© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 274/14 Eingriffsbefugnisse der Polizei bei Demonstrationen Strukturelle Vollzugsdefizite im Bereich des Versammlungsrechts? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 2 Eingriffsbefugnisse der Polizei bei Demonstrationen Strukturelle Vollzugsdefizite im Bereich des Versammlungsrechts? Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 274/14 Abschluss der Arbeit: 06.01.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verfassungsrechtlicher Rahmen für ein Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen 4 2.1. Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG 4 2.2. Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG 6 3. Einfachgesetzlicher Rahmen für ein Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen 7 3.1. Befugnisse im Vorfeld einer Demonstration 8 3.1.1. Anmeldungspflicht 8 3.1.2. Auflagen 8 3.1.3. Verbot 11 3.1.4. Weitere polizeiliche Befugnisse im Vorfeld 11 3.2. Befugnisse im Verlauf einer Demonstration 12 3.2.1. Entsendung von Polizeibeamten 12 3.2.2. Bild- und Tonaufnahmen 12 3.2.3. Ausschließung von Teilnehmern 12 3.2.4. Minus-Maßnahmen 13 3.3. Auflösung einer Demonstration 13 4. Strukturelle Vollzugsdefizite im Bereich des Versammlungsrechts? 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 4 1. Fragestellung Anlässlich einer Militäroperation Israels im Gazastreifen im Sommer 2014 wurden in Deutschland mehrere Demonstrationen abgehalten, die sich gegen den israelischen Staat richteten. Auf einigen dieser Demonstrationen wurden auch antisemitische Parolen skandiert. Vor diesem Hintergrund wird um eine Darstellung des gesetzlichen Regelungsrahmens für das Eingreifen der Polizei auf Demonstrationen gebeten. Darüber hinaus wird gefragt, ob bei der derzeitigen Rechtslage Vollstreckungsdefizite existieren, die es der Polizei erschweren, auf Demonstrationen bei Verdachtsmomenten bzw. unklarer Rechtslage tätig zu werden. Diesbezüglich wird insbesondere um eine Darstellung des Meinungsstandes in der Literatur gebeten. Vollstreckungsdefizite im Sinne der Fragestellung werden im Folgenden als strukturelle Vollzugsdefizite verstanden. Solche liegen vor, wenn eine Rechtsnorm in der Praxis nicht oder nur unzureichend umgesetzt wird und dies auf eine mangelnde Umsetzbarkeit zurückzuführen ist, die im Gesetz selbst angelegt ist. 2. Verfassungsrechtlicher Rahmen für ein Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen Der verfassungsrechtliche Rahmen für ein Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen bestimmt sich insbesondere durch die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sowie die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG.1 2.1. Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Rechtsprechung die Bedeutung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG und bezeichnet sie als wesentliches Element demokratischer Offenheit .2 Das Grundrecht garantiert allen Deutschen das Recht, Versammlungen zu veranstalten und an ihnen teilzunehmen. Ob auch Unionsbürger Träger der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG sind, ist umstritten. Nach einer Ansicht ist Art. 8 Abs. 1 GG im Wege europafreundlicher Auslegung auch auf Unionsbürger zu erstrecken.3 Eine andere Ansicht verweist hingegen auf den eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes, der nicht unterlaufen werden dürfe.4 Vermittelnd wird die Auffassung vertreten, dass in Bezug auf Unionsbürger auf Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrund- 1 Siehe hierzu Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 1 Rn. 88 ff. 2 Siehe nur BVerfGE 69, 315 (346). Vertiefend hierzu Kniesel, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit – Entwicklung des Versammlungsrechts seit 1996, NJW 2000, 2857 ff. 3 So bspw. Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 8 Rn. 31. 4 Vgl. Hillgruber, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2002, Art. 2 I Rn. 272 ff.; Depenheuer, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 72. EL 2014 (Kommentierung : 48. EL 2006), Art. 8 Rn. 110. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 5 recht zurückzugreifen sei und die Schranken des entsprechenden Deutschen-Grundrechts zu übertragen seien.5 Aufgrund des Umstandes, dass der Gesetzgeber in § 1 Versammlungsgesetz des Bundes (VersG Bund) die Versammlungsfreiheit „jedermann“ unabhängig von der Staatsangehörigkeit einräumt, hat sich das Problem des Verhältnisses des europäischen Rechts zu Art. 8 GG jedoch praktisch weithin entschärft. In diesem Zusammenhang ist auch Art. 11 Europäische Menschenrechtskonvention zu nennen, der ebenfalls die Versammlungsfreiheit aller Menschen garantiert und im Range eines Bundesgesetzes unmittelbare Geltung in Deutschland besitzt.6 Die Versammlungsfreiheit umfasst das Recht eine Versammlung zu veranstalten (hierzu zählt auch die freie