© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 276/19 Zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz Gegenüberstellung eines Formulierungsvorschlages mit vier kinderrechtlichen Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Fragestellung und Einleitung Es wird um eine Darstellung gebeten, inwieweit und in welcher Intensität folgender Formulierungsvorschlag 1 zur Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz (GG) die grundlegende Intention verschiedener kinderrechtlicher Grundprinzipien des im Jahr 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention – UN-KRK)2 aufgreift: Aufnahme eines Absatzes 1a in den Artikel 6 GG: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“ Dabei soll sich die Darstellung auf die vier grundlegenden Grundprinzipien Kindeswohlprinzip (Art. 3 Abs. 1 UN-KRK), Beteiligung von Kindern (Art. 12 UN-KRK), Nichtdiskriminierung (Art. 2 UN-KRK) sowie Leben und Entwicklung (Art. 6 UN-KRK) beschränken.3 Die UN-KRK wurde von Deutschland im Jahr 1992 ratifiziert. Ein zunächst erklärter Vorbehalt zur unmittelbaren Geltung der KRK wurde im Jahr 2010 endgültig zurückgenommen. Die UN-KRK hat nach Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines Bundesgesetzes. Ungeachtet dessen ist in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung weithin anerkannt, dass die internationalen Menschenrechtsverträge und damit auch die UN-KRK bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen sind. Durch diesen Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung wird das Gewicht der internationalen Menschenrechtsgarantien gegenüber anderem Bundesrecht erhöht.4 1 Nach Medienberichten handelt es sich bei dem Formulierungsvorschlag um den Gesetzentwurf, den das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) Ende November zur Ressortabstimmung an die Bundesregierung übersandt hat, siehe: https://www.sueddeutsche.de/politik/kinderrechte-grundgesetz-gesetzentwurf -1.4697042 (zuletzt abgerufen am 13. Dezember 2019). 2 UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25, abrufbar unter: https://www.kinderrechtskonvention .info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/ (zuletzt abgerufen am 13. Dezember 2019). 3 Zu den vier Grundprinzipien siehe auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Kinderrechte in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Bezüge zur UN- Kinderrechtskonvention, WD 3 - 3000 - 049/19 vom 25. März 2014, 3 f. 4 Siehe Wapler, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2017, 2, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/120474/a14378149aa3a881242c5b1a6a2aa941/2017-gutachten-umsetzung-kinderrechtskonvention -data.pdf (letzter Abruf 13. Dezember 2019). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 4 2. Garantie des Kindeswohls, Art. 3 UN-KRK Art. 3 UN-KRK normiert mit der Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Beachtung des Kindeswohls den zentralen Gedanken der UN-KRK.5 Aus dem Kindeswohl lassen sich drei Aspekte herauskristallisieren : Beim Kindeswohl handelt es sich um ein substantielles Recht, es ist ein fundamentales Auslegungsprinzip bei der Interpretation aller Kinderrechte und es fungiert als Verfahrensvorschrift .6 2.1. Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK Art. 3 Abs. 1 UN-KRK fordert, dass bei Maßnahmen, die Kinder betreffen, zunächst das Kindeswohl zu ermitteln ist und dass im Anschluss daran ein Abwägungsprozess zwischen dem Kindeswohl und anderen Belangen stattfindet. Das Kindeswohl ist als ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt zu behandeln. Diese Pflicht erfasst alle Ebenen staatlicher Tätigkeit und damit insbesondere Gesetzgebung und Rechtspolitik, Behörden und Gerichte.7 Der Begriff des Kindeswohls (in der authentischen englischen Fassung: „best interests of the child“) wird in der UN-KRK nicht näher bestimmt und ist auslegungsbedürftig. In der Literatur wird darauf hingewiesen, es sei