© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 277/16 Schule und Religionsfreiheit Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen rechtlich zulässig? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Tragen einer muslimischen Kopfbedeckung 6 4.1.1.2. Muslimische Kopfbedeckung im vorpubertären Alter 6 4.1.2. Schutzbereich des religiösen Erziehungsrecht der Eltern, Art. 6 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG 8 4.2. Eingriff in den Schutzbereich 9 4.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs 9 4.3.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit 9 4.3.2. Kollidierende Grundrechte oder andere Verfassungsgüter 9 4.3.3. Staatliches Bestimmungsrecht im Schulwesen, Art. 7 Abs. 1 GG 10 4.3.3.1. Befugnis des Staates zur Unterrichtsgestaltung 10 4.3.3.1.1. Tragen eines Kopftuchs 11 4.3.3.1.2. Verschleierung des Gesichts 12 4.3.3.2. Erhaltung des Schulfriedens 14 4.3.4. Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates 15 4.3.5. Negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Mitschüler und Elternrecht jener Kinder 17 5. Ergebnis 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 4 1. Fragestellung Gefragt wird, ob es verfassungsrechtlich möglich sei, bundes- oder landesgesetzlich oder durch Satzung Bekleidungsvorschriften für Schulen zu normieren, die in die Religionsfreiheit der Schüler eingreifen. Gefragt wird insbesondere, ob Schülerinnen muslimischen Glaubens das Tragen eines Kopftuchs oder weitergehende Formen der Verschleierung (Niqab oder Burka) untersagt werden kann. Dabei soll unter Einbeziehung der einschlägigen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung zu Konflikten zwischen Schulpflicht und Religionsfreiheit bei der Darstellung der Abwägung zwischen den einzelnen Verfassungsgütern auch das Alter der Schülerinnen berücksichtigt werden. Soweit ersichtlich liegt bislang keine Rechtsprechung zu einem Kopftuchverbot für Schülerinnen vor. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich daher im Wesentlichen auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen und die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in Bezug auf religiös motivierte Anträge auf Unterrichtsbefreiung. 2. Arten der Verschleierung In der islamischen Welt gibt es zahlreiche verschiedene Formen der Verschleierung.1 Ungeachtet der weiteren Differenzierungen werden vorliegend folgende Begriffsbestimmungen zugrunde gelegt : Das Kopftuch bedeckt die Haare und in der Regel den Hals und lässt das Gesicht frei; diese Form wird häufig auch als Hidschab bezeichnet.2 Ein Niqab ist ein kopfbedeckender Gesichtsschleier mit schmalen Augenschlitzen.3 Bei der Burka handelt es sich um einen Ganzkörperschleier, der nur ein mit Stoff vergittertes Feld vor den Augen freilässt.4 Im Folgenden wird für die verschiedenen Arten der Verschleierung der Begriff „muslimische Kopfbedeckung“ verwendet und nur differenziert , soweit es rechtlich erforderlich ist. 3. Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Religionsfreiheit Fraglich ist, auf welcher rechtlichen Grundlage grundsätzlich in die nach Art. 4 GG gewährleistete Glaubensfreiheit eingegriffen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen, verpflichten Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Regelungen selbst zu treffen. Der Grundsatz des Parlamentsvorbehalts bedingt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Gesetzes. Der Gesetzgeber müsse selbst die erforderlichen Leitlinien bestimmen, nach denen verfassungsimmanente Schranken vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte bestimmt und konkretisiert werden können. Insbesondere 1 Harenberg-Lexikon der Religionen (2002), S. 543. 2 S. Deutsche Welle, Hidschab, Tschador, Burka - den einen Schleier gibt es nicht, 22.08.2016 (http://www.dw.com/de/hidschab-tschador-burka-den-einen-schleier-gibt-es-nicht/a-19492920). 3 Brockhaus online, Stichwort Niqab (publiziert am: 28.05.2015). 4 Brockhaus online, Stichwort Niqab (publiziert am: 28.05.2015). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 5 im Schulwesen verpflichte das Grundgesetz den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen.5 Für einen Eingriff in die Religionsfreiheit bedürfte es folglich einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.6 Gemäß Art. 70 GG steht den Ländern im Bereich des Schulrechts die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zu.7 Der Bund könnte folglich grundsätzlich nicht tätig werden. 4. Vereinbarkeit eines Verbots des Kopftuchs beziehungsweise der Vollverschleierung für Schülerinnen mit dem Grundgesetz Fraglich ist, ob Schülerinnen das Tragen einer muslimischen Kopfbedeckung in der Schule generell untersagt werden könnte. 4.1. Verfassungsrechtlicher Schutz des Tragens eines Kopftuchs und der Vollverschleierung Ein solches Verbot könnte das Grundrecht auf Religionsfreiheit, Art. 4 GG, sowie das religiöse Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 GG verletzen. 