Wahl des Themas, des Termins, des Ortes und der Form der Versammlung7), das Recht zu einer Versammlung öffentlich aufzurufen und einzuladen sowie das Recht an einer Versammlung teilzunehmen. Art. 8 Abs. 1 GG stellt jedoch nicht nur ein bloßes Abwehrrecht dar, sondern gewährt darüber hinaus auch bspw. einen Schutz vor gewalttätigen Gegendemonstrationen , enthält ein spezifisches Kooperationsgebot für die Behörden und strahlt in die einfache Rechtsordnung aus.8 Ihre vorrangige Bedeutung hat die Versammlungsfreiheit als Demonstrationsfreiheit. In der Literatur wird eine Demonstration als Zusammenkunft von mindestens zwei Personen mit dem verbindenden Zweck gemeinsamer Meinungskundgabe verstanden.9 Das Bundesverfassungsgericht verzichtet hingegen auf einen selbstständigen Demonstrationsbegriff und fasst die Demonstration als kollektive Meinungskundgabe unter dem übergeordneten Begriff der Versammlung.10 Die Versammlungsfreiheit unterliegt unterschiedlichen Beschränkungen: Bereits auf der Ebene des Schutzbereichs sind die Grenzen der „Friedlichkeit“ und „Waffenlosigkeit “ normiert. „Friedlich“ ist dabei eine Versammlung, wenn weder ihr Zweck noch ihr Verlauf die Begehung oder den Versuch von Straftaten gegen Leib, Leben, Freiheit oder sonstige erhebliche Rechtsgüter Dritter der Allgemeinheit mit sich bringt.11 Allerdings ist eine Veranstaltung aufgrund von Ausschreitungen einzelner Teilnehmer noch nicht als unfriedlich zu qualifizieren. Eine Unfriedlichkeit ist erst dann anzunehmen, wenn sich die Versammlungsleitung oder die Mehrzahl 5 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 116. In diese Richtung auch Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 8 Rn. 39, der jedoch für eine Anwendung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts aus Art. 2 Abs. 1 GG plädiert. 6 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 7 ff. 7 Vgl. BVerfGE 73, 206 (249). 8 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck´scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 23. Edition 2014, Art. 8 Vorbemerkungen. 9 Siehe statt vieler von Münch/Kunig, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 8 Rn. 12 ff. 10 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 1 Rn. 19. 11 BVerfGE 104, 92 (105 f.); BVerfG (Kammer), NVwZ 2005, 80 (80). Ausgestaltet wird das Merkmal in § 5 Nr. 3, § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG Bund. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 6 der Teilnehmer mit den Tätern solidarisieren.12 Die Beschränkung des sachlichen Gewährleistungsbereichs auf waffenlose Versammlungen stellt einen Unterfall des Friedlichkeitsvorbehaltes dar.13 Der Grundrechtsausschluss greift jedenfalls bei Waffen im technischen Sinne, also bei Waffen im Sinne des § 1 Waffengesetz.14 Nach herrschender Meinung werden vom Waffenbegriff des Art. 8 Abs. 1 GG aber auch Gegenstände erfasst, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur (erheblichen) Beschädigung von Sachen geeignet sind und subjektiv den gesamten konkreten Umständen nach zu diesem Zwecke mitgeführt werden (vgl. auch § 2 Abs. 3 VersG Bund).15 Für Versammlungen bzw. Demonstrationen unter freiem Himmel kann die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 2 GG zudem durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Hiermit soll ermöglicht werden, solche Versammlungen, die wegen ihres Ortes und der Umstände ihrer Abhaltung in besonderer Weise geeignet sind, Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit zu beeinträchtigen, besonderen Regelungen zu unterwerfen.16 Die praktisch bedeutsamsten Schranken in diesem Sinne folgen bisher aus dem VersG Bund. Seit der Föderalismusreform 2006 besitzen nunmehr die Länder gemäß Art. 70 Abs. 1 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Versammlungsrechts. In der Folge haben die Bundesländer Bayern, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Sachsen entsprechende Landesversammlungsgesetze erlassen. In den übrigen Bundesländern gilt nach Art. 125a Abs. 1 GG weiter das VersG Bund. Da das VersG Bund also noch Gültigkeit und im Übrigen die Landesversammlungsgesetze im Wesentlichen mit dem VersG Bund vergleichbar sind, soll die Rechtslage anhand der bundesrechtlichen Regelung erläutert werden.17 2.2. Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG Daneben spielt auch die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG bei Demonstrationen eine Rolle. Art. 5 Abs. 1 GG gewährt jedem das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten . Der Begriff der „Meinung“ ist dabei weit zu verstehen und wird durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und der Beurteilung geprägt.18 Darüber hinaus erfasst der Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG auch solche Tatsachen, die meinungsbezogen sind und zur Meinungsbildung beitragen.19 Unrichtige Informationen fallen hingegen nicht unter den Schutz des Art. 5 Abs. 1 12 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2014, § 7 Rn. 417. 