Interessen nicht-wirtschaftlicher Art. Sofern Unternehmen allein mit der Wahrung kultureller, sozialer oder karitativer Belange betraut sind, sind sie schon nicht wirtschaftlich tätig und fallen auch nicht unter Art. 106 Abs. 2 AEUV.108 Entsprechend lässt sich schlussfolgern, dass die Verwaltung des Vorsorgekontos wegen des etwaigen sozialen Zwecks entweder schon nicht als wirtschaftlich einzuordnen ist, oder aber im Falle der unternehmerischen Ausgestaltung als eine von zahlreichen Möglichkeiten der Altersvorsorge auch nicht als Dienstleistung im Gemeininteresse zu qualifizieren wäre. 3.4.3. Europäisches Beihilfeverbot Auch das europäische Beihilferecht ist Teil des Wettbewerbsrechts. Es ist im Wesentlichen in den Art. 107 bis 109 AEUV und dem darauf gestützten Sekundärrecht für einzelne Wirtschaftsbereiche geregelt. Gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV ist eine als staatliche Beihilfe zu qualifizierende Maßnahme mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie auf Grund wettbewerbsverfälschender Wirkungen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt. Art. 107 Abs. 1 AEUV konstituiert insoweit ein grundsätzliches Verbot für staatliche Beihilfen.109 Von diesem Grundsatz finden sich in Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV numerisch aufgelistete Ausnahmen sozialer (Abs. 2 lit. a und b), wirtschaftlicher (Abs. 3 lit. a bis c) und geschichtlich/kultureller Art (Abs. 2 lit. c, Abs. 3 lit. d). Zudem versetzt Art. 107 Abs. 3 lit. e AEUV den Europäischen Rat in die Lage, auf Vorschlag der Europäischen Kommission weitere Beihilfen für rechtmäßig zu erklären. Im Übrigen enthält der AEUV Sondervorschriften für die Bereiche Landwirtschaft (Art. 42 Abs. AEUV), Verkehr (Art. 93 AEUV), Dienstleistungen von gemeinwirtschaftlichem Interesse (Art. 106 Abs. 2 AEUV), Ausfuhren (Art. 96 AEUV) und Militär (Art. 346 AEUV). Hauptzweck von Art 107 AEUV ist es, den zwischenstaatlichen Wettbewerb auf dem Binnenmarkt vor Verfälschung zu schützen. Jedoch soll die Möglichkeit bestimmter gemeinwohndienlicher Beihilfen bestehen bleiben.110 Die Beihilfeaufsicht, d.h. die Prüfung der Vereinbarkeit von Beihilfen mit dem Binnenmarkt, obliegt gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV grundsätzlich der Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (in Ausnahmefällen auch dem Rat – Art. 108 Abs. 2 Unterabsatz 3 AEUV). Die Mitgliedstaaten unterrichten die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig, dass diese sich dazu äußern kann (Notifizierungsverfahren). 107 Jung, a.a.O., Rn. 38 m.w.N. 108 Siehe oben 3.1.2 Unternehmen, S. 14. 109 Cremer, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage, München, 2011, Art. 107 AEUV, Rn. 1. 110 Müller Graff, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, 1. Auflage, Baden-Baden, 2012, Art 107 AEUV, Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 23 Gemäß Art. 108 Abs. 4 AEUV kann die Kommission Verordnungen zu den Arten von staatlichen Beihilfen erlassen, für die der Rat nach Artikel 109 AEUV festgelegt hat, dass sie von diesem Notifizierungsverfahren ausgenommen werden können. Zu unterscheiden sind hier einerseits die sektorspezifischen Freistellungsverordnungen wie die Gruppenfreistellungsverordnung für die Landwirtschaft111, die Gruppenfreistellungsverordnung für die Fischerei112, die Verordnung über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schienen und Straßen113, die Verordnung über Beihilfen für den Schiffbau114 sowie die Verordnung über Beihilfen für den Steinkohlenbergbau115. Auf der anderen Seite regelt die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGFVO)116 Freistellungstatbestände allgemeinerer Natur. Unterhalb der Verordnungsebene existieren verschiedene sog. Leitlinien, Gemeinschaftsrahmen, Mitteilungen und Kodices der Kommission, mit denen die Kommission über ihre zukünftige Praxis über die Auslegung bzw. Anwendung von Art. 107, 108 und 106 Abs. 2 AEUV auf bestimmte Arten von Beihilfen informiert.117 Die Einordnung einer Maßnahme als Beihilfe richtet sich nach Art. 107 Abs. 1 AEUV. Danach müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Es muss sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. (2) Den Begünstigten muss ein Vorteil gewährt werden. (3) Die Maßnahme muss geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen . (4) Sie muss den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen. Grundsätzlich wird der Begriff der Beihilfe von den EU-Organen weit ausgelegt und nicht etwa auf Zuschüsse oder Subventionen beschränkt. Ziel ist es, möglichst umfassend wettbewerbsverfälschende Maßnahmen der Mitgliedstaaten unter Art. 107 Abs. 1 AEUV zu erfassen. Fraglich ist also, im Zusammenhang mit der Errichtung und Verwaltung eines (freiwilligen) Vorsorgekontos nach dem im Diskussionspapier vorgeschlagenen Model ein Verstoß gegen das Beihilfeverbot entsprechend der aufgeführten Kriterien überhaupt in Betracht kommt. 