4.1.1. Schutzbereich der Religionsfreiheit, Art. 4 GG Gemäß Art. 4 Abs. 1 GG sind die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich. Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten beide Absätze des Art. 4 GG ein einheitliches umfassend zu verstehendes Grundrecht.8 Dieses erstreckt sich nicht nur auf die innere Glaubensfreiheit, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Neben kultischen Handlungen und der Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche sind damit Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens umfasst.9 Auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten, 5 BVerfGE 108, 282, 310 f. 6 BVerfGE 108, 282, 310 f.; BVerfGE 83, 130, 142.) 7 Uhle, in: Maunz/Dürig (2016), Art. 4, Rn. 115. 8 BVerfGE 138, 296, 328 f. m.w.N.; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 58. 9 BVerfGE 138, 296, 329; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 58. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 6 gehört dazu.10 Gleichfalls wird das Tragen bestimmter, den Grundsätzen einer Religionsgemeinschaft entsprechender Kleidung von Art. 4 GG geschützt.11 4.1.1.1. Tragen einer muslimischen Kopfbedeckung Das Tragen eines in einer für den Islam typischen Weise gebundenen Kopftuchs wird insbesondere auf zwei Stellen im Koran (Sure 24, Vers 31 und Sure 33, Vers 59) zurückgeführt und ist in der islamischen Welt weit verbreitet.12 Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich demnach nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen.13 Nicht maßgebend ist, dass der genaue Inhalt der Bekleidungsvorschriften des Korans unter den verschiedenen Glaubensrichtungen des Islams umstritten ist.14 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es vielmehr ausreichend, dass diese Betrachtung unter den verschiedenen Richtungen des Islams verbreitet sei. Teilweise werde ein Bedeckungsgebot im Islam auch als unbedingte Pflicht eingeordnet.15 Daher komme es nicht darauf an, dass andere Richtungen des Islam ein als verpflichtend geltendes Bedeckungsgebot für Frauen nicht kennten.16 Auch die Arten der Verschleierung sind sehr unterschiedlich; wie weit diese reicht ist von Land zu Land unterschiedlich und hängt ebenso von der Frömmigkeit und dem Grad der konservativen Ausrichtung ab.17 Empfindet eine Muslimin vor diesem Hintergrund die Vollverschleierung in Form eines Niqab oder einer Burka als verbindliches Gebot, fällt dieses Verhalten ebenfalls grundsätzlich in den Schutzbereich der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 GG.18 4.1.1.2. Muslimische Kopfbedeckung im vorpubertären Alter Fraglich ist, ab welchem Alter einer Schülerin das Tragen einer islamischen Kopfbedeckung von Art. 4 GG geschützt ist. 10 BVerfGE, 108, 282, 297; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 58. 11 Kokott, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar (2014), 7. Aufl., Art. 4 Rn. 33. 12 BVerfGE 138, 296, 330. 13 BVerfGE 138, 296, 330; BVerfGE 108, 282, 299; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, Rn. 59. 14 BVerfGE 108, 282, 298f.; BVerfGE 138, 296, 330; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 59. 15 BVerfGE 138, 296, 330. 16 BVerfGE 108, 282, 299; BVerfGE 138, 296, 330; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 59. 17 Harenberg-Lexikon der Religionen (2002), S. 542 f. 18 Bayrischer VGH. NVwZ 2014, 1109, 1109. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 7 Grundsätzlich steht auch Kindern das Recht auf Religionsfreiheit zu. Bis zum Erreichen ihrer Religionsmündigkeit (§ 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung - KErzG) werden sie diesbezüglich im Rahmen der elterlichen Sorge (Art. 6 Abs. 1 S. 1 GG) von ihren Eltern vertreten.19 Nach ganz überwiegender islamischer Ansicht gilt ein Verschleierungsgebot vor Eintritt der Pubertät als religiös nicht geboten.20 Insoweit stellt sich die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs auch bei Grundschülerinnen im vorpubertären Alter in den Schutzbereich von Art. 4 GG fällt. Bei der Bestimmung dessen, was als Religionsausübung zu betrachten ist, ist auch das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaft und des einzelnen Grundrechtsträgers zu berücksichtigen.21 Zwar bedeutet dies nicht, dass jedes Verhalten einer Person allein aufgrund deren subjektiver Würdigung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Vielmehr dürfen die staatlichen Organe, letztlich die Gerichte, prüfen und auch entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das infrage stehende Verhalten tatsächlich in plausibler Weise dem Schutzbereich der Religionsfreiheit zuordnen lässt.22 Den staatlichen Organen kommt dabei jedoch keine freie Bestimmungsmacht zu, sondern sie haben den vom Grundgesetz gemeinten und nach Sinn und Zweck verfassungsrechtlich verbürgten Begriff der Religion zugrunde zu legen.23 Dem Staat ist es dabei aber verwehrt, die Glaubensüberzeugungen der Bürger zu bewerten oder als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ zu beurteilen. Das gilt insbesondere dann, wenn dazu unterschiedliche Ansichten innerhalb einer Religionsgemeinschaft vertreten werden.24 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass im Islam keine monokratische Instanz existiert, welche die Lehre für die Religionsgemeinschaft allgemeinverbindlich festlegen würde beziehungsweise dürfte. Vielmehr ist der Islam in seinem Erscheinungsbild durch eine Vielzahl unterschiedlicher Ansichten zur Existenz von Glaubensvorschriften geprägt.25 Dementsprechend sind Bezugspunkt für eine Prüfung nicht notwendig der Islam insgesamt oder bestimmte Glaubensrichtungen dieser Religion. Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für die konkrete, 19 OVG Bremen, Beschluss v. 13.06.2012, 1 B 99/12, S. 3; Kokott, in: Sachs, Grundgesetz (2014), Art. 4, Rn. 8. 20 OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 25.02.2011 - 19 A 1482/09 -; Coumont, ZAR 2009, 9; Deutsche Islamkonferenz, Religiös begründete schulpraktische Fragen - Handreichung für Schule und Elternhaus, Anlage aus: Zwischen- Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises der Deutschen Islam Konferenz (DIK), Vorlage für die 4. Plenarsitzung der DIK, 25. Juni 2009, Berlin, S. 3 (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Gesellschaft -Verfassung/DIK/handreichung_schulen_eltern.pdf;jsessionid =5B35A24EFB6E3E1A75C04AE3A3A7AD6E.2_cid373?__blob=publicationFile). 21 BVerfGE 24, 236, 247 f.; BVerfGE 108, 282, 298 f.; BVerfGE 138, 296, 329; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 59. 22 BVerfGE 24, 236, 247 f.; BVerfGE 83, 341, 353; BVerfGE 104, 337, 354 f.; BVerfGE 108, 282, 298 f.; BVerfGE 138, 296, 329; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 59. 23 BVerfGE 83, 241, 353. 24 BVerfGE 24, 236, 247 f.; BVerfGE 83, 341, 353; BVerfGE 104, 337, 354 f.; BVerfGE 108, 282, 298 f.; BVerfGE 138, 296, 329; BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 59. 25 Coumont, ZAR 2009, 9 m.w.N.; Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706, 710 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 8 gegebenenfalls innerhalb einer solchen Glaubensrichtung bestehende Religionsgemeinschaft zu beantworten.26 Dem Grundrechtsträger obliegt jedoch die Darlegungslast, dass es sich um ein für ihn verbindliches Glaubensgebot handelt, von dem er nicht ohne Not absehen kann. Er hat konkrete, substantiierte und objektiv nachprüfbare Tatsachen vorzutragen, aus denen sich die Ernsthaftigkeit des Gewissenkonfliktes infolge des Zwanges, den eigenen Glaubensüberzeugungen zuwiderzuhandeln, ergibt.27 Folglich ist es letztlich nicht ausgeschlossen, dass die Ansicht, dass die islamischen Bekleidungsvorschriften auch für Mädchen vor Erreichen der Pubertät gelten, der Glaubensfreiheit im konkreten Einzelfall hinreichend plausibel zugeordnet werden kann. Die Rechtsprechung hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere im Rahmen von Entscheidungen über religiös motivierte Befreiungsanträge für Grundschülerinnen vom koedukativen Schwimmunterricht mit dieser Thematik befasst.28 4.1.2. Schutzbereich des religiösen Erziehungsrecht der Eltern, Art. 6 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG Auch das religiöse Erziehungsrecht der Eltern könnte von einem Verbot für Schülerinnen, eine Kopfbedeckung zu tragen, betroffen sein. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder und umfasst in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist danach Sache der Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln.29 Sie haben das Recht, ihre Kinder zur Beachtung religiöser Verhaltensregeln anzuhalten, d.h. in einem umfassenden Sinn auf eine alltägliche Lebensführung im Einklang mit den von den Eltern für verbindlich erachteten Glaubensgeboten hinzuwirken.30 Dementsprechend fällt das Tragen einer islamischen Kopfbedeckung ihres Kindes in den Schutzbereich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 4 GG. 26 BVerfG, DÖV 2002, 383, 386. 27 BVerwG, NVwZ 1994, 578, 579; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 25.02.2011 - 19 A 1482/09 -. 28 S. OVG Bremen, Beschluss v. 13.06.2012, 1 B 99/12, S. 4f. (bejaht für achteinhalbjähriges Mädchen); VG Augsburg, Beschluss v. 17.12.2008 - Au 3 E 08.1613 -, Rn. 25 f., juris (verneint für achtjähriges Mädchen); VG Düsseldorf, Urteil v. 30.05.2005 - 18 K 74/05 -, Rn. 27, juris (verneint für zehnjährigen Jungen); VG Hamburg, Beschluss v. 14.04.2005 - 11 E 1044/05 -, Rn. 15, juris (wohl eher verneint für neunjähriges Mädchen). 29 BVerfGE, 138. 296, 337; BVerfGE 108, 282, 301. 30 BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12 -, Rn. 23, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 9 Das Elternrecht ist entsprechend der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes zeitlich abgestuft. Es sinkt also mit zunehmender Eigenverantwortlichkeit des Kindes.31 4.2. Eingriff in den Schutzbereich Sofern das Tragen eines Kopftuchs beziehungsweise eines Niqab oder einer Burka in der Öffentlichkeit , also auch im Schulunterricht, aus religiösen Gründen als verpflichtend empfunden wird, stellt ein Verbot auch einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Schülerin und des religiösen Erziehungsrechts der Eltern dar.32 4.