© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 273/20 EuGH-Urteil vom 19. November 2020 – Auswirkungen auf die Anerkennungspraxis des BAMF Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 2 EuGH-Urteil vom 19. November 2020 – Auswirkungen auf die Anerkennungspraxis des BAMF Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 273/20 Abschluss der Arbeit: 4. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 3 1. Fragestellung und Einleitung Gefragt wurde nach den Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 19. November 20201 auf das deutsche Asylrecht in der Frage der Anerkennung von Personen als Flüchtlinge statt als international subsidiär Schutzberechtigte, die sich dem Militärdienst in ihrem Heimatland entzogen haben, in welchem das Militär an Kriegsverbrechen in einem Bürgerkrieg beteiligt ist. Insbesondere wurde nach dem Verhältnis des Urteils des EuGH zu der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) gefragt. Es wurde außerdem nach den Möglichkeiten von Betroffenen gefragt, auf Grund des EuGH-Urteils einen Folgeantrag auf Anerkennung als Flüchtling zu stellen, nachdem bestands- bzw. rechtskräftig anders entschieden wurde. Der Kontext des Urteils des EUGH betrifft die praktisch wohl bedeutendsten asylrechtlichen Status: die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Asylgesetz – AsylG) und den Status des (international) subsidiär Schutzberechtigten (§ 4 AsylG) als Teile des sog. internationalen Schutzes.2 Mit beiden Rechtsstatus geht ein Bündel an Rechten einher, die sich unter anderem im Hinblick auf den Familiennachzug unterscheiden (siehe unten 5.). Die §§ 3 ff. AsylG beruhen auf einer Umsetzung der unionsrechtlichen Richtlinie 2011/95/EU3 (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL).4 Art. 9 ff. QRL regeln den Flüchtlingsstatus, Art. 15 ff. QRL den subsidiären Schutz. Für Schutzsuchende, in deren Herkunftsland Bürgerkrieg herrscht, kommt prinzipiell insbesondere der subsidiäre Schutzstatus nach § 4 AsylG in Frage, welcher das Drohen eines ernsthaften Schadens voraussetzt. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG – wie nach Art. 15 lit. c QRL – eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Es ist dabei kein spezifischer Verfolgungsgrund erforderlich. Es kann aber auch der Status des Flüchtlings nach § 3 AsylG zuzuerkennen sein, wenn der Betroffene begründete Furcht vor Verfolgung wegen einem bestimmten Verfolgungsgrund hat. Die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG setzt das kumulative Vorliegen von fünf Tatbestandsmerkmalen voraus.5 Flüchtling ist jede Person, die sich außerhalb ihres Heimatlandes befindet und der wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 1 Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ). 2 Vgl. Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, in: dieselben (Hrsg.), Asyl- und Flüchtlingsrecht, 1. Auflage 2017, Teil 2 Rn. 31 ff.; siehe weiterhin zum Überblick Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Zu ausgewählten Begriffen aus dem Bereich des Flüchtlingsschutzes, Sachstand vom 26. April 2018, WD 3 - 3000 - 126/18 (https://www.bundestag.de/resource/blob/560954/6cf4e864333617a75b26c64869566765/WD-3-126-18-pdfdata .pdf, zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). 3 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9). 4 Vgl. die Begründung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU, BT-Drs. 17/13063, S. 20. 5 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, in: dieselben (Hrsg.), Asyl- und Flüchtlingsrecht, 1. Auflage 2017, Teil 2 Rn. 113. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 4 oder politischen Anschauungen Verfolgung droht und der gegen die drohende Verfolgung kein effektiver Schutz zur Verfügung steht (vgl. § 3 Abs. 1 AsylG).6 Weiterhin dürfen keine Ausschlussgründe vorliegen (§ 3 Abs. 2 AsylG). Hier interessieren die Tatbestandsmerkmale der Verfolgung (bzw. Verfolgungshandlung), des Verfolgungsgrundes sowie der Verknüpfung zwischen Verfolgung und Verfolgungsgrund. Eine Verfolgung liegt nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG (übereinstimmend mit Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL) unter anderem dann vor, wenn begründete Furcht vor Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt besteht und der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Unter § 3 Abs. 2 AsylG fallen unter anderem Kriegsverbrechen. Zu den Verfolgungsgründen zählen unter anderem politische Überzeugung, Religion und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 2, 4, 5 AsylG, übereinstimmend mit Art. 10 Abs. 1 lit. a, b, e QRL). Das Erfordernis einer Verknüpfung zwischen Verfolgung und Verfolgungsgrund ergibt sich aus § 3 Abs. 3 AsylG (in Übereinstimmung mit Art. 9 Abs. 3 QRL). 