3.4.3.1. Durch „Riester-Förderung“? Der vorliegende Vorschlag zur Errichtung eines Vorsorgekontos sieht eine staatliche Förderung ähnlich der Förderung der "Riester-Rente" vor. Diese Förderung würde aber schon keinen Vorteil 111 Verordnung (EG) Nr. 1857/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006. (Verordnungen sind abrufbar nach der Nummer abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/RECH_naturel.do, zuletzt abgerufen am 2. November 2012). 112 Verordnung (EG) Nr. 1595/2004 der Kommission vom 8. September 2004. 113 Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007. 114 Verordnung (EG) Nr. 3094/1995 des Rates vom 22. Dezember 1995. 115 Verordnung (EG) Nr. 1407/2002 des Rates vom 23. Juli 2002. 116 Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6. August 2008. 117 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage, München, 2011, Art. 107 AEUV, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 24 i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen, da die Riesterförderung nicht der DRV als Betreiberin des Vorsorgekontos einen Vorteil gewähren würde. Als problematisch würde sich diesbezüglich gegebenenfalls erweisen, wenn ausschließlich die Errichtung eines Vorsorgekontos bei der DRV staatlich gefördert würde, der Abschluss von Vorsorgeverträgen mit privaten Versicherungsunternehmen hingegen nicht begünstigt würde. In diesem Fall könnte die DRV gegenüber den privaten Versicherungsunternehmen im Sinne des Beihilferechts begünstigt sein. Davon ist angesichts des im Diskussionspapier vorgeschlagenen Models nicht auszugehen. 3.4.3.2. Durch Bundeszuschüsse nach § 213 SGB VI oder Quersubvention aus den Beiträgen der Pflichtversicherten? Möglicherweise könnte die Bezuschussung der DRV aus dem Bundeshaushalt gemäß § 213 SGB VI gegen das Beihilfeverbot verstoßen. Gemäß § 213 Abs. 1 SGB VI leistet der Bund zu den Ausgaben der allgemeinen Rentenversicherung Zuschüsse deren Höhe sich aus § 213 Abs. 2a) ff. SGB VI ergibt. Diese Zuschüsse werden an die DRV im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung geleistet. Die Tätigkeit der DRV in diesem Zusammenhang ist nicht als unternehmerisch zu qualifizieren, da die gesetzliche Rentenversicherung ein auf einer Pflichtmitgliedschaft basierendes Versicherungssystem ist, das umlagefinanziert ist, dessen Beiträge und Leistungen gesetzlich festgelegt sind, das keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt und das nicht im Wettbewerb zu privaten Versicherungsunternehmen steht. Entsprechend ist § 213 SGB VI im Zusammenhang mit den heutigen Aufgaben der DRV keinen beihilferechtlichen Bedenken ausgesetzt. Würde das (freiwillige) Vorsorgekonto eingeführt und würde die DRV in diesem Zusammenhang als Unternehmen qualifiziert, könnte sich der Zuschuss nach § 213 SGB VI ebenso wie eine etwaige Quersubventionierung aus den Beiträgen der Pflichtversicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung aber durchaus als problematisch erweisen. Das Kriterium der staatlichen Maßnahme wäre wohl erfüllt. Würde etwa die Verwaltung des Vorsorgekontos in der normalen Verwaltungsstruktur der DRV und keine Trennung der Aufgaben mit Blick auf Pflichtversicherung und Vorsorgekonto erfolgen, könnte eine Quersubvention, die gegen das Beihilfeverbot verstößt118, vorliegen. Denn, die Quersubvention könnte einen Vorteil darstellen, den etwa private Versicherungsunternehmen nicht in Anspruch nehmen könnten. Entsprechend wäre es – wie auch in dem Diskussionspapier schon angesprochen – erforderlich, innerhalb der Organisation der DRV sicherzustellen, dass die Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung inklusive der Verwaltung der Pflichtbeiträge streng von den Tätigkeiten im Zusammenhang mit einem (freiwilligen) Vorsorgekonto getrennt würden. 118 Vgl. dazu Frenz, Handbuch Europarecht, Band 3, Beihilfen- und Vergaberecht, 2006, S. 69ff., (Rn. 217). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 284/12; WD 11 – 3000 – 159/12 Seite 25 3.5. Ergebnis Im Ergebnis ist es denkbar, ein Vorsorgekonto bei der DRV so auszugestalten, dass ein Widerspruch zu europäischem Wettbewerbsrecht nicht entsteht. Die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Kriterien zur Abgrenzung von unternehmerischem und sozialem Handeln müssen insoweit beachtet werden. Um die Verwaltung des Vorsorgekontos der Geltung des (europäischen ) Wettbewerbsrechts zu entziehen, kommt es darauf an, das „Vorsorgekonto“ so zu gestalten , dass keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt wird, dass die Tätigkeit der DRV auf der Grundlage eines Solidarprinzips, geprägt durch Zwangsversicherung bzw. Pflichtmitgliedschaft, Umlagefinanzierung , gesetzlich festgelegte und risikounabhängige Beiträge sowie einen beitragsunabhängigen Leistungskatalog ausgeführt wird, dass dadurch kein Wettbewerb mit privaten Versicherungsunternehmen entsteht und dass der Staat die Funktionsweise des Vorsorgekontos beaufsichtigt . Ob diese Vorgaben tatsächlich umgesetzt sind, kann erst anhand eines konkreten Gesetzentwurfes geprüft werden.