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs Die Grundrechte, also auch die Glaubensfreiheit gemäß Art. 4 GG, binden die Gesetzgebung, die Exekutive und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht, Art. 1 Abs. 3 GG.33 Um nicht verfassungswidrig zu sein, bedarf eine Beschränkung oder ein Eingriff der Glaubensfreiheit der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.34 4.3.1. Keine Beschränkung speziell der islamischen Bekenntnis- und Verkündungsfreiheit Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der Religionsfreiheit der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen.35 Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er in Glaubensfragen Neutralität bewahre.36 Ein Gesetz, dass sich ausschließlich gegen muslimische Bekleidungsvorschriften richtet, wäre folglich nicht zulässig. 4.3.2. Kollidierende Grundrechte oder andere Verfassungsgüter Das Grundgesetz sieht bei der Religionsfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt vor. Dies gilt auch für das religiöse Erziehungsrecht der Eltern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit aus der Verfassung selbst ergeben.37 Verfassungsimmanente Grenzen der Religionsfreiheit sind daher nur die Grundrechte Dritter und andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang, deren Beachtung dem Staat 31 Büscher/Glasmacher, JuS 2015, 513, 516. 32 BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016 - 1 BvR 354/11, Rn. 60. 33 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Kommentar, 78. Lfg., 2016, GG, Art. 4, Rn. 47. 34 Pieper, PdK Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (2015), 3.1.8 (beck online). 35 BVerfGE 91, 1, 16. 36 BVerfGE 93, 1, 16. 37 BVerfGE, 108, 282, 297; BVerfG, NVwZ 2008, 72, 73. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 10 aufgegeben ist.38 Die Einschränkungen eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts dürfen nicht formelhaft mit allgemeinen Zielen wie etwa dem „Schutz der Verfassung“ oder der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ gerechtfertigt werden. 39 Vielmehr müssen anhand einzelner Grundrechtsbestimmungen diejenigen verfassungsrechtlich geschützten Güter herausgearbeitet werden, die mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht kollidieren.40 Im Falle der Kollision ist zwischen den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten und den entgegen stehenden Grundrechten oder Verfassungsgütern im Wege der Abwägung und mit dem Ziel der Herstellung der „praktischen Konkordanz“ ein angemessener Ausgleich herbeizuführen.41 Dabei darf nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden, sondern alle sollen einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.42 Fehlte es an einem kollidierenden Rechtsgut mit Verfassungsrang, wäre eine Einschränkung der Glaubensfreiheit verfassungswidrig. 4.3.3. Staatliches Bestimmungsrecht im Schulwesen, Art. 7 Abs. 1 GG Art. 7 Abs. 1 GG statuiert die staatliche Aufsicht über das Schulwesen. Der Staat ist dabei in der Schule nicht auf das ihm durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zugewiesene Wächteramt beschränkt.43 Die Vorschrift begründet daher nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne des Wortes, sondern darüber hinaus einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.44 4.3.3.1. Befugnis des Staates zur Unterrichtsgestaltung Zum staatlichen Gestaltungsbereich gehören dabei nicht nur die Befugnis zur organisatorischen Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltlich-didaktische Ausgestaltung des Schulwesens sowie die Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele und -modalitäten.45 Die Eigenständigkeit der staatlichen Wirkungsbefugnisse, so das Bundesverwaltungsgericht, bezieht ihre Legitimation aus der Bedeutung der Schule für die Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generationen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich ist es 38 BVerfGE, 108, 282, 297. 39 BVerfGE 81, 278, 293. 40 BVerfGE 81, 278, 293. 41 BVerfGE 28, 243, 61; BVerfGE 41, 29, 50 f.; BVerfGE 52, 223, 246 f., 251; BVerfGE 93, 1, 21. 42 BVerfGE 93, 1, 21. 43 BVerfG, Urteil v. 06.12.1972 - 1 BvR 230/70 -, Rn. 81, juris. 44 BVerfGE 93, 1, 21. 45 BVerfGE 93, 1, 21; BVerwG, NVwZ 2014, 81. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 11 ihre Aufgabe, in einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft dazu beizutragen, die Einzelnen zu verantwortungsvollen „Bürgern“ heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion zu erfüllen.46 Der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen und Vorstellungen der Eltern eigene Ziele verfolgen.47 Müsste die Schul- und Unterrichtsgestaltung an den Vorstellungen der Beteiligten ausrichtet werden, wäre die Schule durch kollidierende Erziehungsansprüche einzelner und grundrechtliche Vetopositionen vielfach blockiert. Die verfassungsrechtlich anerkannte Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule würde nur unvollkommen Wirksamkeit erhalten.48 Die muslimische Kopfbedeckung einer Schülerin im Unterricht müsste zunächst zu einer Beeinträchtigung des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags führen. Dabei ist zwischen dem einfachen Kopftuch, das das Gesicht frei lässt, und einer Verschleierung des Gesichts wie bei dem Niqab oder der Burka zu unterscheiden. 