2. Verhältnis des Urteils des EuGH zur Rechtsprechung des BVerwG 2.1. EuGH-Urteil vom 19. November 2020 Das Urteil des EuGH vom 19. November 2020 erging im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) des Verwaltungsgerichts (VG) Hannover zur Auslegung von Art. 9 QRL. Kläger im Ausgangsverfahren war ein syrischer Staatsangehöriger („EZ“), der nach Verlassen seines Heimatlandes in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und einen Asylantrag stellte.7 Er gab an, er habe Syrien verlassen, um dort aus Angst, am Bürgerkrieg teilnehmen zu müssen, seinen Militärdienst nicht zu leisten. Am 11. April 2017 gewährte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) subsidiären Schutz nach § 4 AsylG, lehnte seinen Asylantrag (§ 3 AsylG) aber mit der Begründung ab, dass er nicht selbst Verfolgung erlitten habe, die ihn zur Ausreise gedrängt habe.8 Da er nur vor dem Bürgerkrieg geflohen sei, habe er keine Verfolgung zu befürchten, wenn er nach Syrien zurückkehrte. Jedenfalls fehle es an einer Verknüpfung zwischen der Verfolgung, die er befürchte, und den Verfolgungsgründen, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründeten. Gegen diesen Bescheid wandte sich der Kläger mit der Klage vor dem VG Hannover. Er argumentierte, er sei wegen seiner Flucht aus seinem Herkunftsland, um sich der Pflicht zum Militärdienst zu entziehen, und wegen seines in Deutschland gestellten Asylantrags einem Verfolgungsrisiko ausgesetzt. Deshalb sei ihm der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Die Entscheidung zur Vorlage an den EuGH begründete das VG Hannover damit, dass die einschlägige Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte in der Frage nach dem Flüchtlingsstatus von (syrischen) Schutzsuchenden wegen Strafverfolgung oder 6 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti (Fn. 5). 7 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 13. 8 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 5 Bestrafung der Verweigerung des Militärdienstes uneinheitlich sei.9 Manche erkannten die Flüchtlingseigenschaft nach § 4 AsylG zu, andere lehnten dies ab und gewährten subsidiären Schutz nach § 3 AsylG. Wegen des unionsrechtlichen Hintergrundes rief das VG Hannover zur Klärung den EuGH an. Eine Vorlagefrage beantwortete der EuGH dahingehend, dass bei der Militärdienstverweigerung im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 QRL – d. h. vor allem von Kriegsverbrechen – durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet sei, eine Vermutung dafür spreche, dass der verweigerte Militärdienst des Betroffenen unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen würde.10 Im Kontext des allgemeinen syrischen Bürgerkriegs, wie er jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag des Klägers im April 2017 vorgeherrscht habe, erscheine die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet zur unmittelbaren oder mittelbaren Teilnahme an der Begehung solcher (Kriegs-)Verbrechen veranlasst werden würde. Weiterhin entschied der EuGH, dass das Vorliegen einer Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen nach Art. 10 QRL und der Verfolgungshandlung in Form von Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Militärdienstverweigerung i. S. v. Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL notwendig sei.11 Das Vorliegen dieser Verknüpfung könne auch nicht automatisch als gegeben angenommen werden, sondern müsse durch die Behörde im Einzelfall festgestellt werden.12 In vielen Fällen sei die Verweigerung des Militärdienstes gewiss Ausdruck politischer Überzeugungen, religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.13 In diesen Fällen könnten die Verfolgungshandlungen, zu denen diese Verweigerung Anlass geben könne, diesen Gründen zugeordnet werden. Eine automatische Verknüpfung könne aber nicht angenommen werden. Vor allem äußerte sich der EuGH zu den Anforderungen an die Feststellung des Vorliegens der Verknüpfung. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass es Sache der um internationalen Schutz nachsuchenden Person sei, den Beweis für die Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und der Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL zu erbringen.14 Dieser Beweis könne nur besonders schwer erbracht werden. Insoweit sei es im Gegenteil Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragene Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung zu prüfen. Hierbei sei hervorzuheben, dass eine starke Vermutung dafür 9 VG Hannover, Beschluss vom 7. März 2019, Az. 4 A 3526/17, BeckRS 2019, 26491, Rn. 14. 