Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 3 - 282/06 - korrigiert Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht Ausarbeitung WD 3 - 282/06 Abschluss der Arbeit: 3.8.2006 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung RL 2006/24/EG führt erstmals eine europaweite und für Deutschland verbindliche Pflicht zur Speicherung bestimmter Kommunikationsdaten aller Telekommunikationsnutzer ein. Es bestehen Bedenken, ob die Richtlinie in der beschlossenen Form mit dem Europarecht vereinbar ist. Dies betrifft zum einen die Wahl der Rechtsgrundlage, zum anderen die Vereinbarkeit mit den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechten. Es liegt noch kein Umsetzungsgesetz vor. Daher kann lediglich der Maßstab aufgezeigt werden, den das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur informationellen Selbstbestimmung, zu Art. 10 GG und zu den Art. 12 und 14 GG aufgestellt hat. Auch diesbezüglich erscheint es zweifelhaft, dass dem Gesetzgeber aufgrund der europarechtlichen Vorgaben eine verfassungsgemäße Umsetzung gelingen wird. Sollte das Umsetzungsgesetz verfassungswidrig bzw. eine verfassungskonforme Umsetzung generell nicht möglich sein, ändert dies jedoch nichts an der weiter bestehenden europarechtlichen Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie. Eine Abänderung des Inhalts der Richtlinie kann nur auf europäischer Ebene erlangt werden. Rechtschutz gegen die Richtlinie kann vor dem EuGH, der bereits mit ihr befasst ist, erlangt werden. Gegen das Umsetzungsgesetz kann vor dem Bundesverfassungsgericht mittels Verfassungsbeschwerde, abstrakter Normenkontrolle und konkreter Normenkontrolle vorgegangen werden. Sollten sich in einem solchen Verfahren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Richtlinie ergeben, ist die entsprechende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Inhalt 1. Einleitung 4 2. Vorratsdatenspeicherung in Deutschland 4 3. Rechtsnatur von Richtlinien und Rechtmäßigkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung 5 3.1. Die Rechtsnatur von EG-Richtlinien und ihr Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht 5 3.2. Rechtmäßigkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung 7 3.2.1. Rechtsgrundlage für die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung 7 3.2.2. Vereinbarkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit Gemeinschaftsgrundrechten 10 3.2.2.1. Das System des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht 10 3.2.2.2. Betroffenheit einzelner Grundrechte durch die Vorratsdatenspeicherung 11 3.2.2.3. Rechtfertigung eines Eingriffs in die genannten Grundrechte 13 3.3. Zwischenergebnis 15 4. Vorgaben des Grundgesetzes für ein Umsetzungsgesetz zur Richtlinie RL 2006/24/EG 15 4.1. Eingriff in Grundrechte 15 4.1.1. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung 15 4.1.2. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis 17 4.1.3. Berufs- und Gewerbefreiheit 17 4.2. Zwischenergebnis 18 5. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Richtlinie und ihre Umsetzung 18 5.1. Gegen die Richtlinie 18 5.2. Gegen die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht 18 5.2.1. Fachgerichtlicher Rechtsschutz 18 5.2.2. Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht 19 5.2.3. Prüfungsumfang 20 5.3. Konsequenzen bei Verwerfung des Umsetzungsgesetzes 20 6. Zusammenfassende Bewertung 21 - 4 - 1. Einleitung Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung RL 2006/24/EG1 ist eine Richtlinie der Europäischen Union, durch die die rechtlichen Regelungen zur Speicherung von Daten der Telekommunikation in den verschiedenen Mitgliedstaaten harmonisiert werden sollen. Zu diesem Zweck schreibt sie vor, dass die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen treffen, um bestimmte, bei technischen Kommunikationsvorgängen anfallende Daten zu speichern. Die vorliegende Ausarbeitung befasst sich mit der Rechtmäßigkeit der Richtlinie und geht dazu zunächst auf Rechtsnatur und Rechtmäßigkeitsmaßstäbe für EG-Richtlinien ein. Außerdem werden verfassungsrechtliche Grundsätze für die Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht dargestellt. Abschließend werden Fragen des Rechtschutzes gegen die Richtlinie bzw. deren Umsetzung beleuchtet. 2. Vorratsdatenspeicherung in Deutschland Der Begriff der Vorratsdatenspeicherung wird in der politischen Diskussion heute synonym für die Speicherung von Telekommunikationsdaten für Strafverfolgungszwecke verwendet. Dabei sollen Telekommunikationsanbieter zur Speicherung von Kundendaten verpflichtet werden, die sie im Rahmen des Vertragsverhältnisses erheben oder verarbeiten (z.B. Standortdaten, gewählte Rufnummern usw.)2. In den Bereichen, in denen aufgrund neuer Tarifmodelle kaum oder keine für Zwecke der Strafverfolgung verwertbare Daten erhoben werden (so insbesondere bei Prepaid-Angeboten oder Flatrates), wird im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung auch die Verpflichtung zur Erhebung bestimmter Daten diskutiert. Derzeit gibt es in Deutschland keine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung. Unternehmen dürfen Verkehrsdaten nach den Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes (TKG)3 nur für geschäftliche Zwecke längstens für sechs Monate speichern (vgl. §§ 96, 97 Abs. 3 und 4 TKG). Dabei muss das Unternehmen die Möglichkeit eines Wahrheitsnachweises der Daten für den Fall einer Anfechtung der Rechnungslegung sicherstellen. 1 Amtsblatt der EU L 105 vom 13. April 2006 S. 54 – 63, Anlage 1. 2 Vgl. zu den Datenkategorien, die nach der EG-Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung erhoben und gespeichert werden sollen den Art. 5 dieser Richtlinie. 