4.3.3.1.1. Tragen eines Kopftuchs Grundsätzlich dürfte ein Kopftuch, das das Gesicht frei lässt, eine Schülerin nicht daran hindern, am allgemeinen Unterrichtsgeschehen teilzunehmen. Es schränkt nicht die Kommunikationsmöglichkeiten ein und dürfte sich auch sonst nicht störend auswirken. Folglich ließe sich ein generelles Kopftuchverbot für Schülerinnen wohl nicht mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag gemäß Art. 7 Abs. 1 GG rechtfertigen.49 Auch das Alter der Schülerin oder ob diese eine Grund- oder Oberschule besucht, dürfte diesbezüglich unerheblich sein. Zwar hat die Rechtsprechung bei der Abwägung zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und der Glaubensfreiheit bzw. dem religiösen Erziehungsrecht die widerstreitenden Verfassungspositionen zum Teil abhängig vom Alter der Schülerin unterschiedlich gewichtet. In § 5 KErzG beziehe der Gesetzgeber die Religionsmündigkeit auf die Vollendung des 14. Lebensjahres und gehe damit davon aus, dass Kinder ab diesem Alter grundsätzlich in der Lage seien, sittliche Wertentscheidungen zu verstehen und für sich zu treffen. Das OVG Bremen hat daraus geschlussfolgert, dass deutlich jüngeren Kindern die religiöse Einsichtsund Entscheidungsfähigkeit fehle, durch die Teilnahme am koedukativen Sportunterricht in einen Gewissenskonflikt zu stürzen.50 Beeinträchtigt das Kopftuch jedoch die Teilnahme am Unterricht nicht, bedarf es einer solchen unterschiedlichen Gewichtung wohl nicht. 46 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 82. 47 BVerfGE 93, 1, 21; BVerfG, NVwZ 2008, 72, 73; BVerwG, Urteil v. 25.08.1993 - 6 C 8/91-, Rn. 16, juris. 48 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 82; BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12 -, Rn. 21, juris. 49 Germann, in: Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar Grundgesetz, 31. Aufl., Art. 4, Rn. 51.4.; Coumont, ZAR 2009, 9, 10; Rohe, BayVBl. 2010, 257, 263. 50 OVG Bremen, Beschluss v. 13.06.2012 - 1 B 99/12, S. 3 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 12 Anders könnte es jedoch hinsichtlich der Teilnahme am Schwimm- und Sportunterricht sein, wo ein Kopftuch die Schülerin an der ordnungsgemäßen Teilnahme hindern könnte. Insoweit wäre eine Kollision zwischen Religionsfreiheit und religiösem Erziehungsrecht der Eltern einerseits und dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen andererseits denkbar, die nach dem oben unter 4.4.2 beschriebenen Grundsatz der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müsste. Danach ist bei Auftreten eines konkreten Konflikts zunächst auszuloten, ob eine nach allen Seiten hin annehmbare, kompromisshafte Konfliktentschärfung im Bereich des Möglichen liegt, die allen Positionen Wirksamkeit verschafft und so eine Vorrangentscheidung verzichtbar erscheinen lässt.51 Nach der Rechtsprechung könnte hier ein Ausgleich zwischen den Verfassungsgütern dahingehend erreicht werden, dass die Schülerinnen islamgerechte Sportkleidung beziehungsweise zum Schwimmen einen Burkini trügen.52 Verweigere sich ein Beteiligter einer solchen Konfliktentschärfung und schlägt annehmbare Ausweichmöglichkeiten aus, müsse er es notfalls als Konsequenz hinnehmen, dass er sich nicht auf einen Vorrang seiner Rechtsposition berufen dürfe.53 4.3.3.1.2. Verschleierung des Gesichts Fraglich ist, ob dies auch in Hinblick auf die Verschleierung des Gesichts, wie es beim Tragen eines Niqabs oder einer Burka erfolgt, gilt. In einer Entscheidung zur Unterrichtsteilnahme einer Schülerin mit einem gesichtsverhüllenden Schleier hat der Bayerische VGH ausgeführt, dass der Staat im Rahmen seines Bildungs- und Erziehungsauftrags die Form offener Kommunikation zu seiner Unterrichtsmethode bestimmen dürfe. Diese gelte als effizienter als ein einseitiger Unterrichtsvortrag der Lehrkraft und biete die Möglichkeit, auf die Schülerin oder den Schüler individuell oder auch auf die Klasse einzugehen.54 Die offene Kommunikation beruhe nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern sei auch auf nonverbale Elemente angewiesen, wie Mimik, Gestik und die Körpersprache, die zum großen Teil unbewusst ausgedrückt und wahrgenommen würden.55 Da bei einer gesichtsverhüllenden Verschleierung einer Schülerin eine nonverbale Kommunikation im Wesentlichen unterbunden werde, sei die offene Kommunikation im Rahmen der Unterrichtsgestaltung nicht möglich und liefe folglich dem fachlichen Konzept zuwider.56 Sofern eine Schülerin unter Berufung auf Art. 4 GG ihr Gesicht verschleiert, stünden Religionsfreiheit sowie gegebenenfalls das religiöse Erziehungsrecht der Eltern folglich in Konflikt und 51 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 83. 