13 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 8 Rn. 8. 14 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck´scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 23. Edition 2014, Art. 8 Rn. 16. 15 Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 8 Rn. 27; Schulze- Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 8 Rn. 46; Depenheuer, in: Maunz/ Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 72. EL 2014 (Kommentierung: 48. EL 2006), Art. 8 Rn. 89. 16 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2014, § 7 Rn. 418. 17 Von Bedeutung können ferner die Bannmeilengesetze von Bund und Ländern sowie die Polizei- und Ordnungsgesetze und das Straßen- und Wegerecht der Länder sein. 18 BVerfGE 61, 1 (8). 19 BVerfGE 61, 1 (8). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 7 GG, weil sie der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Aufgabe zutreffender Meinungsbildung nicht dienen können.20 Dabei dürfen jedoch die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass dadurch die Funktion der Meinungsfreiheit in Gefahr gerät oder leidet.21 Ihre Schranken findet die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Nach der Rechtsprechung sind „allgemeine Gesetze“ solche, die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung , zu schützenden Rechtsguts dienen.22 Während Art. 8 Abs. 1 GG Maßstab für die Beurteilung der Art und Weise der kollektiven Meinungskundgabe in Form einer Versammlung ist, stellt Art. 5 Abs. 1 GG die maßgebliche Norm zur Beurteilung des Inhalts von Meinungsäußerungen auf Versammlungen dar.23 Dementsprechend sind Schranken für die Meinungsäußerung und -kundgabe Art. 5 Abs. 2 GG und Schranken für die Art der Kundgabe und Erörterung Art. 8 Abs. 2 GG bzw. den jeweils erlassenen Gesetzen zu entnehmen . Eine Verknüpfung beider Grundrechte liegt hinsichtlich ihrer Beschränkbarkeit vor: Eine Meinungsäußerung, die nach Art. 5 Abs. 2 GG nicht unterbunden werden darf, kann auch keine Beschränkung der Versammlungsfreiheit legitimieren.24 3. Einfachgesetzlicher Rahmen für ein Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen Das jeweils einschlägige Versammlungsgesetz geht als spezialgesetzliche Materie grundsätzlich anderen Regelungen vor. Nach dem Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts ist, soweit das Versammlungsgesetz greift, ein Rückgriff auf sonstige Regelungen – insbesondere auf das allgemeine Polizeirecht – grundsätzlich nicht möglich.25 Die Einzelheiten des Grundsatzes der Polizeifestigkeit sind jedoch umstritten.26 Dies betrifft etwa die Problematik, ob Vorfeldmaßnahmen , mit denen bereits vor Versammlungsbeginn in die Versammlungsfreiheit eingegriffen wird, sowie sog. Minusmaßnahmen, die unterhalb einer Auflösungsverfügung in die Versammlungsfreiheit eingreifen, noch auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden können.27 20 BVerfGE 54, 208 (219). 21 BVerfGE 54, 208 (219 f.). 22 BVerfGE 7, 198 (209 f.); BVerfGE 28, 282 (292); BVerfGE 124, 300 (321 f.). 23 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 1 Rn. 130 m.w.N. 24 BVerfGE 111, 147 (155). 25 Höfling/Krohne, Versammlungsrecht in Bewegung, JA 2012, 734 (738); Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz , Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 1 Rn. 193. 26 Vertiefend hierzu Kötter/Nolte, Was bleibt von der „Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“?, DÖV 2009, 399 ff. 27 Vgl. Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 8 Das VersG Bund nimmt nur teilweise ausdrücklich Bezug auf die Polizei und ermächtigt im Übrigen die „zuständige Behörde“ bzw. die Versammlungsbehörde. Welche Behörde zuständig ist, ergibt sich aus den Zuständigkeitsvorschriften der Länder.28 In Berlin beispielsweise fällt die Aufgabe der Versammlungsaufsicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei.29 3.1. Befugnisse im Vorfeld einer Demonstration 3.1.1. Anmeldungspflicht Nach § 14 VersG Bund sind Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge anzumelden. Diese Pflicht wird dadurch sanktioniert, dass § 15 Abs. 3 VersG Bund die Versammlungsbehörde zur Auflösung der nichtangemeldeten Versammlung ermächtigt und § 26 Nr. 2 VersG Bund die Durchführung der nichtangemeldeten Versammlung mit Strafe bedroht. