© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 275/16 Zum Verhältnis zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben der Asylgewährung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 2 Zum Verhältnis zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben der Asylgewährung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 275/16 Abschluss der Arbeit: 13.01.2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verfassungs- und unionsrechtliche Vorgaben der Asylgewährung 4 2.1. Nationaler und internationaler asylrechtlicher Schutz 4 2.2. Grundsätzlicher Vorrang des Unionsrechts 5 3. Möglichkeit von Normkollisionen 6 3.1. Normkollisionen zwischen den Schutzkategorien? 6 3.2. Normkollisionen beim internationalen Schutz? 8 3.3. Handlungsform der Verordnung im Rahmen der EU- Asylrechtsreform 9 4. Integrationsverantwortung bei der EU- Asylrechtsgesetzgebung 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 4 1. Fragestellung Es wird die Frage gestellt, in welchem Verhältnis die verfassungs- und die unionsrechtlichen Vorgaben der Gewährung asylrechtlichen Schutzes zueinander stehen und ob bei Normkollisionen die Rechtsprechungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichts oder die des Europäischen Gerichtshofs Vorrang genießen. Dabei sollen auch solche Normkollisionen berücksichtigt werden, die im Rahmen des Asylrechtsreformpakets der Europäischen Kommission durch den Neuerlass von Richtlinien als Verordnungen entstehen könnten.1 Darüber hinaus soll geklärt werden, ob sich die Bundesregierung bzw. der deutsche Vertreter im Rat der Europäischen Union bei der EU- Asylrechtsgesetzgebung für die Wahrung des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG einsetzen müssen. 2. Verfassungs- und unionsrechtliche Vorgaben der Asylgewährung Bei der Gewährung asylrechtlichen Schutzes sind verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Vorgaben zu beachten. Diese beziehen sich auf die Gewährung von nationalem und internationalem asylrechtlichen Schutz.2 2.1. Nationaler und internationaler asylrechtlicher Schutz Bei der Gewährung asylrechtlichen Schutzes ist zwischen dem internationalem und dem nationalen asylrechtlichen Schutz zu unterscheiden. Zum nationalen asylrechtlichen Schutz gehören das Grundrecht auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG sowie die in § 60 Abs. 5, 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorgesehenen (nationalen) Abschiebungsverbote. Primärer verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 5, 7 AufenthG ist die Gewährleistung der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG.3 In Bezug auf die verfahrens- und leistungsrechtliche Umsetzung des nationalen asylrechtlichen Schutzes sind die weiteren einschlägigen Grundrechte zu beachten, z.B. die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG sowie der 1 Nach den Vorschlägen der EU-Kommission sollen die EU-Anerkennungsrichtlinie und die EU-Aufnahmerichtlinie in Verordnungen umgewandelt werden, vgl. dazu den Entwurf einer Anerkennungsverordnung, COM(2016) 466 final, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2016/DE/1-2016-466-DE-F1-1.PDF, sowie den Entwurf einer Asylverfahrensverordnung, COM(2016) 467 final, abrufbar unter: http://www.ipex.eu/IPEXL-WEB/dossier/files/download/082dbcc556e7fc070156eba184b9016d.do. Das geplante EU-Asylpaket umfasst ferner den Entwurf einer Dublin-IV-Verordnung, COM(2016) 270 final, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/?fuseaction=list&coteId=1&year=2016&number=270&version =ALL&language=de sowie eine Neufassung der EU-Aufnahmerichtlinie, COM(2016) 465 final, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2016/DE/1-2016-465-DE-F1-1.PDF. 2 Zu den asylrechtlichen Schutzkategorien siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Kategorien des asylrechtlichen Schutzes in Deutschland, Aktueller Begriff (Nr. 30/15), abrufbar unter: https://www.bundestag .de/blob/399484/0eaad68b0a3fa65669f964738bac3f25/kategorien-des-asylrechtlichen-schutzes-in-deutschlanddata .pdf. 3 Vgl. dazu nur Wittreck, in: Dreier, GG (3. Aufl., 2013), Rn. 125, der auch auf das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG als Grundlage für ein mögliches Abschiebungsverbot verweist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 5 Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip.4 Unionsrechtlich geboten ist die Gewährung von internationalem Schutz. Die Sekundärrechtsakte, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden (GEAS), beruhen auf Art. 78 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und unterliegen dem Maßstab der Unionsgrundrechte , insbesondere Art. 18 und Art. 19 Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Zum GEAS gehören insbesondere die Anerkennungs- bzw. Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU), die Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU), die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) sowie die Dublin-III-Verordnung (VO [EU] Nr. 604/2013). Der im Sekundärrecht geregelte internationale Schutz umfasst den Schutzstatus des Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie den des international subsidiär Schutzberechtigten. Diese beiden Schutzkategorien sind in das Asylgesetz (AsylG) integriert worden: § 3 AsylG regelt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft , § 4 AsylG den internationalen subsidiären Schutz. In der Praxis kommt dem nationalen Schutz gegenüber dem internationalen Schutz eine untergeordnete Bedeutung zu. Der Bedeutungsverlust des Asylrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG beruht insbesondere darauf, dass einerseits die Rechtsstellung des Asylberechtigten derjenigen des Flüchtlings weitgehend entspricht, andererseits aber die Voraussetzungen für die Flüchtlingsanerkennung weniger streng sind. Beispielsweise kommt eine Flüchtlingsanerkennung – im Gegensatz zur Anerkennung der Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG – auch bei nicht-staatlicher Verfolgung in Betracht, § 3c Nr. 3 AsylG.5 2.2. Grundsätzlicher Vorrang des Unionsrechts Für den Fall von Normkollisionen zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben der Asylgewährung gelten die allgemeinen Grundsätze zum Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht. Danach geht das Unionsrecht dem nationalen Recht in Form eines sog. Anwendungsvorrangs grundsätzlich vor.6 Dies gilt auch für das hier maßgebliche EU-Sekundärrecht im Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht.7 Die Rechtsprechungsvorgaben des Europäischen Gerichtshofs setzen sich im Konfliktfall daher grundsätzlich gegenüber den Rechtsprechungsvorgaben des Bundesverfassungsgerichts durch. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts gilt dieser Vorrang als Ausdruck eines Kooperationsverhältnisses zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls so lange, wie die Europäische Union einen im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet (sog. Solange II-Entscheidung).8 4 BVerfGE 132, 134. 5 BVerfGE 80, 315, 333 f.: „Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist. Politische Verfolgung ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung (…).“ 6 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL). 7 EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft). 8 BVerfGE 73, 339, 387 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 6 Das Bundesverfassungsgericht prüft Unionsrechtsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte erst dann wieder (Grundrechtskontrolle), wenn auf Unionsebene der „jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist“, wobei die Begründungsanforderungen dafür außerordentlich hoch sind. Es müsse eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise erfolgen, wie das Bundesverfassungsgericht sie in der Solange II-Entscheidung geleistet habe.9 Eine solche Darlegung wird für praktisch ausgeschlossen gehalten.10 Allerdings behält sich das Bundesverfassungsgericht eine Prüfungskompetenz in solchen Fällen vor, in denen eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung durch die Europäische Union vorliegt (ultra-vires-Kontrolle)11 oder die Maßnahmen der Europäischen Union gegen die identitätsstiftenden Werte des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen (Identitätskontrolle),12 z.B. gegen die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. 3. Möglichkeit von Normkollisionen Die Frage nach dem Vorrang der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder der des Europäischen Gerichtshofs stellt sich nur dann, wenn es zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben zu Normkollisionen kommt. Man kann Normkollisionen zwischen den Schutzkategorien des internationalen und des nationalen asylrechtlichen Schutzes in Betracht ziehen sowie bei der Prüfung und Gewährung des internationalen Schutzes. 