3 Telekommunikationsgesetz vom 22. Juni 2004 (BGBl. I 2004, 1190). - 5 - Eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung, wie sie jetzt in der europäischen Richtlinie RL 2006/24/EG vorgesehen ist, wurde national bisher mehrfach abgelehnt. Zuletzt hat sich der Bundestag anlässlich der Behandlung des Tätigkeitsberichts des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) wie schon zuvor bei der Novellierung des TKG im Februar 2005 gegen eine Mindestspeicherungspflicht ausgesprochen4. Die Richtlinie RL 2006/24/EG, vom 15. März 2006 sieht eine Speicherungs- und Erhebungspflicht für die in Art. 5 der Richtlinie genannten Daten vor. Die Richtlinie bedarf jedoch noch der Umsetzung in nationales Recht5, für die die Mitgliedstaaten nach Art. 15 bis spätestens zum 15. September 2007 Zeit haben. Bisher sind noch keine rechtlichen Schritte zur Umsetzung in Deutschland bekannt. Der Bundestag hat jedoch die Bundesregierung aufgefordert, bei der Umsetzung der Richtlinie nicht über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinsichtlich Speicherungsdauer und der Art der erfassten Daten hinauszugehen6. 3. Rechtsnatur von Richtlinien und Rechtmäßigkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Bevor auf einen etwaigen Konflikt des Inhalts der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zum Grundgesetz (GG) und die sich daraus ergebenden Konsequenzen einzugehen ist, sind zunächst die Grundzüge des Verhältnisses von EG-Richtlinien zur deutschen Verfassung aufzuzeigen. 3.1. Die Rechtsnatur von EG-Richtlinien und ihr Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht In Art. 249 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) sind die verschiedenen Handlungsformen der Organe der Europäischen Gemeinschaft (EG) beschrieben : „Zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe dieses Vertrags erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam, der Rat und die Kommission Verordnungen , Richtlinien und Entscheidungen, sprechen Empfehlungen aus oder geben Stellungnahmen ab“ (Art. 249 Abs. 1 EGV). 4 Vgl. BT-Drs. 15/4597 S. 3. 5 Zur Rechtsnatur von Richtlinien und dem Erfordernis ihrer Umsetzung in nationales Recht vgl. unten unter 3.1. 6 BT-Drs. 16/545 vom 7. Februar 2006. - 6 - Anders als die Handlungsform der Verordnung, die in allen Teilen verbindlich ist und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gilt, ist die Richtlinie „für jeden Mitgliedstaat verbindlich , überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“ (Art. 249 Abs. 3 EG). Daraus folgt, dass eine Richtlinie zur innerstaatlichen Wirksamkeit grundsätzlich der Umsetzung in nationales Recht bedarf. Dies geschieht in der Regel durch ein Umsetzungsgesetz, das die Anpassung oder Neuschaffung nationaler Gesetzesregelungen bewirkt. Die Richtlinie kann somit als zweistufiges mittelbares Rechtsetzungsinstrument des Gemeinschaftsrechts bezeichnet werden7. Aus der Verbindlichkeit des Richtlinienziels i.V.m. Art. 10 EGV folgt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten“ 8. Erfüllen die nationalen Umsetzungsmaßnahmen diese Anforderungen nicht oder bleibt der nationale Gesetzgeber untätig, so kann es sowohl zu Schadensersatzpflichten gegenüber geschädigten Bürgern als auch zu einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission nach Art. 226 EGV (bzw. auf Antrag eines anderen Mitgliedstaates nach Art. 227 EGV) gegen den säumigen Mitgliedstaat kommen. Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf innerstaatliche Gründe berufen, um eine mangelhafte oder unterlassene Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht zu rechtfertigen . Die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie besteht vielmehr unabhängig von innerstaatlichen Hindernissen9. Ist die Umsetzung des Richtlinienziels trotz Ausschöpfung des in der Richtlinie naturgemäß gegebenen Umsetzungsspielraums innerstaatlich nicht möglich, ohne gegen die nationale Verfassung zu verstoßen, so ist das nationale Umsetzungsgesetz verfassungswidrig. In Deutschland könnte die Nichtigkeit eines solchen Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt werden10. Auf Gemeinschaftsebene bliebe die Verpflichtung zur Umsetzung dieser Richtlinie allerdings bestehen. Denn Rechtmäßigkeitsmaßstab für die Richtlinie ist allein Gemeinschafts-, nicht jedoch nationales (Verfassungs-)Recht. Die Folge ist, dass sich der Mitgliedstaat, der sich an der innerstaatlichen Umsetzung aufgrund seiner nationalen Verfassung gehindert sieht, gemeinschaftsrechtswidrig verhält und mit Sanktionen seitens der Kom- 7 Vgl. zu dieser Beschreibung: Schwarze, EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 249 Rn. 23. 8 Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), Rs. 14/83, von Kolson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 15. 9 Dies ist für völkerrechtliche Verträge typisch und gilt daher auch für den EGV, der dem Grunde nach auch ein völkerrechtlicher Vertrag ist: Bei der Erfüllung der völkervertraglich übernommenen Pflichten, kann sich ein Staat nicht auf Hindernisse im innerstaatlichen Recht berufen (vgl. Art. 26 und 27 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK)). 10 Dazu kann es auf verschiedene Art und Weise kommen: möglich wäre insofern eine abstrakte oder konkrete Normenkontrolle oder eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz (zu den jeweiligen Voraussetzungen dieser Klagearten vor dem BVerfG vgl. z.B. Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl., München 2003, Art. 93 Rn. 42 ff., 50 ff., 67 ff. und Art. 100 Rn. 1 ff. - 7 - mission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens zu rechnen hat. Als Ausweg bliebe dem betreffenden Staat dann die Erhebung einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH - deren Erfolg sich jedoch allein nach Gemeinschaftsrecht richtet - oder das Bemühen , auf politischem Wege auf die Rücknahme oder Abwandlung der Richtlinie in den entsprechenden Gremien der Gemeinschaft hinzuwirken. Notfalls muss eine Verfassungsänderung vorgenommen werden, wenn die Umsetzung dem Grundgesetz entgegensteht . Damit ist zwischen der Rechtmäßigkeit der Richtlinie und der Rechtmäßigkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes strikt zu unterscheiden: Die Rechtmäßigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes richtet sich in Deutschland nach dem Grundgesetz und ist unabhängig von der aus dem Gemeinschaftsecht resultierenden Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie. Die Rechtmäßigkeit der Richtlinie richtet sich dagegen allein nach Gemeinschaftsrecht und kann daher nicht an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gemessen werden. Im Folgenden sollen nun kurz die für die aktuelle Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Richtlinie RL 2006/24/EG relevanten Grundsätze dargestellt werden. 