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch bei einer Spontanversammlung die Anmeldung für verzichtbar30 und bei der Eilversammlung die Anmeldefrist für verkürzbar erklärt.31 Auch die Sanktion der Auflösung wurde von dem Gericht außer Anwendung gestellt.32 Es ist zu erwarten, dass auch die Bestrafung nach § 26 Nr. 2 VersG Bund fallen gelassen wird.33 Gleichwohl ist das Anmeldeerfordernis nicht bedeutungslos, da es Grundlage und Voraussetzung des Kooperationsprinzips im Versammlungsrecht darstellt.34 Nur soweit die Versammlungsbehörde Informationen über die bevorstehende Versammlung besitzt und in Kontakt zu den Veranstaltern steht, können Gestaltungs- und Rechtsfragen erörtert, Informationen ausgetauscht, Kooperationen abgesprochen und damit Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vermieden werden.35 3.1.2. Auflagen Die Versammlungsbehörde kann die Versammlung oder den Aufzug von Auflagen abhängig machen, also unter Einschränkungen zulassen.36 28 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 21. 29 § 4 Abs. 2 S. 1 Allgemeines Zuständigkeitsgesetz, § 2 Abs. 4 S. 1 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz, Nr. 23 Abs. 2 Zuständigkeitskatalog Ordnungsaufgaben. 30 BVerfGE 69, 315 (351). 31 BVerfGE 85, 69 (75). 32 BVerfGE 69, 315 (350 f.). 33 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 21 Rn. 5a. 34 Vertiefend hierzu Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2014, § 7 Rn. 424 m.w.N. 35 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 21 Rn. 5a. 36 Siehe Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 349. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 9 Bestimmte Beschränkungen finden sich bereits im VersG Bund selbst in Form von gesetzlich vertypten Auflagen.37 So verbietet § 2 Abs. 3 VersG Bund das Mitführen von Waffen, § 3 Abs. 1 VersG Bund das Tragen von Uniformen, § 17a Abs. 1 VersG Bund das Mitführen von sog. Schutzwaffen und § 17a Abs. 2 VersG Bund die Vermummung. Darüber hinaus kann nach § 15 Abs. 1 VersG Bund die zuständige Behörde solche Versammlungen oder Aufzüge von bestimmten Auflagen abhängig machen, die nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährden. Der Begriff der Auflage ist dabei nicht im rechtstechnischen Sinne zu verstehen, sondern umfasst vielmehr alle Anordnungen, die der Abwehr von Gefahren dienen, die sich im Zusammenhang mit der Durchführung einer Versammlung bzw. eines Aufzuges ergeben und die noch kein Verbot der Versammlung darstellen.38 Die Beschränkungen können sich auf den Ort und die Zeit sowie die Art der Durchführung der Veranstaltung (z.B. besondere Inszenierungen, die Mitführung bestimmter Fahnen, das Skandieren bestimmter Parolen, das Outfit der Teilnehmer) erstrecken. Dabei ist es auch zulässig, die Erörterung einzelner strafbarer Veranstaltungsthemen zu verbieten.39 Es ist jedoch zu beachten, dass je intensiver die Auflage in die Versammlungsfreiheit eingreift, desto gewichtigere Gründe im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zur Rechtfertigung des Eingriffes erforderlich sind.40 Schutzgüter einer Auflage nach § 15 Abs. 1 VersG Bund sind die öffentliche Sicherheit und Ordnung . Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst dabei den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.41 Damit stellen Auflagen insbesondere sicher, dass Versammlungen die Grenzen, die ihnen in den Strafgesetzen gezogen sind, einhalten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die strafrechtlichen Verbote volksverhetzender (§ 130 Strafgesetzbuch [StGB]), bekenntnisbeschimpfender (§ 166 StGB), beleidigender (§§ 185 ff. StGB) sowie verunglimpfender (§ 189 StGB) Äußerungen zu nennen. Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung wurde in den letzten Jahren verstärkt herangezogen, um inhaltlich anstößige Versammlungen beschränken zu können.42 Unter dem Begriff der öffentlichen Ordnung versteht das Bundesverfassungsgericht die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten 37 Vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 21 Rn. 10. 38 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 7 Rn. 373. 39 VGH München, BayVBl. 1983, 54 (54 f.). 40 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 7 Rn. 373. 41 BVerfGE 69, 315 (352). 42 Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 356. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 10 menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets anzusehen ist.43 Das Gericht hat jedoch klargestellt, dass das Schutzgut der öffentlichen Ordnung keine Beschränkungen von Meinungsinhalten rechtfertige, die über die schon gesetzlichen, insbesondere strafrechtlichen Beschränkungen der Meinungsfreiheit zum Schutze der öffentlichen Sicherheit hinausreichten .44 Etwas anderes gelte nur dann, wenn sich die Beschränkung allein auf die Art und Weise, nicht aber auf den Inhalt der Meinungsäußerung beziehe. So seien Beschränkungen unbedenklich, die ein aggressives und provokatives, die Bürger einschüchterndes Verhalten der Versammlungsteilnehmer verhindern sollen, durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird.45 Die Gefahr für das Schutzgut muss grundsätzlich unmittelbar sein. Vorausgesetzt wird damit eine konkrete Sachlage, in der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schaden für die geschützten Rechtsgüter eintreten wird.46 Für die Gefahrenprognose