3.1. Normkollisionen zwischen den Schutzkategorien? Der nationale Gesetzgeber hat den internationalen Schutz, also die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) und die Gewährung internationalen subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) als selbständige Schutzkategorien neben dem nationalen Schutz der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG und der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG ausgestaltet. Die EU-Anerkennungsrichtlinie lässt die Gewährung weiterer Schutztitel zu.13 Indem die unionsrechtlichen Vorgaben ausschließlich den internationalen Schutz betreffen, sind sie allein für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften zur Flüchtlingseigenschaft und zum international subsidiären Schutz nach den §§ 3, 4 AsylG maßgeblich. Da sich die Anwendungsbereiche des 9 BVerfGE 102, 147, 164. 10 Vgl. Dederer, Die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts – Zur Vereinheitlichung von Grundrechts-, Ultra-viresund Identitätskontrolle, JZ 2014, 313 f. m.w.N.; Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts-, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem , EuR 2015, 290 f. 11 BVerfGE 123, 267, 353 f.; BVerfGE 126, 286, 303 ff. 12 BVerfGE 123, 267, 353 ff.; 13 Vgl. dazu RL 2011/95/EU, Erwägungsgrund 15 („Diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fallen nicht unter diese Richtlinie.“) sowie Art. 3 RL 2011/94/EU, der günstigere nationale asylrechtliche Bestimmungen zulässt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 7 internationalen und des nationalen asylrechtlichen Schutzes nicht überschneiden, treten grundsätzlich zwischen den Schutzkategorien des nationalen und internationalen asylrechtlichen Schutzes keine Normkonflikte auf.14 Das Nebeneinander von asylrechtlichem Schutz nach Art. 16a Abs. 1 GG und internationalem Schutz zeigt sich auf einfachgesetzlicher Ebene z.B. in § 28 AsylG, der in Bezug auf die Beachtlichkeit von selbst geschaffenen Nachfluchtgründen zwischen der Anerkennung der Asylberechtigung (Abs. 1) und der Zuerkennung internationalen Schutzes (Abs. 2) unterscheidet und insoweit unterschiedliche Maßstäbe aufstellt.15 Eine solche Unterscheidung enthält die sichere Herkunftsstaatenregelung in § 29a AsylG hingegen nicht. Vielmehr werden dort die Schutzkategorien vermischt, indem die Vermutungswirkung zu Lasten des Asylbewerbers einerseits an seine Herkunft aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG geknüpft wird, sich die Vermutungswirkung andererseits aber (auch) auf den internationalen Schutz nach den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 AsylG bezieht. Die Kriterien für die Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG, die vom Bundesverfassungsgericht konkretisiert worden sind,16 können für die sichere Herkunftsstaatenregelung im Rahmen des internationalen Schutzes nach Art. 36 RL 2013/32/EU jedoch keine rechtliche Wirksamkeit entfalten. Vielmehr gelten insoweit die in Art. 37 RL 2013/32/EU näher ausgestalteten, mit den Vorgaben in Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG aber weitgehend übereinstimmenden Kriterien. Soll die Einstufung von sicheren Herkunftsstaaten – wie in § 29a Abs. 1 AsylG vorgesehen – nicht nur auf die Prüfung der Asylberechtigung, sondern auch auf die Prüfung des internationalen Schutzes Anwendung finden, muss sie zugleich den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen.17 Zu einer Überprüfung der erfolgten Einstufungen als sichere Herkunftsstaaten durch den Europäischen Gerichtshof auf ihre Vereinbarkeit mit den Richtlinienvorgaben aus Art. 37 RL 2013/32/EU kam es bislang jedoch nicht. Eine Ausnahme von dem kollisionsfreien Nebeneinander von nationalem und internationalem asylrechtlichem Schutz betrifft die Beachtung der Ausschlussgründe des Art. 12 Abs. 2 lit. b), c) RL 2011/95/EU bei der Prüfung der Asylberechtigung aus Art. 16a Abs. 1 GG.18 Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht nach Vorlage an den Europäischen Gerichtshof entschieden, dass die Ausschlussgründe des Art. 12 Abs. 2 lit. b), c) RL 2004/83/EG (heute Art. 12 Abs. 2 lit. b), c) RL 2011/95/EU) auch auf das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG anzuwenden sind, obwohl der Anwendungsbereich der EU-Anerkennungsrichtlinie die Voraussetzungen des Asylgrundrechts 14 Ausführlich Hailbronner, Das Grundrecht auf Asyl – unverzichtbarer Bestandteil der grundgesetzlichen Wertordnung , historisches Relikt oder gemeinschaftsrechtswidrig?, ZAR 2009, 36 ff. 15 Die für die Anerkennung der Asylberechtigung geltenden strengeren Maßstäbe beruhen auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 74, 51. 16 BVerfGE 94, 115. 17 Vgl. Heusch, in: Kluth/Heusch, Beck`scher Online Ausländerrecht (Stand: November 2016), Rn. 9 zu § 29a AsylG; Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht (2. Aufl., 2016), Rn. 2 zu § 29a AsylVfG; Hailbronner, Ausländerrecht (Loseblatt-Slg., Stand: April 2016), Rn. 12 ff. zu § 29a AsylG. 