entscheidend, dass die Interessen des Kindes im Vordergrund staatlichen Handelns stehen und ausreichend gefördert und in besonderer Weise geschützt würden.8 Auch die Formulierung „ein vorrangig zu berücksichtigender Gesichtspunkt“ ist auslegungsbedürftig . Nach einhelliger Meinung ist die Betonung auf ein Gesichtspunkt zu legen. Das Kindeswohl soll als Optimierungsgebot mit dem Ziel bestmöglicher Realisierung einbezogen werden. Es ist aber nicht absolut zu verstehen und kann im Einzelfall durchaus hinter anderen rechtlich geschützten Interessen zurücktreten.9 Art. 3 Abs. 1 UN-KRK in der amtlichen deutschen Übersetzung lautet wie folgt: „(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ 5 Schmahl, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokollen, 2. Auflage, 2017, Art. 3 Rn. 1. 6 Schmahl, Fn. 5, Art. 3 Rn. 1. Zum Kindeswohl aus Art. 3 Abs. 1 UN-KRK siehe auch Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zum Kindeswohl in Artikel 3 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention, WD 9 - 3000 - 068/17 vom 19. Januar 2018. 7 Wapler, Fn. 4, 65. 8 Schmahl, Fn. 5, Art. 3 Rn. 2. 9 Schmahl, Fn. 5, Art. 3 Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 5 2.2. Vergleich mit dem Formulierungsvorschlag Der Formulierungsvorschlag nennt das Wohl des Kindes in Satz 2: „Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, dass es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen.“ Im Vergleich zu dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK lassen sich folgende Unterschiede ausmachen : 2.2.1. Adressatenkreis Im Hinblick auf den Adressatenkreis ist festzuhalten, dass der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK explizit auch private Einrichtungen der sozialen Fürsorge umfasst. Der Formulierungsvorschlag beschränkt die Adressaten dagegen auf staatliche Akteure („staatliches Handeln“). Hierzu ist auf zweierlei hinzuweisen: Zum einen wird zum Adressatenkreis des Art. 3 Abs. 1 UN- KRK bezweifelt, ob eine derart weitreichende unmittelbare Bindung Privater völkerrechtlich überhaupt begründet werden könne.10 Zum anderen entspricht die Verpflichtung Privater im Grundgesetz als unmittelbare Grundrechtsadressaten nicht der Tradition und der Systematik der Grundrechte im Grundgesetz. Grundrechte sind als Abwehrrechte, Leistungsrechte bzw. Gleichbehandlungsrechte gegenüber dem Staat verfasst . Sie binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbare Grundrechtsadressaten, Art. 1 Abs. 3 GG. Private sind grundsätzlich keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten, können jedoch mittelbare Grundrechtsadressaten sein (sogenannte Drittwirkung oder Ausstrahlungswirkung von Grundrechten).11 2.2.2. Betroffenheit des Kindes Ein weiterer Unterschied ist im Hinblick auf die Intensität der Betroffenheit des Kindes festzustellen : Die UN-KRK schränkt diese nicht weiter ein. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK sind alle Maßnahmen, die Kinder betreffen, umfasst. Der UN-Kinderrechtsausschuss unterscheidet zwar in seinen im Jahr 2013 veröffentlichten allgemeinen Bemerkungen Nr. 14 zum Kindeswohl 10 Wapler, Fn. 4, 10. 11 Siehe aber insoweit den Sonderfall einer unmittelbaren Drittwirkung in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG (Koalitionsfreiheit). Ausführlich zur Drittwirkung von Grundrechten Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, Rn. 96 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 6 grundsätzlich zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Betroffenheit.12 Er stellte aber klar, dass Art. 3 Abs. 1 UN-KRK in beiden Fällen in gleicher Weise anzuwenden ist.13 Der Formulierungsvorschlag sieht dagegen eine Einschränkung vor. Umfasst sein soll alles staatliche Handeln, dass das Kind unmittelbar in seinen Rechten einschränkt. Damit bleibt der Formulierungsvorschlag hinter Art. 3 Abs. 1 UN-KRK zurück.14 2.2.3. Berücksichtigungsgebot Ein weiterer Unterschied ist beim Vergleich der jeweiligen Maßstäbe im Rahmen des Berücksichtigungsgebots festzustellen: Während nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK das Kindeswohl „als ein vorrangiger Gesichtspunkt“ (in der authentischen englischen Fassung: „a primary consideration“) zu berücksichtigen ist, sieht der Formulierungsvorschlag vor, dass das Wohl des Kindes „angemessen“ zu berücksichtigen ist. Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Begriff „vorrangig“ aus Art. 3 Abs. 1 UN-KRK in der Literatur als unklar und missverständlich kritisiert wird.15 Was dieses Berücksichtigungsgebot konkret für eine Abwägung unterschiedlicher Interessen bedeute, sei weder dem Wortlaut noch den allgemeinen Bemerkungen des UN-Kinderrechtsausschusses zu entnehmen. In der Literatur wird vertreten , dass das Prinzip als Abwägungs- und Begründungsregel zu verstehen sei. Es verlange von Gesetzgebung und Rechtsanwendung, die betroffenen Interessen zu ermitteln, transparent zu machen und tragfähige Argumente dafür anzuführen, weshalb sie in der Abwägung keinen Vorrang genießen würden. Bewerte man die Kindesbelange als nachrangig, so müsse dies sachlich begründet sein.16 Ein solches Verständnis der Berücksichtigungsregelung kommt dem Begriff einer angemessen Berücksichtigung sehr nahe. Zudem wäre eine Aufnahme des Begriffes „vorrangig“ im Rahmen der Grundrechte ohne Beispiel. Es stellt sich die Frage, wie sich eine solche Formulierung in das Gefüge der Grundrechte einpassen würde. Die Formulierung könnte insofern Auslegungsfragen aufwerfen, da für die Grundrechte 12 UN-Kinderrechtsausschuss, General comment No. 14 (2013) on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (art. 3, para. 1), Paragraph 19, abrufbar unter: https://www2.ohchr.org/English /bodies/crc/docs/GC/CRC_C_GC_14_ENG.pdf. 13 Siehe auch Wapler, Fn. 4, 12. 14 So auch die Kritik von Wapler, Verfassungsblog Kinderrechte ins Grundgesetz: Ein neuer Entwurf bringt nichts Neues vom 06. Dezember 2019, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/kinderrechte-ins-grundgesetz-einneuer -entwurf-bringt-nichts-neues/ (letzter Abruf: letzter Abruf 13. Dezember 2019). 15 Wapler, Fn. 4, 15; Hofmann/Donath, Gutachten bezüglich der ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention für das Deutsche Kinderhilfswerk e.V., 2017, 6. 16 Wapler, Fn. 4, 15 mit weiteren Nennungen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 7 keine irgendwie geartete abstrakte Rangordnung angenommen wird.17 Grundrechtskollisionen sind vielmehr nach Maßgabe der praktischen Konkordanz aufzulösen. Die Bund-Länder-AG Kinderrechte hat sich mit dem Begriff „vorrangig“ eingehend beschäftigt. Das Ergebnis dieser Diskussion ist im Abschlussbericht niedergelegt. Daraus wird deutlich, dass große Bedenken bestanden haben, „einen solchermaßen missverständlichen Begriff in das Grundgesetz zu übernehmen, wenn zugleich ein unmissverständlicher Begriff, der das Gewollte klar zum Ausdruck bringe (‚angemessen‘), zur Verfügung stehe.“18 Gleichwohl ist der in der Literatur geäußerten Kritik zuzustimmen, dass eine Abweichung der Formulierung im Grundgesetz vom Wortlaut der einfachgesetzlichen Regelung der UN-KRK zu Auslegungsfragen aufwerfen könnte.19 3. Rechte auf Beteiligung, Berücksichtigung und Gehör, Art. 12 UN-KRK Eine weitere Schlüsselnorm sowie zentrales Prinzip der UN-KRK ist das in Art. 12 UN-KRK geregelte Mitspracherecht des Kindes, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, in allen Angelegenheiten, die es betreffen. 