können auch Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisationskreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.47 Da die Prognoseentscheidung der Versammlungsbehörde gemäß § 15 Abs.1 VersG Bund „auf erkennbaren Umständen“ beruhen muss, also auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten, reichen ein bloßer Verdacht oder Vermutungen nicht aus.48 Wird ein bestimmter Redebeitrag oder das Skandieren bestimmter Parolen, die nicht nach dem Strafrecht verboten sind, untersagt, sind strenge Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen, weil neben der Versammlungsfreiheit des Veranstalters auch die Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist.49 § 15 Abs. 2 VersG Bund berechtigt darüber hinaus zur Beschränkung von Versammlungen und Aufzügen, die an einem Ort stattfinden, die als Gedenkstätte an die Opfer des NS-Regimes erinnern, und bei denen die Besorgnis besteht, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Im Unterschied zu den Eingriffsbefugnissen nach § 15 Abs. 1 VersG Bund fordert der Gesetzgeber im Rahmen des § 15 Abs. 2 VersG Bund keine unmittelbare Gefährdung . Für die Prognose einer Würdebeeinträchtigung reicht es damit aus, dass die Versammlungsbehörde nach den für sie erkennbaren Umständen annehmen darf, dass eine Beeinträchtigung eintreten wird.50 43 BVerfG (Kammer), NJW 2001, 2069 (2071). 44 BVerfGE 111, 147 (156). 45 BVerfGE 111, 147 ( 156 f.). 46 BVerfG (Kammer), NVwZ 1998, 834 (835). 47 BVerfG (Kammer), NJW 2010, 141 (142). 48 BVerfGE 69, 315 (353 f.). 49 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 48, m.w.N. aus der Rechtsprechung . 50 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 77 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 11 3.1.3. Verbot Das Verbot einer geplanten Versammlung ist die stärkste Form eines präventiven Eingriffes in die Versammlungsfreiheit. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt, dass ein Verbot einer Versammlung als ultima ratio nur zulässig ist bei schweren Gesetzesverstößen, denen nicht mit milderen Mitteln – bspw. Auflagen – begegnet werden kann.51 Eine Verbotsverfügung betrifft immer die gesamte Versammlung. Sollen nur bestimmte Aktivitäten im Rahmen der Versammlung untersagt werden, ist eine Auflage zu erlassen. Eine wirksame Verbotsverfügung nimmt der betroffenen Versammlung den versammlungsrechtlichen Schutz, so dass Maßnahmen zur Durchsetzung der Verbotsverfügung auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden können.52 Da Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge strengeren Regelungen unterliegen als Versammlungen in geschlossenen Räumen, sind im Wege des Erst-Recht-Schlusses die Verbotsgründe für Versammlungen in geschlossenen Räumen aus § 5 VersG Bund auch auf Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge anwendbar.53 Danach kann eine Versammlung verboten werden, wenn dem Veranstalter das Versammlungsrecht nicht zusteht (§ 5 Nr. 1 VersG Bund), bewaffneten Teilnehmern der Zutritt gewährt wird (§ 5 Nr. 2 VersG Bund), ein gewalttätiger oder aufrührerischer Verlauf der Versammlung angestrebt wird (§ 5 Nr. 3 VersG Bund) oder strafbedrohte Ansichten vertreten bzw. geduldet werden (§ 5 Nr. 4 VersG Bund). Die Befugnis zum Verbot einer Versammlung aus § 15 Abs. 1 VersG Bund greift, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Damit bestehen dieselben Tatbestandsvoraussetzungen wie beim Erlass einer Auflage, so dass auf die entsprechenden Ausführungen oben verwiesen werden kann. Dies gilt auch für ein spezielles Verbot nach § 15 Abs. 2 VersG Bund zum Schutz der Würde der Opfer des NS-Regimes. 3.1.4. Weitere polizeiliche Befugnisse im Vorfeld Darüber hinaus bestehen weitere Befugnisse im Vorfeld einer Demonstration. Hierzu zählen unter anderem die Genehmigung der Verwendung von Ordnern gemäß § 18 Abs. 2 VersG Bund sowie die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen gemäß §§ 19a, 12a VersG Bund.54 Zulässig sind solche Aufnahmen, sofern tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Eine 51 BVerfGE 69, 315 (353); siehe auch Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2014, § 7 Rn. 429 m.w.N. 52 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 20. 53 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 22; vgl. auch OVG Weimar, NVwZ-RR 1997, 287 (288). 54 Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 377. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 12 Gefahr ist dabei erheblich, wenn sie Leib, Leben oder bedeutende Vermögensgüter betrifft oder sonst von besonderem Gewicht ist.55 Zudem kann nach herrschender Meinung für Vorfeldmaßnahmen, die sich gegen einzelne Versammlungsteilnehmer richten, auch auf die Regelungen des allgemeinen Polizeirechts zurückgegriffen werden.56 Dabei ist jedoch die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, da diese bereits die Anreise zu einer Versammlung erfasst.57 3.2. Befugnisse im Verlauf einer Demonstration 3.2.1. Entsendung von Polizeibeamten Es besteht die Möglichkeit der Entsendung von Polizeibeamten zu einer Demonstration, um vor Ort die Situation beobachten und entsprechend reagieren zu können. Für Versammlungen unter freiem Himmel ergibt sich dies ausdrücklich aus §§ 18 Abs. 1, 12 VersG Bund. Für Aufzüge fehlt eine entsprechende Befugnisnorm, jedoch setzt § 19 Abs. 4 VersG Bund voraus, dass auch bei Aufzügen Polizeibeamte anwesend sein und zu ihnen entsendet werden können. Voraussetzung für eine Entsendung ist eine konkrete Gefahr für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.58 3.2.2. Bild- und Tonaufnahmen Die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen während einer Demonstration ist unter den gleichen Voraussetzungen zulässig, wie im Vorfeld einer Demonstration (hierzu oben unter 3.1.4.). Wie die Entsendung von Polizeibeamten dienen die Aufnahmen der Abschreckung von Störern und ermöglichen ein sofortiges Reagieren auf Störungen.59 3.2.3. Ausschließung von Teilnehmern Nach § 18 Abs. 3 bzw. § 19 Abs. 4 VersG Bund kann die Polizei Teilnehmer, welche die Ordnung gröblich stören, von der Versammlung bzw. dem Aufzug ausschließen. Nach der herrschenden Meinung gilt dies nur für ein Verhalten, das eine schwere Beeinträchtigung des Verlaufs der Veranstaltung selbst darstellt, was aber nicht der Fall ist, wenn das Verhalten eines Teilnehmers in Übereinstimmung mit dem Zweck der Versammlung steht.60 Die Vorschrift schützt damit nur den geordneten Ablauf der Versammlung, wendet sich also gegen Versammlungsgegner und betrifft 55 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 21 Rn. 43. 56 Siehe nur Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 37. 57 Vgl. Behmenburg, Polizeiliche Maßnahmen bei der Anfahrt zur Versammlung, LKV 2003, 500 (504). 58 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 22 Rn. 4. 59 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 22 Rn. 5. 60 BVerfG (Kammer), NVwZ 2005, 80 (81); VGH Kassel, NVwZ-RR 2011, 519 (521). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 13 nicht Gefährdungen oder Verletzungen durch Versammlungsteilnehmer zum Nachteil öffentlicher oder privater Einrichtungen oder Gegner der Versammelten.61 3.2.4. Minus-Maßnahmen Von der herrschenden Meinung anerkannt sind zudem sog. Minus-Maßnahmen.62 Hierunter werden solche Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer gefasst, die unterhalb der Schwelle der Auflösung stehen, wie bspw. die Sicherstellung eines beleidigenden Spruchbandes. Da das VersG Bund lediglich zu einem Vorgehen gegen die Versammlung als solche ermächtige, jedoch keine Befugnisnormen für ein Einschreiten gegen einzelne Störer enthalte, könne dabei auf das Befugnisse des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zurückgegriffen werden. So sei es nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter Umständen geboten, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 VersG Bund nicht die Versammlung aufzulösen, sondern Maßnahmen geringerer Eingriffsintensität nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht zu ergreifen. In Betracht kommt dabei insbesondere ein Rückgriff auf die Generalklauseln des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts. So kann bspw. nach der Generalklausel in § 17 Allgemeines Sicherheits - und Ordnungsgesetz Berlin die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, soweit keine besonderen Eingriffsbefugnisse einschlägig sind. 3.3. Auflösung einer Demonstration Schließlich kann die Polizei eine Demonstration gemäß § 15 VersG Bund auflösen. Unter einer Auflösung versteht man dabei die Beendigung einer bereits existierenden Versammlung oder eines Aufzuges mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen.63 Eine wirksame Auflösungsverfügung nimmt der betroffenen Versammlung den versammlungsrechtlichen Schutz und betrifft stets die gesamte Veranstaltung.64 Bei ortsfesten Versammlungen besteht nach der Auflösung gemäß § 18 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 2 VersG Bund die Pflicht zum Sichentfernen kraft Gesetzes, bei Aufzügen muss diese Pflicht durch besondere Anordnung ausgesprochen werden.65 Für weitere Maßnahmen, insbesondere zur Durchsetzung gilt allgemeines Polizeirecht. 61 VGH Kassel, NVwZ-RR 2011, 519 (521); Schwabe, Desaster im Versammlungsrecht, DÖV 2010, 720 (722 f.); a.A. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 22 Rn. 10. 62 BVerwGE 64, 55 (57 f.); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 8 Rn. 62; Müller- Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 8 Rn. 57; Depenheuer, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand: 71. EL 2014 (Kommentierung: 48. EL 2006), Art. 8 Rn. 153. Siehe aber auch die kritische Diskussion bei Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, K Rn. 28 ff.; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 20 Rn. 15 und § 22 Rn. 15; Kötter/Nolte, Was bleibt von der „Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“, DÖV 2009, 399 (403 f.); Schwabe, Desaster im Versammlungsrecht, DÖV 2010, 720 ff. 63 BVerfG (Kammer), NVwZ 2005, 80 (81). 