18 Bei den genannten Ausschlussgründen geht es um die Begehung einer schweren nichtpolitischen Straftat im Ausland sowie um Handlungen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 8 nicht erfasst.19 Grund für die Anwendung der unionsrechtlichen Ausschlussgründe ist die ähnliche Rechtsstellung von Asylberechtigten und Flüchtlingen („Verwechselbarkeit“20). Es liefe der EU- Anerkennungsrichtlinie zuwider, wenn „Deutschland Personen eine dem Flüchtlingsstatus weitgehend entsprechende Rechtsstellung gewährte […], die hiervon nach Art. 12 II der Richtlinie ausgeschlossen sind. Die Vorgaben des Unionsrechts verlangen somit, dass die Ausschlussgründe des Art. 12 II der Richtlinie auch auf Asylberechtigte anzuwenden sind […].“21 Die Normkollision, die hier durch die zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 12 Abs. 2 lit. b), c) RL 2011/95/EU ausgelöst wurde, kann man als indirekte Kollision bezeichnen. Sie folgt nicht daraus, dass ein bestimmter Bereich unterschiedlichen nationalen und unionsrechtlichen Vorgaben unterliegt, sondern daraus, dass die Wirksamkeit des Unionsrechts durch das nationale Recht auf andere Weise beeinträchtigt wird.22 3.2. Normkollisionen beim internationalen Schutz? Das EU-Sekundärrecht zum internationalen Schutz beschränkt sich nicht auf die Regelung einzelner Voraussetzungen der Schutzgewährung. Vielmehr enthält es in den verschiedenen Rechtsakten zahlreiche Vorgaben für die Verfahrensausgestaltung, die Aufnahmebedingungen und die Ausgestaltung der Schutzgewährung. Für all diese Bereiche könnte man Kollisionen zwischen den unionsrechtlichen Vorgaben und dem nationalen Verfassungsrecht in Betracht ziehen. Zwar würde insoweit nicht der verfassungsrechtliche Maßstab aus Art. 16a Abs. 1 GG greifen, aber zahlreiche andere Grundrechte sind grundsätzlich betroffen, z.B. die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bei Fragen des Aufenthalts oder Wohnsitzes von Asylbewerbern und Schutzberechtigten oder die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Bezug auf die Versorgung der Asylbewerber und Schutzberechtigten. Gleichwohl dürften Normkollisionen zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben wohl schon wegen der „Mindeststandard-Konzeption“23 des geltenden EU-Sekundärrechts unwahrscheinlich sein. Die Anerkennungs-, Asylverfahrens- und Aufnahmerichtlinie enthalten insoweit ausdrückliche Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten die Regelung günstigerer Bedingungen erlauben, soweit 19 BVerwG NVwZ 2011, 1450 ff. 20 Der im Rahmen des Vorlageverfahrens angerufene EuGH spricht insoweit von der „Gefahr der Verwechslung“, EuGH NVwZ 2011, 285, 289. 21 BVerwG NVwZ 2011, 1450, 1454. Siehe auch EuGH NVwZ 2011, 285, 289: „In Anbetracht des den Ausschlussgründen der Richtlinie zugrunde liegenden Zwecks, der darin liegt, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten, läuft es aber dem in Art. 3 der Richtlinie niedergelegten Vorbehalt zuwider, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt oder beibehält, die die Rechtsstellung des Flüchtlings einer Person gewähren, die hiervon nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ausgeschlossen ist.“ 22 Zu diesem Verständnis der indirekten Kollision vgl. Frenz, Europarecht (2. Aufl., 2016), Rn. 144. 23 So die Begriffsverwendung von Hailbronner (Fn. 14), 371. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 9 sie nicht gegen die Richtlinien verstoßen („Günstigkeitsklauseln“).24 Ein verfassungsrechtlich gebotenes höheres Schutzniveau wäre danach grundsätzlich ohne Normkollision mit den Unionsvorgaben umsetzbar. 3.3. Handlungsform der Verordnung im Rahmen der EU-Asylrechtsreform Die Kommissionsvorschläge für eine EU-Asylrechtsreform zielen u.a. auf eine weitere Harmonisierung der Kriterien für die Zuerkennung internationalen Schutzes und die mit der Gewährung internationalen Schutzes verbundene Rechtsstellung sowie auf die weitere Harmonisierung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen. Diese Harmonisierung soll insbesondere dazu beitragen, die Anreize für die Weiterreise in Mitgliedstaaten mit günstigeren Asylbedingungen zu senken („Asylshopping“, „Sekundärmigration“).25 Für die Harmonisierung der Zuerkennungskriterien und der mit dem internationalen Schutz verbundenen Rechtsstellung sowie für die Harmonisierung des Asylverfahrens schlägt die EU-Kommission u.a. den Neuerlass der bisherigen Richtlinien