3.2. Rechtmäßigkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Die Rechtmäßigkeit einer EG-Richtlinie richtet sich nach dem EGV. Nach dem in Art. 5 Abs. 1 EGV festgelegten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung11 bedürfen die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaften einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung in den Gemeinschaftsverträgen, damit sie tätig werden dürfen. Nach dieser Kompetenznorm richtet sich auch das Rechtsetzungsverfahren und damit die zu beteiligenden Organe und erforderlichen Abstimmungsmehrheiten. 3.2.1. Rechtsgrundlage für die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Die Pläne zu einer europaweit einheitlichen Speicherung von Verbindungs- und Verkehrsdaten waren stets als Frage der justiziellen Zusammenarbeit in der sog. „dritten Säule“ der Union beraten worden und deshalb auch ursprünglich als Entwurf zu einem Rahmenbeschluss vorgelegt worden12. Für den vorgelegten Entwurf zu einem Rahmenbeschluss konnte die erforderliche Einstimmigkeit nicht erreicht werden. Am 21. Sep- 11 Vgl. dazu ausführlich Streinz, Europarecht, 7. Aufl., Heidelberg 2005, Rn. 498. 12 Ratsdokument 8958/04 vom 28. April 2004. - 8 - tember 2005 legte die EU – Kommission einen Richtlinienentwurf13 vor, der sich auf Art. 95 EGV stützte und für dessen Annahme die qualifizierte Mehrheit im Mitentscheidungsverfahren ausreichte. Allerdings dienen Regelungen, die sich auf Art. 95 EGV stützen, der Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Verbesserung des Funktionierens des europäischen Binnenmarktes. Die Wahl der Rechtsgrundlage wurde damit begründet, dass für einen funktionierenden Binnenmarkt die Notwendigkeit bestehe, einheitliche Regelungen in allen Mitgliedstaaten für Telekommunikationsunternehmen zu schaffen. Da die Unternehmen sonst in jedem Mitgliedstaat anderen Regelungen hinsichtlich der Speicherung von Daten unterworfen seien und dies eine grenzüberschreitende Vermarktung erschwere, bestehe das Bedürfnis zur Angleichung dieser Rechtsvorschriften zur Verbesserung eines funktionierenden Binnenmarktes14. Politisch bestand die Notwendigkeit zur Wahl des Art. 95 EGV als Rechtsgrundlage, da nur so die erforderliche Mehrheit für den Vorschlag gesichert war15. Dieser Entwurf sah vor, dass Internetdaten mindestens sechs Monate und Telefondaten mindestens zwölf Monate gespeichert werden. Längere Fristen sollten nicht zulässig sein. Am 23.09.2005 wurde der Entwurf an den Ministerrat und das Europäische Parlament übermittelt. Der Ministerrat änderte den geänderten Entwurf ab und legte diesen geänderten Entwurf dem Europäischen Parlament zur Entscheidung vor16. Das Europäische Parlament änderte den Entwurf ebenfalls in einigen entscheidenden Punkten, so wurde z. B. die Liste der zu speichernden Datentypen gekürzt. Am 14. Dezember 2005 stimmte das Europaparlament mit 378 zu 197 Stimmen dem Entwurf zu17. Am 19.01.2006 äußerte der Wirtschafts- und Sozialausschuss in seiner Stellungnahme Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Richtlinie18. Der Ministerrat stimmte seinerseits am 21. Februar 2006 mehrheitlich für den Entwurf. Deutschland stimmte für den Entwurf. Lediglich die Slowakei und Irland stimmten aus formalen Gründen gegen 13 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG; KOM (2005) 438 endg., ABl. C/2006/49 vom 28.2.2006, S. 37. 14 Vgl. dazu die Erwägungsgründe zu der Richtlinie RL 2006/24/EG, v.a. Nr. 1, 5 und 6. 15 Gemäß Art. 95 i.V.m. Art. 251 Abs. 2 EGV ist bei der Angleichung von Rechtsvorschriften zum Binnenmarkt nicht die Einstimmigkeit, sondern nur die qualifizierte Mehrheit der Stimmen erforderlich . 16 Ratsdokument 15101/1/05 REV1. 17 Dokument des Europäischen Parlaments A6/2005/365. 18 ABl. C/2006/69 S. 16. - 9 - die Richtlinie. Am 15.03.2006 wurde der Entwurf durch das Europäische Parlament und den Ministerrat unterzeichnet19. Im Zusammenhang mit dem Beschluss vom 15. Dezember 2005 hat die Bundesregierung mehrfach erklärt, dass die Richtlinie auf europäischer Ebene notwendig sei20, aber verhältnismäßig sein müsse21. und eine Totalverweigerung in Brüssel kontraproduktiv und blockierend sei22. Im Juli 2006 hat Irland vor dem EuGH Klage gegen die Richtlinie erhoben, in der es die Auffassung vertritt23, dass die Richtlinie als Rahmenbeschluss hätte erlassen werden müssen. Zweifel an der Wahl der richtigen Rechtsgrundlage hat auch mehrfach der Deutsche Bundestag geäußert (vgl. BT-Drs. 16/54524 und BT-Drs. 16/162225). Die Zweifel wurden kürzlich durch das Urteil des EuGH vom 30. Mai 2006 zur Weitergabe von Fluggastdaten an die USA26 bekräftigt, in dem der EuGH den Beschluss zur Weitergabe der Daten wegen der mit Art. 95 EGV falschen Rechtsgrundlage für nichtig erklärte. So erklärte Bundesjustizministerin Zypries nach dem Urteil, „dass das Klageverfahren [zu der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung (der Verf.)] vor dem Europäischen Gerichtshof offen steht“27. Allerdings lehnte der Bundestag einen Antrag28 zur Prüfung der Richtlinie durch den EuGH in seiner Sitzung vom 20. Juni 2006 ab29. Es besteht gleichwohl die Möglichkeit, dass die Richtlinie vom EuGH für nichtig erklärt wird. 19 ABl. L/2006/105 S. 54. 20 Alfred Hartenbach, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Plenarprotokoll , 16/08 vom 15. Dezember 2005, S. 554C. 21 Drs. 15/3901. 22 Alfred Hartenbach, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Plenarprotokoll , 16/08 vom 15. Dezember 2005, S. 554C. 23 In der ersten Fassung dieses Gutachtens haben die Verfasser unter Berufung auf Beck-online irrtümlich behauptet, Irland und die Slowakei hätten im Mai 2006 Klage erhoben. 24 Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD „Speicherung mit Augenmaß – Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“ vom 7.2.2006, BT-Drs. 16/545. 25 Fraktionsübergreifender Antrag „Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen“ vom 26.5.2006, BT-Drs. 16/1622. 26 Urteil des EuGH vom 30.5.2006, verbundene Rechtssachen C-317/04 und C-318/04. 27 „Der Standard“, Wien, vom 1. Juni 2006. 28 Fraktionsübergreifender Antrag „Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen“ vom 26.5.2006, BT-Drs. 16/1622. 