64 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 117 f. 65 Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2011, § 15 Rn. 113. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 14 § 15 Abs. 3 VersG Bund enthält Auflösungsgründe, bei deren Vorliegen die Versammlung oder der Aufzug aufgelöst werden kann. Zu diesen Auflösungsgründen zählen die Nichtanmeldung einer Versammlung66, das Abweichen von den Angaben der Anmeldung, das Nichtbeachten beschränkender Verfügungen sowie das Vorliegen von Verbotsgründen nach § 15 Abs. 1 oder Abs. 2 VersG Bund. Eine Auflösung aufgrund dieser Auflösungsgründe ist jedoch nur zulässig, soweit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gegeben ist.67 Nach § 15 Abs. 4 VersG Bund besteht darüber hinaus die Pflicht zur Auflösung von Versammlungen und Aufzügen, die im Vorfeld verboten wurden. Das Verbot kann sich dabei sowohl aus einer Verfügung als auch einer gesetzlichen Regelung ergeben. Im Wege des Erst-Recht-Schlusses sind auf Versammlungen unter freiem Himmel zudem die Regelungen über die Auflösung von Versammlungen in geschlossenen Räumen aus § 13 VersG Bund anwendbar.68 Danach kann eine Versammlung aufgelöst werden, wenn dem Veranstalter das Versammlungsrecht nicht zusteht (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 VersG Bund), ein gewalttätiger oder aufrührerischer Verlauf gegeben ist oder Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG Bund), bewaffnete Personen nicht ausgeschlossen werden (§ 13 Abs. 1 Nr. 3 VersG Bund) oder gegen Strafgesetze verstoßen wird bzw. zu Straftaten aufgefordert wird (§ 13 Abs. 1 Nr. 4 VersG Bund). 4. Strukturelle Vollzugsdefizite im Bereich des Versammlungsrechts? In der juristischen Fachliteratur werden strukturelle Vollzugsdefizite in Bezug auf ein Tätigwerden der Polizei im Rahmen von Demonstrationen bei Verdachtsmomenten bzw. unklarer Rechtslage nicht diskutiert.69 Die Darstellung des Regelungsrahmens für ein Eingreifen der Polizei im Rahmen von Demonstrationen oben unter 3. zeigt, dass Voraussetzung für ein Tätigwerden in aller Regel das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ist. Insoweit entspricht der Regelungsrahmen dem des allgemeinen Polizeirechts, das ebenfalls vom Gefahrenbegriff und der damit verbundenen Prognoseentscheidung geprägt wird. Der Gefahrenbegriff markiert eine Eingriffsschwelle und bestimmt somit maßgeblich die Befugnisse von Polizeibeamten bei Verdachtsmomenten bzw. unklarer Rechtslage. 66 Die bloße Nichtanmeldung ist jedoch kein Auflösungsgrund, siehe hierzu die Ausführungen oben unter 3.1.1. 67 Vgl. BVerfGE 69, 315 (351). 68 Siehe oben unter 3.1.3. 69 Diskutiert wurde in den Medien im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten Anti-Israel-Demonstrationen hingegen die Frage, ob faktische Vollzugsdefizite vorliegen, d.h. ob die Polizei ihre Befugnisse nicht ausreichend ausgeübt habe: Siehe bspw. Hasselmann, Berlins Polizei kuscht vor Juden-Hassern, Der Tagesspiegel vom 21. Juli 2014, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/10226896.html (letzter Abruf am 29. Dezember 2014); sowie ein Interview des WDR mit dem Landesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft Plickert vom 22. Juli 2014, abrufbar unter http://www.wdr2.de/aktuell/israeldemospolizei100.html (letzter Abruf am 29. Dezember 2014). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 15 Als Gefahr wird nach allgemeiner Ansicht eine Sachlage bezeichnet, bei der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit ein Schaden für die geschützten Rechtsgüter eintreten wird.70 Maßgebliches Kriterium ist also die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Da eine Prognose stets mit einem gewissen Maß an Unsicherheit bezüglich der tatsächlichen Entwicklung einhergeht, ist für die Gefahrenbeurteilung die ex-ante-Sicht, d.h. der Zeitpunkt des behördlichen Handelns, maßgeblich.71 Ob die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts in einem konkreten Fall hinreichend ist, bestimmt sich gemäß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach der Bedeutung des bedrohten Rechtsguts sowie dem Ausmaß des drohenden Schadens.72 Je größer die Bedeutung des Schutzgutes und je größer der drohende Schaden, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen. Diesem Grundsatz entsprechend enthalten viele Eingriffstatbestände besondere Anforderungen, bspw. in Bezug auf das Ausmaß des drohenden Schadens oder die zeitliche Nähe des Schadenseintritts.73 Dies gilt auch für das VersG Bund. So setzt etwa § 15 Abs. 1 VersG Bund, der das Verbot von Versammlungen und