3.1. Vorgaben des Art. 12 UN-KRK Art. 12 Abs. 1 UN-KRK besagt, dass die Meinung von Kindern zu allen Fragen, die ihre Angelegenheiten berühren, zu hören und bei der Entscheidungsfindung alters- und reifeangemessen zu berücksichtigen ist.20 Jedes Kind hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern sowie vom Recht auf rechtliches Gehör keinen Gebrauch zu machen (negative Meinungsfreiheit).21 Die Meinungen von Kindern müssen gemäß Art. 12 UN-KRK nicht nur gehört werden, sondern sie sind im Entscheidungsfindungsprozess auch angemessen zu berücksichtigen.22 Dabei stellt Art. 12 Abs. 1 UN-KRK auf die Meinungsbildungsfähigkeit des Kindes ab.23 Das Mitspracherecht aus Art. 12 Abs. 1 UN-KRK muss dem Kind in allen Angelegenheiten, die es selbst berühren, eingeräumt werden. Die Bestimmung ist weit zu verstehen.24 17 Dreier, Fn. 11, Vorbemerkungen vor Artikel 1 GG, Rn. 65; von Münch/Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz- Kommentar, 6. Auflage 2012, Vorbemerkungen zu den Art. 1–19 Rn. 50. 18 Abschlussbericht der Bund-Länder-AG Kinderrechte, vom 14. Oktober 2019, 63, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/102519_Abschlussbericht_Kinderrechte .pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf 13. Dezember 2019). 19 So Wapler, Fn. 14. 20 Wapler, Fn. 4, 66. 21 Schmahl, Fn. 5, Art. 12 Rn. 5. 22 Schmahl, Fn. 5, Art. 12 Rn. 10. 23 Schmahl, Fn. 5, Art. 12 Rn. 8. 24 Schmahl, Fn. 5, Art. 12 Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 8 Art. 12 Abs. 2 UN-KRK sichert dem Kind das Recht auf rechtliches Gehör vor der Verwaltung und den Gerichten zu. Art. 12 UN-KRK lautet wie folgt: „(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. (2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.“ 3.2. Vergleich mit dem Formulierungsvorschlag Mitspracherechte enthält der Formulierungsvorschlag in Satz 3: „Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“ 3.2.1. Anspruch auf rechtliches Gehör Der Formulierungsvorschlag berücksichtigt damit das Mitspracherecht des Kindes bei Gerichts- und Verwaltungsverfahren gemäß Art. 12 Abs. 2 UN-KRK. Im Hinblick auf den Adressatenkreis weicht der Formulierungsvorschlag nicht von den Vorgaben des Art. 12 Abs. 2 UN-KRK ab; er umfasst alle staatlichen Entscheidungen und damit Entscheidungen von Verwaltung und Gerichten. 3.2.2. Weitere Mitspracherechte Der Formulierungsvorschlag bildet damit nur einen Teil der Mitspracherechte aus Art. 12 UN-KRK ab. Eine Gewährleistung der subjektiven Rechte des Kindes auf Meinungsfreiheit sowie auf Beteiligung und angemessene Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seines Alters und Reife25 gemäß Art. 12 Abs. 1 UN-KRK ist nicht im Formulierungsvorschlag vorgesehen. Dazu ist anzumerken, dass die Meinungsfreiheit des Kindes (auch seine negative Meinungsfreiheit) von dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erfasst ist. Kinder sind hierbei rechtlich ebenso geschützt wie Erwachsene. In der Literatur wird zudem darauf hingewiesen, dass ein Recht des Kindes auf Beteiligung und Berücksichtigung als Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Grundgesetz bereits enthalten 25 Zum Gewährleistungsinhalt des Art. 12 Abs. 1 UN-KRK siehe Wapler, Fn. 4, 50. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 9 sei.26 Unstreitig wird dies im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung vertreten. Das Bundesverfassungsgericht habe die Berücksichtigung des Willens eines Kindes gegenüber den Eltern im Bereich des Art. 6 GG anerkannt. Ob sich aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrechts auch für andere Rechtsgebiete positive Ansprüche auf Beteiligung und Berücksichtigung herleiten lassen, wird unterschiedlich beurteilt.27 3.2.3. Betroffenheit von Kinderrechten Eine weitere Abweichung ist im Hinblick auf die Art und Weise der Betroffenheit von Kinderrechten festzustellen: Der Formulierungsvorschlag beschränkt die staatlichen Entscheidungen auf solche, die die Rechte des Kindes unmittelbar betreffen. Dagegen ist der Begriff der „das Kind berührenden Angelegenheiten“ (in der authentischen englischen Fassung: „affect“) aus Art. 12 UN-KRK weit auszulegen. In der Literatur wird dazu vertreten, dass die Angelegenheiten nicht auf Materien beschränkt werden dürfen, die das Kind unmittelbar selbst betreffen; es sei vielmehr eine umfassende Beteiligung von Kindern an Angelegenheiten, die für ihr