52 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 08.11.2017 - 1 BvR 3237/13-, Rn. 30, juris; BVerwG, NVwZ 2014, 81, 53 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 83. 54 Bayrischer VGH. NVwZ 2014, 1109, 1109. 55 Bayrischer VGH. NVwZ 2014, 1109, 1109 f. 56 Bayrischer VGH. NVwZ 2014, 1109, 1109 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 13 müssten wiederum nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz (s. oben unter 4.4.2.) in Ausgleich gebracht werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seinen jüngsten Entscheidungen zur Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen eingehend mit dem Abwägungsprozess bei einer Kollision zwischen der Glaubensfreiheit der Schüler beziehungsweise dem religiösem Erziehungsrecht der Eltern und dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen befasst.57 Demnach seien Beeinträchtigungen der Glaubensfreiheit zunächst regelmäßig als „typische Begleiterscheinung des staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen“. Nur wenn die Beeinträchtigung den Umständen nach eine „besonders gravierende Intensität“ aufweise, sei die rechtliche Wertung plausibel, dass die grundrechtliche Belastung durch die Verfassung „in Art. 7 Abs. 1 GG nicht von vornherein mit einberechnet“ sei und es „erforderlich macht, die religiöse Position in eine weitergehende Abwägung gegen das staatliche Bestimmungsrecht zu bringen“. Der Staat dürfe dabei, unbeschadet des von ihm zu respektierenden religiösen Selbstverständnisses der betroffenen Glaubensgemeinschaft beziehungsweise des individuellen Grundrechtsträgers , auf Grundlage der Angaben des Betroffenen im Rahmen seiner Darlegungspflicht aufklären, welcher „Stellenwert einem in Rede stehenden, imperativ bindenden religiösen Verhaltensgebot im Rahmen des Gesamtgerüsts seiner Glaubensüberzeugungen zukommt, und sich (…) vergewissern, ob danach im Falle eines Zuwiderhandelns tatsächlich von einer besonders gravierenden Beeinträchtigungsintensität auszugehen ist.“58 Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führt jedoch auch das Vorliegen einer solchen besonders gravierenden Intensität der Beeinträchtigung religiöser Belange noch nicht automatisch zu einem Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts. Vielmehr komme es auf den konkret zu Tage tretenden Konflikt an.59 Dabei, so das Gericht, „lässt sich der Verfassung keine vorgefasste Antwort entnehmen“, da die rechtliche Bewertung von Faktoren abhänge, die „von Fall zu Fall stark variieren können und über die daher eine allgemeingültige verfassungsrechtliche Aussage nicht getroffen werden könnte. Hier bedarf es dann der Vornahme einer weitergehenden Abwägung.“60 Bezugnehmend auf diese Grundsätze führt nach Ansicht des Bayerischen VGH jedenfalls bei einer nicht mehr schulpflichtigen Schülerin ein Verbot der Gesichtsverschleierung nicht zu einer derart gravierenden Intensität der Beeinträchtigung ihrer Glaubensfreiheit. Die Schülerin müsse die in Frage stehende Schule nicht besuchen und sei folglich nicht gezwungen, sich den Einschränkungen ihrer Glaubensfreiheit auszusetzen. Auch bestünden in diesem Fall alternative Wege, den angestrebten Schulabschluss zu erreichen. Die Unterrichtsteilnahme mit Gesichtsverschleierung durfte der Schülerin daher verwehrt werden.61 57 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 82 ff.; BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12, Rn. 23 ff. 58 BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12 -, Rn. 30, juris. 59 BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12 -, Rn. 29, juris. 60 BVerwG, Urteil v. 11.09.2013 - 6 C 12/12 -, Rn. 29, juris. 61 Bayrischer VGH. NVwZ 2014, 1109, 1109 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 14 Einer schulpflichtigen Schülerin stünden hingegen keine Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung. Sie könnte sich dem Eingriff nicht entziehen, indem sie auf den Schulbesuch verzichtet; ihr bliebe nur die Möglichkeit, den Gesichtsschleier abzulegen. Ein milderes Mittel, das die offene Kommunikation als Unterrichtsmethode gewährleisten würde, ist nicht ersichtlich. Insofern müsste wohl letztlich zumindest die Möglichkeit bestehen, im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck, die offene Kommunikation im Unterricht zu gewährleisten, stünde und daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt sei. In der Literatur wird überwiegend davon ausgegangen, dass ein generelles Verbot des gesichtsverhüllenden Schleiers unabhängig vom Alter des Mädchens und einer bestehenden Schulpflicht zulässig sei. Dieser begründe ein objektives Unterrichtshemmnis und verhindere die pädagogische Interaktion mit der Lehrkraft und die offene Kommunikation. Die Erkennbarkeit der Mimik sei vor allem in Bezug auf das Erziehungsziel, die Schüler zu sozialem Verhalten anzuleiten, zwingend erforderlich. Das Verbot des gesichtsverhüllenden Schleiers stehe auch nicht außer Verhältnis zur