die Erteilung von Auflagen regelt und darüber hinaus auch Anknüpfungspunkt für die sog. Minus-Maßnahmen74 ist, eine „unmittelbare“ Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bzw. Ordnung voraus. Erforderlich ist also eine besondere zeitliche Nähe des Schadenseintritts und damit eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts .75 Vor diesem Hintergrund ist es nicht ausgeschlossen, dass es im Einzelfall einem Polizeibeamten im Einsatz bei einer Demonstration Schwierigkeiten bereiten kann, zu beurteilen, ob eine Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut vorliegt und damit die Eingriffsschwelle überschritten ist. Ein strukturelles Vollzugsdefizit ist in diesem Umstand jedoch nicht zu sehen. Polizeiliche Eingriffsmaßnahmen in einem besonders grundrechtsrelevanten Umfeld, wie bspw. im Rahmen von Demonstrationen, unterliegen vielmehr zwangsläufig besonderen Anforderungen, die es erforderlich machen, dass umfassende Bewertungen sowie Prognose- und Abwägungsentscheidungen getroffen werden. Den Diagnose- und Prognoserisiken, die mit einer solchen Gefahrenbeurteilung verbunden sind, wird jedoch in zweierlei Hinsicht Rechnung getragen: Zum einen wird für die Beurteilung der Gefahrenlage der Zeitpunkt des behördlichen Handelns für maßgeblich erklärt (siehe oben). Zum anderen wird nach dem herrschenden subjektiven Gefahrenbegriff nicht auf einen idealen Beobachter abgestellt, der alle zum Zeitpunkt der Prognose objektiv erkennbaren Tatsachen erfasst, 70 Siehe nur Voßkuhle, Der Gefahrenbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2007, 908 (908), dort zum Folgenden. 71 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 3 Rn. 77. 72 Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, D Rn. 52, m.w.N. 73 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 3 Rn. 78. 74 Siehe hierzu oben unter 3.2.4. 75 Siehe oben unter 3.1.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 274/14 Seite 16 sondern auf den bei normativer Betrachtung sorgfältigen Durchschnittsbeamten.76 Dies hat zur Folge, dass eine Gefahr nicht nur bei Gewissheit über das Vorliegen einer objektiven Gefahr, sondern auch in den Situationen der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts angenommen werden kann.77 Diese beiden Rechtsfiguren wurden als Korrektiv zum ursprünglich herrschenden objektiven Gefahrenbegriff eingeführt, stellen heute jedoch aufgrund der Umstellung auf den subjektiven Gefahrenbegriff keine rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen mehr dar. Von einer Anscheinsgefahr wird gesprochen, wenn sich aus dem konkreten Sachverhalt bei verständiger Würdigung der Umstände unter objektiven Gesichtspunkten eine Gefahr ergibt, diese in Wirklichkeit jedoch nicht besteht.78 In diesen Fällen dürfen nach dem herrschenden subjektiven Gefahrenbegriff eine Gefahr angenommen und – bezogen auf die vorliegende Fragestellung – die entsprechenden (Einzel-)Maßnahmen nach dem Versammlungs- bzw. Polizeirecht ergriffen werden. Erst auf der Sekundärebene, d.h. bei der Prüfung etwaiger Ausgleichsansprüche, ist die tatsächliche Situation maßgeblich.79 Kann die Behörde aufgrund von Unsicherheiten bei der Sachverhaltsermittlung oder der Prognose des Kausalverlaufs (noch) nicht beurteilen, ob eine Gefahr gegeben ist oder nicht, bedeutet dies nicht, dass sie untätig bleiben muss. In einem solchen Fall spricht man von einem Gefahrenverdacht , bei dessen Vorliegen sog. Gefahrerforschungsmaßnahmen ergriffen werden können.80 Hierunter fallen vorläufige Maßnahmen, die nicht unmittelbar der Gefahrenbeseitigung, sondern der weiteren Erforschung des Sachverhalts und der Vorbereitung von endgültigen Abwehrmaßnahmen dienen.81 Bei der Bedrohung besonders wichtiger Rechtsgüter können ausnahmsweise auch endgültige Maßnahmen ergriffen werden.82 76 Vgl. BVerwGE 45, 51 (58); BVerwGE 49, 36 (42 ff.); BGH, NJW 1992, 2639 (2639); Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, D Rn. 46; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 3 Rn. 80 ff. 77 Siehe zur Kritik an den Begriffen der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts die Nachweise bei Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, D Rn. 50. 78 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 3 Rn. 80 ff. 79 Vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 26 Rn. 15 ff. 80 Vgl. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 50; Voßkuhle, Der Gefahrenbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2007, 908 (909); kritisch hingegen Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, § 3 Rn. 86 ff. Siehe zur dogmatischen Einordnung des Gefahrenverdachts den Überblick bei Pils, Zum Wandel des Gefahrenbegriffs im Polizeirecht, DÖV 2008, 941 (947). 81 Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, D Rn. 48. 82 Voßkuhle, Der Gefahrenbegriff im Polizei- und Ordnungsrecht, JuS 2007, 908 (909).