Leben wesentlich sind, gefordert.28 Der UN-Kinderrechtsausschuss regt in seinen im Jahr 2009 veröffentlichten allgemeinen Bemerkungen Nr. 12 zum Recht des Kindes auf Gehör an, Kinder immer dann zu beteiligen, wenn ihre Perspektive sich positiv auf die Qualität der Entscheidungen auswirken kann.29 Diese textliche Abweichung wurde im Rahmen der Bund-Länder-AG diskutiert. Im Abschlussbericht wird hierzu festgehalten, dass vereinzelte Entscheidungen von EuGH und EGMR zu kinderspezifischen Beteiligungsrechten deutlich zurückhaltender klingen würden. Beide Gerichte würden kein absolutes Anhörungsrecht des Kindes fordern. Mit Blick auf die Pflicht zur Anhörung in Gerichts- und Verwaltungsverfahren, die Anerkennung der wachsenden Selbstständigkeit des Kindes sowie mit Blick auf die Verbindung zwischen Kindeswohl und Beteiligung würden sich internationales und nationales Recht (in seiner Auslegung durch das BVerfG) nicht wesentlich unterscheiden.30 26 Wapler, in: Sachverständigenkommission 15. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Materialien zum 15. Kinder- und Jugendbericht. Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter, 2015, Kinderrechte ins Grundgesetz?, 41, abrufbar unter https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/15_KJB_Wapler_b.pdf (letzter Abruf 13. Dezember 2013). 27 Hofmann/Donath, Fn. 15, 16 mit Hinweis auf BVerfG, 18. Mai 2009 – 1 BvR 142/09, Rn. 14 halten dies für zweifelhaft und plädieren daher für eine Aufnahme von Mitspracherechten für Kinder in das Grundgesetz; Wapler sieht hier hingegen kein grundsätzliches Defizit, Wapler, Fn. 26, 41. 28 Wapler, Fn. 4, 51. 29 UN-Kinderrechtsausschuss, GENERAL COMMENT No. 12 (2009) The right of the child to be heard, paragraph 27, abrufbar unter: https://www2.ohchr.org/english/bodies/crc/docs/AdvanceVersions/CRC-C-GC-12.pdf (letzter Abruf 13. Dezmber 2019). 30 Abschlussbericht der Bund-Länder-AG Kinderrechte, vom 14. Oktober 2019, FN. 18, 99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 10 3.2.4. Alters- und reifeangemessene Berücksichtigung Der Formulierungsvorschlag sieht davon ab, die in Art. 12 Abs. 1 UN-KRK geregelte Formulierung der alters- und reifeangemessenen Berücksichtigung aufzunehmen. In der Literatur wird dies auch von den Stimmen, die einer Aufnahme von Kinderrechten grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, kritisiert. Mangels kinderspezifischer Präzisierung werde der eigentliche Clou der völkerrechtlichen Vorschrift verfehlt – die alters- und reifeangemessene Berücksichtigung der Äußerung des Kindes. Nur darin komme der wichtige Gedanke zum Ausdruck, das Kind in seiner Subjektivität und seinem Eigenwillen gerade auch dann ernst zu nehmen sei, wenn es noch nicht in einem rechtlichen Sinne eigenverantwortlich handeln könne. Der Entwurf verfehle damit im Übrigen nicht nur tragende Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta (dort Art. 24), sondern bleibe auch hinter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Beteiligungsrechten von Kindern zurück.31 4. Leben und Entwicklung, Art. 6 UN-KRK Art. 6 Abs. 1 UN-KRK enthält das Grundrecht auf Leben, das die Grundlage aller weiteren Rechte von Kindern bildet und den Vertragsstaaten auch besondere Schutzpflichten gegenüber den Eingriffen Dritter auferlegt.32 Art. 6 Abs. 2 UN-KRK enthält das kinderspezifische Recht auf Entwicklung , das die physische, mentale, spirituelle, moralische, psychische und soziale Entwicklung des Kindes umfasst.33 Art. 6 UN-KRK lautet wie folgt: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat. (2) Die Vertragsstaaten gewährleisten in größtmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes.“ 4.1. Recht auf Leben Der Formulierungsvorschlag enthält keine entsprechenden Formulierungen für das Recht auf Leben. Dazu ist anzumerken, dass das Recht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG niedergelegt ist. Kinder sind rechtlich ebenso geschützt wie Erwachsene. In der Literatur wird eine ausdrückliche Regelung des Grundrechts des Kindes auf Leben daher für nicht erforderlich gehalten und auch nicht empfohlen.34 31 Wapler, Fn. 14. 