Intensität des erfolgenden Eingriffs in die Grundrechte muslimischer Schülerinnen und deren Eltern und den mit der staatlichen Maßnahme verfolgten Zwecken. Der durch den gesichtsverhüllenden Schleier beeinträchtigten Erziehung zu sozialem Verhalten hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und des Gemeinwohls komme ein überragendes Gewicht zu, da die Erziehung zu sozialem Verhalten einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Integration leiste.62 4.3.3.2. Erhaltung des Schulfriedens Die Kopfbedeckung muslimischer Schülerinnen könnte den Schulfrieden gefährden. Die Erfüllung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG setzt voraus, dass der Schulfrieden gewahrt ist. Darunter ist ein Zustand der Konfliktfreiheit und -bewältigung zu verstehen, der den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf ermöglicht. Die Vermeidung religiösweltanschaulicher Konflikte in öffentlichen Schulen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein gewichtiges Gemeinschaftsgut und ein Schutzzweck von herausragender Bedeutung.63 Auch religiös motiviertes Verhalten kann grundsätzlich den Schulfrieden beeinträchtigen.64 Allerdings ist allein die abstrakte Gefährdung des Schulfriedens nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts nicht ausreichend, um das religiös 62 Coumont, ZAR 2009, 9, 12; Büscher/Glasmacher, JuS 2015, 513, 516; Germann, in: Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar Grundgesetz, 31. Aufl., Art. 4, Rn. 51.4.; im Ergebnis ebenso: Deutsche Islamkonferenz, Religiös begründete schulpraktische Fragen - Handreichung für Schule und Elternhaus, Anlage aus: Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreises der Deutschen Islam Konferenz (DIK), Vorlage für die 4. Plenarsitzung der DIK, 25. Juni 2009, Berlin, S. 3 (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/Gesellschaft- Verfassung/DIK/handreichung_schulen_eltern.pdf;jsessionid =5B35A24EFB6E3E1A75C04AE3A3A7AD6E.2_cid373?__blob=publicationFile); aA. Beaucamp/Beaucamp, DÖV 2015, 174, 179 ff. 63 BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10 -, Rn. 42; BVerwG, Urteil v. 24.06.2004 - 2 C 45/03, Rn. 38. 64 Vgl. BVerfGE 138, 296, 336 f.; BVerfGE 108, 282, 307. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 15 geprägte Verhalten eines Schülers generell zu unterbinden.65 Vielmehr müssten solcherart ausgelöste Störungen zunächst Anlass geben, sich damit etwa im Unterricht mit dem Ziel, wechselseitiges Verständnis zu wecken, auseinanderzusetzen.66 In einem Urteil67 von 2011 hielt das Bundesverwaltungsgericht ein an einen muslimischen Schüler gerichtetes Verbot, während der Pausen in der Schule ein rituelles Gebet zu verrichten, für verfassungsrechtlich gerechtfertigt. In dem konkret entschiedenen Fall ging das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der bestehenden teilweise sehr heftigen religiösen Konflikte innerhalb der Schülerschaft an der betroffenen Schule davon aus, dass der Schulfrieden nicht anders gewahrt werden könne und das Verbot in dieser Situation nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehe.68 4.3.4. Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates Das Grundgesetz begründet durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG für den Staat als Heimstatt aller Bürger die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Dies gilt auch für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Schule.69 Bei der Ausgestaltung des Unterrichts sind Neutralität und Toleranz vor allem in religiöser und weltanschaulicher Sicht zu wahren, insbesondere jede Beeinflussung im Dienste einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Sicht zu unterlassen.70 Die dem Staat gebotene Neutralität ist jedoch nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende Haltung, die die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert.71 Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidbar sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) nach einem Ausgleich gesucht werden.72 Das Neutralitätsgebot richtet sich jedoch nicht an die Schülerinnen und Schüler, sondern an die Schule.73 Auch verstößt der Staat allein dadurch, dass er es hinnimmt, dass eine Schülerin eine muslimische Kopfbedeckung trägt, nicht gegen das Neutralitätsgebot, da ihm die muslimische Kopfbedeckung als religiöses Symbol erkennbar nicht zuzurechnen ist. Zudem macht er sich weder 65 BVerfGE 138, 296, 340 f.; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 34 f., juris. 66 BVerfGE 138, 296, 340 ff.; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 54, juris. 67 BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10. 68 BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 56 ff., juris. 69 BVerfGE 108, 282, 338 f. 70 BVerwG, NVwZ 2014, 81, 81. 71 BVerfGE 108, 282, 300; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 35, juris. 72 BVerfGE 138, 296, 338 f.; BVerfGE 108, 282, 300; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10 -, Rn. 35, juris. 