29 Vgl. Plenarprotokoll 16/38 vom 20. Juni 2006, S. 3527D, Anlage 2. - 10 - 3.2.2. Vereinbarkeit der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit Gemeinschaftsgrundrechten 3.2.2.1. Das System des Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht Wie bereits dargestellt, richtet sich die Rechtmäßigkeit der Richtlinie allein nach Gemeinschaftsrecht , nicht jedoch nach den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten. Allerdings verpflichtet sich die Union in Art. 6 Vertrag über die Europäische Union (EUV) zur Achtung der Menschenrechte. Zudem hat der EuGH eine Verpflichtung der Gemeinschaft auf Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt. Mit dem Vertrag von Maastricht ist für diese Rechtsprechung eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in Art. 6 Abs. 2 EUV geschaffen worden30. Danach achtet die Union die Grundrechte , wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Trotz des methodisch komplizierten und nicht ganz klaren Wegs31 zur Anwendung von Grundrechten auf Gemeinschaftsebene, ist aufgrund der Rechtsprechung des EuGH als gesichert anzusehen , dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der EuGH zu wahren hat32. Ausgehend von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten erkennt der EuGH demnach Maßnahmen als rechtswidrig an, die mit den von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten unvereinbar sind. Dies heißt jedoch nicht, dass die nationalen Grundrechte und ihre Auslegung durch die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten unverändert übernommen würden. Vielmehr nutzt der EuGH die nationalen Verfassungen und die Menschenrechtsverträge nicht als Rechtsquellen, sondern als Rechtserkenntnisquellen und entwickelt aus diesen rechtsvergleichend und unter Berücksichtigung spezifischer Gemeinschaftsinteressen autonom die Gemeinschaftsgrundrechte33. Abzustellen ist also allein auf die Auslegung der Grundrechte durch den EuGH; dies gilt seit einer Änderung der Rechtsprechung des EGMR im Jahr 2005 auch für die EMRK. In seiner „Bosphorus-Entscheidung“ 34 hat der EGMR das Verhältnis zwischen dem Menschenrechtsschutz der EMRK und dem Gemeinschaftsrecht neu geordnet und festgelegt , dass für auf der Grundlage von EU-Recht ergangene Maßnahmen eine – allerdings widerlegbare – Vermutung der Vereinbarkeit mit der EMRK besteht, weil das 30 Vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rn. 753. 31 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 759. 32 Grundlegend sind insofern die Urteile in den Fällen „Internationale Handelsgesellschaft“ (Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 ff.) und „Nold“ (Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff.). 33 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 760. 34 EGMR, Urteil vom 30.6.2005, „Bosphorus Hava Yollari Turizm/Ticaret Anonim Sireketi (Irland)“, Application Nr. 45036/98, NJW 2006, 197ff. Siehe dazu ferner Bröhmer, Die Bosphorus- Entscheidung des EGMR, EuZW 2006, 71ff. - 11 - Unionsrecht sowohl materiell als auch prozessual gewährleiste, dass ein der EMRK gleichwertiger Grundrechtschutz sichergestellt werde. Erst wenn der Grundrechtsschutz in der EU gemessen am EMRK-Standard „offensichtlich unzulänglich“ werde, hätten Beschwerden gegen Gemeinschaftshandlungen vor dem EGMR wieder Aussicht auf Erfolg. Da ein Absenken der Grundrechtsstandards in der EU unter diese Schwelle derzeit nicht ersichtlich ist, sollen im Folgenden Erwägungen zur Prüfung der Vereinbarkeit der Richtlinie mit den Gemeinschaftsgrundrechten dargestellt werden. Danach werden nur – mangels Vorliegen eines konkret zu bewertenden Gesetzesentwurfs – die sich aus den nach dem Grundgesetz ergebenden Vorgaben für die Umsetzung der Richtlinie dargestellt . 3.2.2.2. Betroffenheit einzelner Grundrechte durch die Vorratsdatenspeicherung Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist in der Charta der Grundrechte in Art. 8 garantiert. Sekundärrechtlich hat die Gemeinschaft den Datenschutz zudem mit der Datenschutzrichtlinie35 von 1995, der Datenschutzverordnung36 von 2000 und der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation37 von 2002 weiter ausgestaltet. Bereits vor diesen Kodifizierungen hat der EuGH entschieden, dass es sich beim Datenschutz um einen in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten anerkannten allgemeinen Grundsatz handelt, der in die Datenschutzrichtlinie übernommen wurde38. Indem im Rahmen der Vorratsdatenspeicherungen Informationen über persönliche Kommunikationsverbindungen gespeichert und in bestimmten Fällen ausgewertet werden können, ist das Gemeinschaftsgrundrecht des Datenschutzes durch die Richtlinie 2006/24/EG betroffen . Zudem könnte die Richtlinie das nun in Art. 7 der Charta der Grundrechte fixierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation tangieren. Diese Rechte entsprechen ausdrücklich dem Inhalt des Art. 8 EMRK. Grundlegend für die Herausbildung dieses Gemeinschaftsgrundrechts war die Hoechst- 35 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. L 281 vom 23.11.1995. 36 Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl. L 8/1 vom 12.1.2001. 37 Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation , ABl. L 201 S. 37 vom 31.7.2002. 38 EuGH, Rs. 369/98 „TR and P Fisher”, Slg. 2000, I-6751, Rn. 34. - 12 - Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 198939. Mit der Formulierung „Kommunikation“ in Art. 7 der Charta wird dem technischen Fortschritt Rechnung getragen und der Schutzbereich über die frühere „Korrespondenz“ hinaus auf moderne Formen des Informationsaustauschs erweitert. Allerdings beeinträchtigt die Vorratsdatenspeicherung nicht die Übermittlung von Nachrichten als solches, sondern schließt sich erst später an den Kommunikationsvorgang an. Teilweise werden Eingriffe der Gemeinschaft in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis des Einzelnen mangels grundrechtssensibler Tätigkeiten daher für unwahrscheinlich gehalten40. Dies berücksichtigt allerdings nicht hinreichend, dass nicht nur finale Eingriffe in eine grundrechtlich geschützte Handlungsweise einer Rechtfertigung bedürfen, sondern auch mittelbare. Der EuGH hat, nachdem er nicht-finalen Eingriffen zunächst reserviert gegenüber stand, zunehmend auch das Institut des mittelbaren Eingriffs anerkannt41. Eine solche Beeinträchtigung durch die Vorratsdatenspeicherung könnte sich ergeben, wenn sich Personen aufgrund des Wissens um die Speicherung ihrer Verbindungsdaten von der Nutzung der Kommunikationsmittel abschrecken ließen oder sich in der Nutzungsweise einschränkten. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Nutzung der elektronischen Kommunikation beachtlich, weil sich über deren Überwachung die Lebensführung des Nutzers solcher Einrichtungen leicht nachvollziehen lässt. Schließlich kommt durch die Richtlinie 2006/24/EG ein Eingriff in die Berufsfreiheit42 gemäß Art. 15 der Charta und die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit43 der Telekommunikationsanbieter in Betracht. Diese gehören nach ständiger Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, gelten aber nicht absolut. Allgemeine kaufmännische Interessen oder Gewinnerwartungen der Markteilnehmer sind daher nicht grundrechtlich geschützt, sofern ihre Ungewissheit zum Wesen der wirtschaftlichen Betätigung gehört44. Zudem können sie Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese dem Gemeinwohl dienenden Zwecken der Gemeinschaft entsprechen und nicht unverhältnismäßig sind. Die Verpflichtung zur mehrmonatigen Speicherung von Verbindungsdaten belastet die Telekommunikationsanbieter aufgrund der Anschaffung der dafür notwendigen Infrastruktur, da die gesetzlichen Anforderungen über die für die reine Entgeltabrechnung notwendigen Daten hinausgehen und einen höheren Verwaltungsaufwand erfordern. Die Unternehmen sind daher nicht nur in den zum Ge- 39 EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88 „Hoechst”, Slg. 1989, 2859, 2924. 40 Vgl. Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rn. 94. 41 So z.B. EuGH Rs. T-113/96 „Dubois et fils/Rat und Kommission“, Slg. 1998, II-125, Rn. 75; Rs. C- 84/95 „Bosphorus“, Slg. 1996, I-3953, Rn. 22f. 42 EuGH, Rs. 4/73, “Nold“, Slg. 1974, 491ff. 43 EuGH, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 „Zuckerfabrik Süderdithmarschen“, Slg. 1991, I-415, 552f. 44 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rn. 139. - 13 - schäftsrisiko gehörenden Entwicklungen des Kundenverhaltens betroffen, sondern werden direkt aufgrund der Richtlinie zu einem kostenintensiven Verhalten veranlasst. Hierbei handelt es sich daher um einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff. 3.2.2.3. Rechtfertigung eines Eingriffs in die genannten Grundrechte Nach der Grundrechtsdogmatik des EuGH, die durch Art. 52 Abs. 1 der Charta fortentwickelt wurde45, können die Gemeinschaftsgrundrechte unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden. Notwendig ist dafür eine gesetzliche Grundlage wie die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Zudem muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden und der Wesensgehalt des Grundrechts gewahrt bleiben. Dabei ist die Schutzintensität bei Persönlichkeitsrechten wie dem Grundrecht auf Datenschutz und freie Kommunikation weitergehend als bei der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, die den Grundrechtsträger in seiner sozialen und nicht privaten Sphäre trifft. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme setzt zunächst das Vorliegen eines legitimen Ziels voraus. In den Erwägungsgründen der Richtlinie 2006/24/EG werden als solche Ziele die Bekämpfung von Straftaten, Organisierter Kriminalität und Terrorismus genannt 46. Zur Erreichung dieser Ziele muss das Mittel der Vorratsdatenspeicherung geeignet , geboten und angemessen sein. Zweifel an der Geeignetheit könnten sich daraus ergeben, dass Kriminelle oder Terroristen in der Lage sein könnten, die Verfolgbarkeit ihrer Daten zu verhindern, indem sie beispielsweise über Dritte die notwendigen Kommunikationsgeräte erwerben, diese häufig wechseln oder öffentliche Kommunikationsmittel wie Telefonzellen oder Internetcafés nutzen sowie technische Vorkehrungen gegen die Speicherung von IP-Adressen (Internet-Protocol-Adresse) treffen. Allerdings ist es bei der Prüfung der Geeignetheit unbeachtlich, dass die Maßnahme im Einzelfall keinen Erfolg haben wird, wenn sie insgesamt zur Verminderung von Kriminalität und Terrorismus beiträgt. Diesbezüglich ist unter Einräumung eines Einschätzungsspielraums für den Richtliniengeber nicht auszuschließen, dass die Vorratsdatenspeicherung das genannte Bedrohungspotenzial zu vermindern geeignet ist. Größere Bedenken bestehen bei der Erforderlichkeit der europaweiten Vorratsdatenspeicherung für die effektive Terrorismus- und Effektivitätsbekämpfung. Eine Maßnahme ist dann nicht erforderlich, wenn es gleich geeignete, weniger belastende Alternativen gibt47. Als eine solche käme beispielsweise die in den USA seit längerem praktizierte Variante der „Data Preservation“ in Betracht. Darunter versteht man ein Verfah- 45 Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 6. Auflage, Baden-Baden 2005, § 2, Rn. 11. 46 Erwägungsgründe 4-11 der Richtlinie 2006/24/EG. 47 St. Rspr. des EuGH, vgl. Rs. 265/87 „Schräder“, Slg. 1989, 2237, 2269f. - 14 - ren, nach dem die Daten einer verdächtigen Person ab einem bestimmten Zeitpunkt (sog. „Data Freeze“) auf richterliche Anordnung gespeichert werden48. Diese Regelung passt sich in das auch in Deutschland praktizierte strafprozessuale Verfahren der verdachtsabhängigen Telekommunikationsüberwachung (§§ 100a ff. StPO) ein, ohne jeden Nutzer elektronischer Kommunikation einem präventiven Verdacht zur unterwerfen. Ferner ist zweifelhaft, ob die in Art. 6 der Richtlinie 2206/24/EG vorgesehenen Speicherfristen von sechs Monaten bis zwei Jahren erforderlich für die Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus sind. Bislang liegen zwar nur geringe Erkenntnisse über den Nutzen der Vorratsdatenspeicherung vor. Aus den Analysen schwedischer und britischer Stellen ergibt sich aber, dass sich die Datenabfragen der Behörden zu 80-85% auf den Zeitraum der letzten drei Monate beziehen49, so dass die Erforderlichkeit einer längeren Speicherfrist zumindest mit berechtigten Argumenten angezweifelt werden kann. Hinzu kommt, dass nach derzeitigem