32 Hofmann/Donath, Fn. 15, 19. 33 Hofmann/Donath, Fn. 15, 19. 34 Wapler, Fn. 26, 42. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 11 4.2. Entwicklungsrecht Der Formulierungsvorschlag sieht als Satz 1 vor: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft.“ Der Formulierungsvorschlag enthält damit explizit ein Recht auf Entwicklung des Kindes. Dieses wird mit dem Entwicklungsziel „zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft“ näher bestimmt. Art. 6 Abs. 2 spricht dagegen nur von der „Entwicklung des Kindes“ ohne dies näher zu beschreiben. Der Wortlaut der Formulierung orientiert sich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . Dieses hatte in seiner grundlegenden Entscheidung zur Grundrechtssubjektivität des Kindes im Jahr 1968 klargestellt, dass die Anerkennung der Elternverantwortung und der damit verbundenen Rechte ihre Rechtfertigung darin findet, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht.35 Zum Entwicklungsrecht des Kindes wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass das Recht des Kindes auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit im Grundgesetz im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen und mithin auch eines Kindes aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG enthalten sei.36 Das Entwicklungsziel der Eigenverantwortlichkeit sei strukturell in der Verfassung verankert: Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes würden ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, das von staatlichen Einflüssen so weit wie möglich frei bleibe.37 Eine Verknüpfung des Entwicklungsziels mit dem Begriff der Gemeinschaftsfähigkeit wird in der Literatur hingegen zum Teil als schwierig beurteilt, da es einen Anspruch an das Kind suggeriere, sich in die staatliche Gemeinschaft einzufügen und konform zu verhalten.38 5. Nichtdiskriminierung, Art. 2 UN-KRK Ein weiteres grundlegendes Prinzip der UN-KRK stellt das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 2 UN-KRK dar. Art. 2 UN-KRK lautet wie folgt: „(1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, 35 BVerfGE 24, 119 (144). 36 Hofmann/Donath, Fn. 15, 19 f.; Wapler, Fn. 26, 41. 37 Wapler, Fn. 26, 35. 38 Wapler, Fn. 26, 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 276/19 Seite 12 des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird.“ Der Wortlaut des Formulierungsvorschlags enthält keine entsprechende Formulierung. Hierzu ist anzumerken, dass sich der Nichtdiskriminierungsgrundsatz aus Art. 2 UN-KRK grundlegend in Art. 3 Abs. 1 GG wiederfindet. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG enthalten zudem spezielle Diskriminierungsverbote . Zwar zählen das kindliche oder jugendliche Alter oder die Reife nicht hierzu. In der Literatur wird Art. 3 GG aber als grundsätzlich ausreichend erachtet, um den Gleichberechtigungsansprüchen des Art. 2 KRK zu genügen.39 Dies ergebe sich insbesondere aus den folgenden Erwägungen: „Für eine Diskriminierung von Kindern untereinander bleibt bereits nach dem geltenden ausdrücklichen Verfassungsrecht kein Raum. Eine explizite Aufnahme einer eigenständigen Norm zur Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen erscheint ebenfalls nicht geboten, da Kinder sich gerade wesentlich von Erwachsenen unterscheiden und ihre positiven Ansprüche und besonderen Bedürfnisse eher über andere Rechte vermittelt werden können. Sollte es zu ungerechtfertigten Benachteiligungen von Kindern gegenüber Erwachsenen kommen, für die kein ausreichender sachlicher Grund besteht, genügt Art. 3 GG, um dem rechtlich angemessen im Sinne der KRK zu begegnen. Bezüglich Art. 2 KRK besteht also kein verfassungsrechtliches Defizit.“40 *** 39 Hofmann/Donath, Fn. 15, 18 f., Wapler, Fn. 26, 48 f. 40 Hofmann/Donath, Fn. 15, 19.