als Verordnungen vor. Im Unterschied zur Richtlinie, die nach Art. 288 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des Ziels verbindlich ist, ihnen jedoch die Wahl der Form und der Mittel bleiben, hat die Verordnung nach Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Für die hier relevante Frage nach möglichen Normkollisionen zwischen unions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben der Asylgewährung ist die Rechtsform als solche aber nicht ausschlaggebend. Denn auch Richtlinien können zwingende Vorgaben enthalten, die mit dem nationalen Recht kollidieren, und auch Verordnungen können „Günstigkeitsklauseln“ oder Ermessensnormen enthalten, die Normkollisionen mit dem nationalen Recht vermeiden. Zudem hängt der nationale Handlungsspielraum davon ab, wie weit der Anwendungsbereich einer Richtlinie oder Verordnung reicht. Die vorgeschlagene Anerkennungsverordnung beispielsweise sieht zwar keine spezifische „Günstigkeitsklausel“ vor, doch ist ihr Anwendungsbereich so eng gefasst, dass er die Gewährung anderer asylrechtlicher Schutztitel nicht ausschließt. Art. 3 Abs. 2 des Entwurfs der Anerkennungsverordnung bestimmt den Anwendungsbereich wie folgt: „Diese Verordnung gilt nicht für andere, nationale humanitäre Status, die die Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht denjenigen gewähren, denen weder die Flüchtlingseigenschaft noch der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werden kann. Wird ein solcher Status gewährt, so muss dies in einer Weise geschehen, die nicht die Gefahr einer Verwechslung mit dem internationalen Schutz birgt.“ Vom Anwendungsbereich der Anerkennungsvordung nicht erfasst sind also nationale Schutztitel, die zu günstigeren Bedingungen gewährt werden als der internationale Schutz. Allerdings dürfen diese nationalen Schutztitel nicht – dem oben erläuterten Gedanken der „Verwechslungsgefahr“ folgend – mit einer gleichartigen Rechtsstellung wie der des internationalen Schutzes verbunden sein. Der verfassungsrechtlich gebotene asylrechtliche Schutz dürfte bei einer solchen Bestimmung des Anwendungsbereichs nicht gefährdet sein. Das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG unterliegt in seiner jetzigen Auslegung und Anwendung schon keinen günstigeren Voraussetzungen als 24 Vgl. Art. 3 RL 2011/95/EU, Art. 5 RL 2013/32/EU und Art. 4 RL 2013/33/EU. 25 Siehe nur die Begründung zum Entwurf einer Anerkennungsverordnung (Fn. 1), 2 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 10 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, so dass insofern kein Konflikt mit der Anerkennungsverordnung auftreten würde. Auch die verfassungsrechtlich gebotenen nationalen Abschiebungsverbote würden – soweit sie unter günstigeren Bedingungen gewährt werden als der internationale Schutz – neben der geplanten Anerkennungsverordnung anwendbar bleiben, wenn sie mit einer Rechtsstellung einhergehen, die nicht mit der Rechtsstellung des internationalen Schutzes verwechselbar ist. Eine Gefährdung des verfassungsrechtlichen Schutzniveaus ergibt sich daher nicht schon aus der Rechtsform der Verordnung. Vielmehr müssen die relevanten Verordnungsbestimmungen eingehend daraufhin überprüft werden, ob sie das verfassungsrechtliche Schutzniveau der Asylgewährung unterschreiten. Sollte eine solche Unterschreitung des verfassungsrechtlichen Schutzniveaus vorliegen, würde diese aber – wie oben ausgeführt – nicht schon ohne Weiteres den Vorrang des Unionsrechts in Frage stellen. Das Bundesverfassungsgericht prüft das Unionsrecht lediglich unter den strengen Voraussetzungen der Grundrechts-, ultra-vires- und Identitätskontrolle.26 4. Integrationsverantwortung bei der EU-Asylrechtsgesetzgebung Fraglich ist, ob sich der deutsche Vertreter im Rat der Europäischen Union bei der EU-Asylrechtsgesetzgebung für die Wahrung des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG einsetzen müsste. Die allgemeine Frage nach der verfassungsrechtlichen Bindung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union ist nicht eindeutig geklärt.27 Betroffen sind einerseits die umfassende Verfassungsbindung nach Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG sowie andererseits die Integrationsoffenheit in Art. 23 Abs. 1 GG, die ihre Schranken erst in den Vorgaben des Art. 79 Abs. 2, 3 GG sowie bei Unterschreiten eines im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf Unionsebene findet. Gegen eine uneingeschränkte verfassungsrechtliche Bindung des Ratsvertreters lässt sich einwenden , sie könnte den Integrationsprozess lähmen und den