73 Coumont, ZAR 2009, 9, 10 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 16 das darin zum Ausdruck kommende Bekenntnis zum islamischen Glauben zu eigen, noch muss er sich dieses Bekenntnis als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.74 Das Bundesverwaltungsgericht hat aber in seiner Entscheidung zur Verrichtung von Gebeten eines Schülers 2011 unter Bezugnahme auf das Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts von 200375 ausgeführt, dass der gesellschaftliche Wandel, der mit einer zunehmenden religiösen Pluralität verbunden sei, für den Landesgesetzgeber Anlass sein könnte, das Ausmaß, in dem religiöse Bezüge in der Schule zulässig sein sollen, abweichend zu bestimmen. Demnach sprächen sowohl Gründe dafür, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits sei die zunehmende religiöse Vielfalt mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Daher könne es auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß religiöse Bezüge, die von Schülern in die Schule hineingetragen werden, aus der Schule grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. Der Gesetzgeber müsse letztlich entscheiden, ob von der Verwendung religiöser Symbole bereits eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens ausgehe.76 Demgegenüber hat jedoch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 201577 einschränkend ausgeführt, dass ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität unverhältnismäßig sei. Erst wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht sei, könne ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer hinreichend konkretisierten Verordnungsermächtigung.78 Folgt man dem Bundesverfassungsgericht, rechtfertigt das Neutralitätsgebot jedenfalls kein generelles landesweites Verbot für Schülerinnen, eine muslimische Kopfbedeckung zu tragen. 74 Vgl. BVerfGE 138, 296, 336 f; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 37, juris. 75 BVerfGE 108, 282, 307 ff. 76 BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 38 f., juris. 77 BVerfGE 138, 296. 78 BVerfGE 138, 296, 340 ff.; ebenso in Hinblick auf Kindertagesstätten abstrakte Gefährdung nicht ausreichend: BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016 - 1 BvR 354/11, Rn. 69 f., juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 277/16 Seite 17 4.3.5. Negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Mitschüler und Elternrecht jener Kinder Das Tragen eines Kopftuchs könnte die negative Glaubensfreiheit der anderen Schülerinnen und Schüler beziehungsweise das religiöse Erziehungsrecht von deren Eltern verletzen. Die in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubensfreiheit umfasst auch die Freiheit, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben oder eine solche abzulehnen. Die negative Glaubensfreiheit gewährleistet die Freiheit, kultischen Handlungen, Riten und Symbolen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Allerdings haben die Einzelnen in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen gänzlich verschont zu werden. Allein der Anblick einer Schülerin mit einer muslimischen Kopfbedeckung führt nicht dazu, dass die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der anderen Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt wird.79 Das religiöse und weltanschauliche Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht, die eigenen Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen. In Bezug auf die Begegnung von Kindern mit religiösen Handlungen Dritter reicht jedoch das Elterngrundrecht nicht weiter als die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Kinder. Dementsprechend verleiht das religiöse und weltanschauliche Erziehungsrecht der Eltern nicht die Befugnis, ihre Kinder vor jeglicher Konfrontation mit religiösen Handlungen Anderer, die nur einen Schluss auf die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion zulassen, zu verschonen.80 5. Ergebnis Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass ein generelles landesweites Verbot für Schülerinnen, ein Kopftuch zu tragen, das das Gesicht frei lässt, verfassungsrechtlich wohl nicht zulässig wäre. Ein Verbot, während des Unterrichts das Gesicht zu verschleiern, wäre wohl verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, sofern ausreichend Raum für eine Abwägung im Einzelfall bliebe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann jedoch ein „verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis“ bestehen, „äußere religiöse Bekundungen nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden“, wenn es aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen komme. Dies könne gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme einer hinreichend konkretisierten Verordnungsermächtigung erfolgen.81 *** 79 BVerfGE 138, 296, 336 f. 80 BVerfGE 138, 296, 337 f.; BVerwG, Urteil v. 30.11.2011 - 6 C 20/10, Rn. 32 f. 81 BVerfGE 138, 296, 340 ff.; ebenso in Hinblick auf Kindertagesstätten abstrakte Gefährdung nicht ausreichend: BVerfG, Beschluss v. 18.10.2016 - 1 BvR 354/11, Rn. 69 f., juris.