technischem Stand die Suchlaufdauer bei größeren Datenvolumen stark erhöht wird und die Tauglichkeit des Instruments in Frage stellt. Verstärkt wird diese Argumentation durch den Umstand der entstehenden Kostenlast für die Speicherung des Datenvolumens, die zunächst die Telekommunikationsunternehmen und über die Gebühren letztlich den Telekommunikationsnutzer treffen. Nach Berechnungen des Branchenverbandes BITKOM handelt es sich dabei um Anlaufinvestitionen in Höhe von 150 Mio. Euro ohne Berücksichtigung der Kosten für den laufenden Betrieb. Die anlassbezogene Speicherung der Daten führt zu einem geringeren Aufwand für die privaten Anbieter und belastet diese geringer in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit . Zwar ist die Heranziehung privater Unternehmen zur Verbrechensbekämpfung nicht grundsätzlich unzulässig, sondern wird im Gegenteil bereits nach geltendem Recht praktiziert. Allerdings können öffentliche Aufgaben, wie die Wahrung der Sicherheit und Ordnung, nicht in beliebigem Maße auf Private übergewälzt werden, ohne dass diese eine Entschädigung erhalten. Angesichts der Höhe der notwendigen Investitionen und der bereits angesprochenen zweifelhaften Erfolgsaussicht der Maßnahmen ist die Wahrung der Gebotenheit und der Angemessenheit der Regelung problematisch . 48 Büllingen, Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten im internationalen Vergleich, in: DuD 2005, 349, 350. 49 Büllingen, ebenda, S. 351. - 15 - 3.3. Zwischenergebnis Rechtmäßigkeitsmaßstab für die Richtlinie ist ausschließlich das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Gemeinschaftsgrundrechte. Die Vorratsdatenspeicherung betrifft das Grundrecht des Datenschutzes, der Kommunikation und die Berufsfreiheit der Telekommunikationsanbieter . Mangels tragfähiger Daten über die Erfolgsaussichten der Vorratsdatenspeicherung und die demgegenüber zu stellenden Lasten ist eine abschließende Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Regelungen der Richtlinie nicht möglich . Selbst unter Berücksichtigung eines Einschätzungsspielraums für den Richtliniengeber scheint die Gebotenheit und Angemessenheit allerdings zweifelhaft. 4. Vorgaben des Grundgesetzes für ein Umsetzungsgesetz zur Richtlinie RL 2006/24/EG Da bislang noch kein Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG in deutsches Recht vorliegt, muss sich eine verfassungsrechtliche Prüfung auf das Aufzeigen des bei der Umsetzung zur wahrenden verfassungsrechtlichen Rahmens beschränken. Dabei ist die Prüfung an der Ankündigung der Regierungsfraktionen50 auszurichten, es würden hinsichtlich der Speicherungsdauer und der erfassten Datenarten keine über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinausgehenden Pflichten eingeführt. Dies gelte insbesondere für die Speicherungsfrist von sechs Monaten und die Beschränkung der Datenabfrage zu Zwecken der Strafverfolgung auf die Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten. Zudem sollen keine Daten gespeichert werden, die über den Inhalt der Kommunikation Aufschluss geben könnten. Schließlich haben sich die Koalitionsfraktionen für eine angemessene Entschädigung der Telekommunikationsunternehmen für deren Inanspruchnahme ausgesprochen. 4.1. Eingriff in Grundrechte 4.1.1. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Umsetzungsgesetz zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung muss die Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung berücksichtigen, das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird51. Nach diesem vom Bundesverfassungsgericht 1983 im Volkszählungsur- 50 Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD „Speicherung mit Augenmaß – Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung“, BT-Drs. 16/545. 51 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 173. - 16 - teil52 eingeführten Begriff folgt aus dem Gedanken der Selbstbestimmung die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden53. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze generell vor staatlicher Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten und ist nicht auf den Anwendungsbereich der Datenschutzgesetze des Bundes oder der Länder oder anderer Sonderreglungen beschränkt54. Damit folgt das Bundesverfassungsgericht dem Ansatz, dass alle Daten unabhängig von ihrer Art „belangvoll“ seien, um so eine umfassende Prüfung und Abwägung anknüpfend an deren Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit sicherzustellen55. Zwar ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Ansicht des Gerichts nicht schrankenlos gewährleistet, sondern erlaubt Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse, wenn diese unerlässlich sind56. Die Anforderungen hieran sind vergleichsweise streng57. Der Eingriff in den Schutzbereich unterliegt zunächst dem Vorbehalt des Gesetzes in Form eines Parlamentsgesetzes58. Wesentliche Entscheidungen bei der Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG können daher nicht auf dem Verordnungswege ergehen, sondern müssen vom Bundestag beschlossen werden. Dies betrifft beispielsweise die Frage der Speicherdauer und der zu erfassenden Daten. Selbst wenn diese Kriterien gesetzlich geregelt werden, sind sie zudem einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen, die ähnlichen Bedenken, wie den bereits oben hinsichtlich der europäischen Grundrechte aufgeworfenen, begegnet. Dabei ist allerdings für jede im Umsetzungsakt getroffene Einzelregelung gesondert zu prüfen, wie sehr die Datenspeicherung in den privaten Bereich der Betroffenen eindringt. So wirft die in der Richtlinie vorgesehene Aufzeichnung von Name und Anschrift jedes Kommunikationspartners59 größere Probleme auf als die schlichte Speicherung der Telefonnummer ohne direkte Rückführungsmöglichkeit zum Betroffenen. 52 BVerfGE 65, 1ff. 53 BVerfGE 65, 1, 42. 54 BVerfGE 78, 77, 84. 55 Bull, Zweifelsfragen um die informationelle Selbstbestimmung - Datenschutz als Datenaskese?, NJW 2006, 1617, 1618. 56 BVerfGE 65, 1, 44; 67, 100, 143. 57 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 181. 58 Hoffmann-Riem, Informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft, AöR 123 (1998), 513, 527. 59 U.a. Art. 5 Abs. 1 a) 1. ii. RL 2006/24/EG. - 17 - 4.1.2. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis Ähnliche Bedenken ergeben sich aus der Betroffenheit des Grundrechts aus Art. 10 GG, dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Auch dieses Grundrecht dient der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Intimität des privaten und geschäftlichen Verkehrs und in diesem Sinne höchstpersönlicher Rechte60. Diesbezüglich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner „Rasterfahndungs-Entscheidung“61 Maßstäbe aufgestellt, die die verfassungsmäßige Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erschweren. Das Gericht hat sich ausdrücklich gegen die „globale und pauschale Überwachung“ nicht näher konkretisierbarer Fernmeldebeziehungen gewandt62. Es erscheint zweifelhaft , ob die durch die Vorratsdatenspeicherung vorgesehene Kontrolle aller Kommunikationsteilnehmer durch eine klare Verwendungsregel für personenbezogene Daten, wie sie das Verfassungsgericht darüber hinaus fordert, hinreichend ausgeglichen werden kann. Der verfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Rasterfahndung lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem man die betroffenen Personen nach allgemein-abstrakten Merkmalen zuvor festlegte63. Bei der Vorratsdatenspeicherung nach der Richtlinie 2006/24/EG werden hingegen keine fahndungsrelevanten Gruppen abgesondert, sondern alle Telekommunikationsteilnehmer gleichermaßen einbezogen. 4.1.3. Berufs- und Gewerbefreiheit Abschließend ist das Grundrecht der privaten Telekommunikationsbetreiber auf freie Berufausübung aus Art. 12 GG und das aus Art. 14 GG Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb64 zu erwähnen. Diesbezüglich wird auf die oben gemachten europarechtlichen Ausführungen Bezug genommen, die sich sinngemäß auch auf die deutschen Grundrechte übertragen lassen. Da die Telekommunikationsunternehmen zur Erfüllung hoheitlicher Ermittlungsmaßnahmen in Anspruch genommen werden, wodurch ihnen der Umfang der zu speichernden Kundendaten vorgeschrieben wird sowie größere Investitionskosten verursacht werden, sind bei der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht mögliche Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen. Dies soll nach der Ankündigung der Koalitionsfraktionen in einem entsprechenden Gesetz allerdings berücksichtigt werden65. 60 Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR Bd. VI, 2. Aufl. Heidelberg 2001, § 129 Rn. 61. 61 BVerfG, Urteil v. 14.7.1999, EuGRZ 1999, 389ff. 62 Löwer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG. Art. 10 Rn. 52. 63 Horn, Vorbeugende Rasterfahndung und informationelle Selbstbestimmung, DÖV 2003, 746, 748. 64 Dazu Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG. Art. 14 Rn. 18. 65 BT-Drs. 16/545, S. 4. - 18 - 4.2. Zwischenergebnis Unabhängig von den angedeuteten Zweifeln an der Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Umsetzung der EU-Richtlinie, ist erneut in Erinnerung zu rufen, dass die Umsetzungspflicht Deutschlands auf Gemeinschaftsebene bestehen bliebe, selbst wenn das Bundesverfassungsgericht ein entsprechendes Gesetz verwerfen würde. Zu erwähnen ist allerdings die Möglichkeit, dass die zugrunde liegende Richtlinie zuvor vom EuGH für nichtig erklärt werden kann66. 5. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Richtlinie und ihre Umsetzung 5.1. Gegen die Richtlinie Gegen die Richtlinie selbst ist ein Vorgehen nach Art. 230 EGV mit der so genannten Nichtigkeitsklage möglich. Antragsberechtigt sind gemäß Art. 230 Abs. 2 EGV allerdings nur die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission ; einer spezifischen Antragsbefugnis bedarf es nicht. Ausschließlich zuständig für die Entscheidung über die Konformität der Richtlinien mit EG-Recht ist der EuGH. Im Juli 2006 hat Irland die Nichtigkeitsklage erhoben. Nach Art. 230 Abs. 4 EGV können Individualklagen durch juristische und natürliche Personen erhoben werden. Jedoch ist der Gegenstand dieser Klagen nach dem Wortlaut auf an den Kläger gerichtete Entscheidungen beschränkt. Zusätzlich ist die Individualklage aber auch möglich, wenn formell als Verordnung (sogenannte „Scheinverordnungen “) oder als Richtlinien (sogenannte „Scheinrichtlinien“)67 oder als an andere Personen gerichtete Entscheidungen ergangen sind, die den Kläger unmittelbar und individuell betreffen68. 5.2. Gegen die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht 5.2.1. Fachgerichtlicher Rechtsschutz Da Richtlinien grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung entfalten, müssen sie, um innerstaatlich Wirkung zu entfalten, umgesetzt werden. Hierbei sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich in der Wahl der Form und Mittel nicht gebunden, vgl. Art. 249 Abs. 3 EGV. Geht es – wie bei der Speicherung von Daten – um einen grundrechtsrelevanten 66 Vgl. oben Gliederungspunkt 3.2.1. 67 Cremer, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG Vertrag, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel 2003, Art. 230 EGV Rn. 39. 68 Cremer, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), Art. 230 EGV Rn. 27. - 19 - Bereich69, zwingt in Deutschland bereits der verfassungsrechtliche Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes dazu, dass sich das Parlament damit befasst und ein formelles Gesetz erlässt. Dieses unterliegt den gleichen Rechtsschutzmöglichkeiten wie andere (rein nationale) Gesetze auch. In concreto heißt das: Ein direktes Vorgehen gegen das umsetzende Gesetz selbst vor den Fachgerichten scheidet aus, da die Kontrolle und Verwerfung formeller Gesetze dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist70. Gegen mögliche Vollzugsakte ist – je nach Einzelfall – der ordentliche Rechtsweg oder der Verwaltungsrechtsweg gegeben. 5.2.2. Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht Vor dem Bundesverfassungsgericht kommen theoretisch drei Verfahren zur Überprüfung in Betracht: die Verfassungsbeschwerde, die abstrakte Normenkontrolle und die konkrete Normenkontrolle. Eine Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 lit. a) GG direkt gegen das Umsetzungsgesetz ist jedoch nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. Unmittelbarkeit liegt insbesondere dann vor, wenn das Gesetz keines weiteren Vollzugsaktes bedarf, also „self-executing“ ist. In Einzelfällen kann der vermittelnde Vollzugsakt auch entbehrlich sein, etwa, weil kein Rechtsweg beschritten werden kann, weil es ihn nicht gibt oder der Beschwerdeführer keine Kenntnis von der Maßnahme erlangen kann71. Die abstrakte Normenkontrolle als objektives Beanstandungsverfahren kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages eingeleitet werden. Auch hier prüft das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des Umsetzungsgesetzes mit der Verfassung. Schließlich besteht noch die Möglichkeit, dass mittelbar der Weg zum Bundesverfassungsgericht führt – nach Art. 100 Abs. 1 GG können Fachgerichte im Wege der konkreten Normenkontrolle ein aus ihrer Sicht verfassungswidriges Gesetz vorlegen. 69 Vgl. die obigen Ausführungen unter S. 14ff. 70 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgericht Kommentar, Band 2, Loseblattsammlung, Stand: Januar 2005, § 90, Rdnr. 178. Die Normenkontrolle nach § 47 VwGO greift nicht durch, da nur die in § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwGO genannten Rechtsnormen kontrollfähig sind. 71 Bethge, a.a.O., § 90, Rn. 376. - 20 - 5.2.3. Prüfungsumfang Sowohl bei der Prüfung durch Fachgerichte wie auch bei einer möglichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht wird die Umsetzung allein anhand des nationalen (Verfassungs-)Rechts überprüft. Sollten die Fachgerichte oder das Bundesverfassungsgericht Zweifel an der Gültigkeit der Richtlinie selbst haben, so ist nach Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV das so genannte Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen: Das mit der Sache befasste Gericht legt bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der zur Umsetzung zwingenden Richtlinie diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vor. Der EuGH prüft dann (wie auch bei der Nichtigkeitsklage), ob die Richtlinie mit europarechtlichen Vorgaben übereinstimmt und klärt, wie sie zu interpretieren ist. 5.3. Konsequenzen bei Verwerfung des Umsetzungsgesetzes Sollte die Umsetzung der Richtlinie gegen nationales Verfassungsrecht – beispielsweise gegen Grundrechte – verstoßen, so wird das Gesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetz oder für nichtig erklärt, § 78 S. 1 BVerfGG. Innerstaatlich entfaltet es dann keine Wirksamkeit mehr, § 31 BVerfGG. Es bleibt indes bei der aus Art. 249 EGV i.V.m. Art. 10 EGV resultierenden Umsetzungsverpflichtung, die den Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin bindet. Steht Verfassungsrecht der Umsetzung entgegen, so muss gegebenenfalls eine Verfassungsänderung vorgenommen werden. Die Umsetzungsverpflichtung dürfte nur in drei Fällen entfallen: Erstens, wenn auch der deutsche Verfassungsgeber die Richtlinie wegen Art. 79 Abs. 3 GG nicht umsetzen dürfte, weil ein Verstoß die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG verletzte. Zweitens, wenn durch die Umsetzung der Wesensgehalt der Grundrechte, vgl. Art. 19 Abs. 2 GG, gefährdet wäre. Und drittens, wenn sich die europäischen Organe bei Erlass der Richtlinie nicht in den Grenzen der Hoheitsbefugnisse bewegt haben, die ihnen von den Mitgliedstaaten eingeräumt worden sind72. 72 Hölscheidt, Verfahren der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedsstaaten, in: Magiera /Sommermann (Hrsg.), Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der Europäischen Union , Berlin 2002, S. 57 f. m.w.N. - 21 - 6. Zusammenfassende Bewertung Es bestehen erhebliche Bedenken, ob die Richtlinie in der beschlossenen Form mit dem Europarecht vereinbar ist. Dies betrifft zum einen die Wahl der Rechtsgrundlage, zum anderen die Vereinbarkeit mit den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechten. Hinsichtlich des Umsetzungsaktes kann mangels Gesetzentwurf keine abschließende Bewertung getroffen werden. Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur informationellen Selbstbestimmung, zu Art. 10 GG und zu den Art. 12 und 14 GG sein. Rechtschutz gegen die Richtlinie kann vor dem EuGH, der bereits mit ihr befasst ist, erlangt werden. Gegen das Umsetzungsgesetz kann vor dem Bundesverfassungsgericht mittels Verfassungsbeschwerde, abstrakter Normenkontrolle und konkreter Normenkontrolle vorgegangen werden. Sollten sich in einem solchen Verfahren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Richtlinie ergeben, ist die entsprechende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. - 22 - - Literaturverzeichnis - − Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel, Die Europäische Union, 6. Auflage, Baden-Baden 2005. − Bröhmer, Jürgen, Die Bosphorus-Entscheidung des EGMR, EuZW 2006, 71ff. − Bull, Zweifelsfragen um die informationelle Selbstbestimmung - Datenschutz als Datenaskese?, NJW 2006, S. 1617ff. − Büllingen, Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten im internationalen Vergleich, in: DuD 2005, S. 349ff. − Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblattsammlung. − Cremer, Wolfram, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG Vertrag, 2. Aufl., Neuwied/Kriftel 2003. − Hoffmann-Riem, Informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft , AöR 123 (1998), 513, 527. − Hölscheidt, Sven, Verfahren der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedsstaaten , in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der Europäischen Union, Berlin 2002, S. 57ff. − Horn, Hans-Detlef, Vorbeugende Rasterfahndung und informationelle Selbstbestimmung , Die Öffentliche Verwaltung 2003, 746, 748. − Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, 2. Aufl., Heidelberg 2001. − Maunz, Theodor/Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Klein, Franz/Bethge, Herbert, Bundesverfassungsgerichtsgesetz , Kommentar, Band 2, Loseblattsammlung, München. − Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz - Kommentar, Loseblattsammlung, München. − Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., München 2003. − Schwarze, Jürgen (Hrsg), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000. − Streinz, Rudolf, Europarecht, 7. Aufl., Heidelberg 2005. − von Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 5. Auflage , München 2000.