politischen Verhandlungsspielraum zu stark einschränken. Auf der anderen Seite dürfte eine Grenze des Handlungsspielraums jedenfalls dann erreicht sein, wenn die nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren Verfassungsgrundsätze berührt sind. Unterhalb dieser Schwelle könnte man zudem auf die Sicherung des in Art. 23 Abs. 1 GG vorgesehenen, im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz verweisen.28 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner OMT-Entscheidung eine verfassungsrechtliche Bindung der Verfassungsorgane auf Unionsebene jedenfalls insoweit bejaht, als es um die Vermeidung von ultra-vires-Akten und Identitätsverletzungen durch die Europäische Union geht. In dieser Hinsicht 26 Siehe dazu oben unter Ziff. 2.2. 27 Zum Streitstand und m.w.N. Ziegenhorn, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Loseblatt -Slg., Stand: September 2013), Rn. 19 zu Art. 16 EUV; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV (5. Aufl., 2016), Rn. 8 zu Art. 16 EU-Vertrag; Cremer, Grundgesetzliche Bindungen des deutschen Vertreters bei Abstimmungen im Rat der Europäischen Union und ihre prozessuale Durchsetzbarkeit, EuR 2014, 195, 205 ff. 28 So Herdegen, Europarecht (18. Aufl., 2016), Rn. 35 ff., 40, der aber einräumt, dass die Sicherung eines im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf Unionsebene wohl nicht von dem Verhalten des Ratsvertreters in Bezug auf einen einzelnen EU-Rechtsakt abhängen dürfte und demzufolge von ihm auch nicht ein bestimmtes Verhalten zu verlangen sei. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 275/16 Seite 11 treffe die Verfassungsorgane aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung die Pflicht, Maßnahmen von Organen, Einrichtung und sonstigen Stellen der Europäischen Union entgegenzutreten .29 In der OMT-Entscheidung heißt es dazu: „Für die - der Sicherung von Demokratie und Volkssouveränität dienende - Integrationsverantwortung bedeutet dies, dass die Verfassungsorgane im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen und sonstiger Verletzungen der Verfassungsidentität durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken haben. Sie können Kompetenzüberschreitungen gegebenenfalls zwar nachträglich legitimieren, indem sie eine - die Grenzen von Art. 79 Abs. 3 GG wahrende - Änderung des Primärrechts anstoßen (…) und die ultra vires in Anspruch genommenen Hoheitsrechte im Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3 GG förmlich übertragen. Soweit dies jedoch nicht möglich oder nicht gewollt ist, sind sie verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen mit rechtlichen oder politischen Mitteln auf die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie - solange die Maßnahmen fortwirken - geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben (…). Insoweit sind geeignete Möglichkeiten zu ergreifen, um die Wahrung des Integrationsprogramms sicherzustellen (…). Dazu zählen mit Blick auf die Bundesregierung insbesondere eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 263 Abs. 1 AEUV), die Beanstandung der fraglichen Maßnahme gegenüber den handelnden und den sie kontrollierenden Stellen, das Stimmverhalten in den Entscheidungsgremien der Europäischen Union einschließlich der Ausübung von Vetorechten und der Berufung auf den Luxemburger Kompromiss (…), Vorstöße zu Vertragsänderungen (…).“30 Nach diesen Maßstäben müsste sich der deutsche Vertreter im Rat der Europäischen Union bei der EU-Asylrechtsgesetzgebung jedenfalls aktiv gegen ultra-vires-Akte und Identitätsverletzungen wenden. In Bezug auf die Wahrung des hier fraglichen Art. 16a Abs. 1 GG käme allerdings eine Identitätsverletzung nicht in Betracht. Das Asylgrundrecht gehört nicht zu den von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten unantastbaren Verfassungsgrundsätzen. Vielmehr kann der verfassungsändernde Gesetzgeber das Grundrecht auf Asyl ohne Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG aufheben.31 *** 29 BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 –, juris. 30 BVerfG, Urteil vom 21. Juni 2016 – 2 BvE 13/13 –, juris, Rn. 170 f., Hervorhebungen nicht im Original. Um die Abwendung eines möglichen ultra-vires-Aktes und einer möglichen Identitätsverletzung ging es auch in dem einstweiligen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betreffend die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur vorläufigen Anwendung des CETA-Abkommens, vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 2 BvE 3/16 –, juris. 31 So ausdrücklich BVerfGE 94, 49, 103 f.