10 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 38. 11 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 44. 12 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 50. 13 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 47. 14 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 55. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 6 spreche, dass eine Verknüpfung zwischen der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL genannten Voraussetzungen und einem der fünf in Art. 10 QRL aufgezählten Verfolgungsgründe vorliege.15 Die Verweigerung des Militärdienstes, insbesondere dann, wenn diese mit schweren Sanktionen bewehrt sei, erlaube die Annahme, dass ein starker Wertekonflikt oder ein Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes vorliege. In einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, bestehe die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt werde. 2.2. Verhältnis zur Rechtsprechung des BVerwG – Urteil des BVerwG vom 4. Juli 2019 Das EuGH-Urteil vom 19. November 2020 zur Auslegung der QRL scheint in mehreren Aspekten von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG zur Auslegung der §§ 3 ff. AsylG abzuweichen.16 Hier sei nur exemplarisch ein Urteil des BVerwG vom 4. Juli 201917 vorgestellt. Dem BVerwG lag ein Fall vor, in dem wiederum ein syrischer Staatsangehöriger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrte, nachdem ihm mit Bescheid bloß internationaler subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG gewährt worden war. Er stützte dies darauf, dass er wegen des Bürgerkriegs seine Einziehung zum Militärdienst befürchte. Problematisch war hier vor allem das gerichtliche Vorgehen bei einem non liquet, d. h. der Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals. Das BVerwG entschied, dass grundsätzlich der Schutzsuchende die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft trage und insoweit ein non liquet zu seinen Lasten gehe.18 Zur Frage der Anforderungen an das Vorliegen einer Verknüpfung zwischen Militärdienstverweigerung und einem der Verfolgungsgründe entschied das BVerwG, auch dies müsse nachgewiesen werden, um die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen zu können. Der Hinweis auf die völlige Willkürlichkeit des Vorgehens und die nicht systematisch erhobene, aber auch nicht auszuschließende Verdächtigung einer oppositionellen Gesinnung oder oppositioneller Kontakte sprächen eher gegen als für eine an die politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung.19 Denn willkürlich angewandte Verfolgungsmaßnahmen müssten nicht auf einem Verfolgungsgrund (hier: in Form einer zugeschriebenen oppositionellen Haltung) beruhen. Allein die Wertung, dass eine Verfolgung „nicht auszuschließen“ sei, rechtfertige nicht die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit . 15 EuGH Rs. C‑238/19, ECLI:EU:C:2020:945 (EZ), Rn. 61 ff. 16 Vgl. Hruschka, Am Schutz orientiert, Verfassungsblog vom 20. November 2020 (https://verfassungsblog.de/amschutz -orientiert/, zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). 17 Az. 1 C 33.18, NVwZ 2020, 161. 18 BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, Az. 1 C 33.18, NVwZ 2020, 161 (165), Rn. 26. 19 BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, Az. 1 C 33.18, NVwZ 2020, 161 (166), Rn. 31. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 7 Weiterhin entschied das BVerwG, es seien im zu entscheidenden Fall keine tatrichterlichen Feststellungen dafür vorgenommen worden, dass der dem Kläger in Syrien drohende Reservedienst unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallende Verbrechen oder Handlungen (d. h. unter anderem Kriegsverbrechen) umfassen würde.20 Wie oben dargestellt, verlangt der EuGH im Falle der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Militärdienstverweigerung i. S. v. Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL dagegen keinen vollen Nachweis des Vorliegens der Verknüpfung zwischen dieser Verfolgungshandlung und einem der Verfolgungsgründe. Der Schutzsuchende hat dies nach dem EuGH nur plausibel zu machen. Dann greife die „starke Vermutung “ zum Vorliegen der Verknüpfung.21 Der EuGH entschied zudem, jedenfalls im Falle des Vorliegens eines qualifizierten „allgemeinen Bürgerkriegs“, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen gekennzeichnet sei, dass eine Vermutung dafür spreche, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet zur unmittelbaren oder mittelbaren Teilnahme an der Begehung solcher (Kriegs-)Verbrechen veranlasst werden würde. In Fällen eines Entzugs vor dem Militärdienst während eines qualifizierten allgemeinen Bürgerkriegs dürften wohl Behörden und Gerichte in non liquet Fällen nicht mehr zu Lasten der Antragsteller von einer fehlenden Verknüpfung zwischen Verfolgung und Verfolgungsgrund ausgehen. Ob jedoch vergleichbare Sachverhaltskonstellationen vorliegen, ist im jeweiligen Fall zu prüfen. 3. Folgeantrag im Asylrecht Nach § 71 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) kann ein erneuter Asylantrag (Folgeantrag) gestellt werden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Im Allgemeinen führt eine Änderung der Rechtsprechung eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei.22 Dies gilt auch für die nachträgliche Klärung einer gemeinschaftsrechtlichen Frage durch den EuGH. Eine Änderung der Rechtslage erfordert Änderungen im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt.23 Im Asylrecht wird dagegen auch vertreten, dass, soweit eine mit Bindungswirkung des § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ausgestattete relevante Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ergangen und dadurch eine relevante Änderung der Rechtslage eingetreten ist, 20 BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, Az. 1 C 33.18, NVwZ 2020, 161 (166), Rn. 32. 21 Vgl. Hruschka (Fn. 16). 22 Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, § 51 Rn. 105 f. 23 BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009, 1 C 26/08, Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 8 ausnahmsweise auch eine Rechtsprechungsänderung als maßgebliche Änderung der Rechtslage anzusehen ist, wenn wesentliche Grundsätze des Asylrechts betroffen sind.24 Das BVerfG hat dazu ausgeführt, dass das Verwaltungsgericht eine Klage gegen die Ablehnung eines Folgeantrags nicht wegen offensichtlicher Unbegründetheit abweisen dürfe, da die Ausländerbehörde den durch die Änderung der Rechtsprechung hervorgerufenen Wandel des Bedeutungsinhalts des Asylrechts sowie dessen gleichzeitige Präzisierung berücksichtigen müsse. Diesen Wandel des Bedeutungsinhalts des Asylrechts könne jedenfalls die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewirken.25 Zum Teil wird auch vertreten, dass die Rechtsprechung des EuGH ebenso zu berücksichtigen ist, wenn besondere Umstände eine nationale Verwaltungsbehörde nach dem in Art. 4 Vertrag über die Europäische Union (EUV) verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichten können, eine infolge der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um einer später vom EuGH vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen.26 Der EuGH hat dazu festgestellt, dass die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird, im Sinne von Art. 33 Abs. 2 lit. d der Richtlinie 2013/3227 eine neue Erkenntnis im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz darstellt.28 Weiter hat der EuGH ausgeführt, dass im Übrigen die praktische Wirksamkeit des Rechts der Person, die internationalen Schutz beantragt, schwer beeinträchtigt sein würde, wenn ein Folgeantrag aus dem in Art. 33 Abs. 2 lit. d der Richtlinie 2013/32 genannten Grund für unzulässig erklärt werden könnte, obwohl der frühere Antrag unter Verstoß gegen das Unionsrecht zurückgewiesen worden ist.29 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH dürfte demnach im Asylrecht auch eine geänderte Rechtsprechung des EuGH als Änderung der Rechtslage anzusehen sein, wenn dadurch ein 24 Dickten in: Kluth/Heusch (Hrsg.) BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition, Stand: 1. Oktober 2020, § 71, AsylG, Rn. 19; Bergmann in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.) Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 70 AsylG, Rn. 25; Müller in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71 AsylG, Rn. 30. 25 BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1990, 2 BvR 643/90, Rn. 17 f. 26 Müller (Fn. 24), Rn. 30. 27 Art. 33 Abs. 2 lit. D der Richtlinie 2013/32 lautet: Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn […] es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse […] vorgebracht worden sind. 28 EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020, C-924/19 PPU, Rn. 194. 29 EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020, C-924/19 PPU, Rn. 196. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 9 Wandel des Bedeutungsinhalts des Asylrechts sowie dessen gleichzeitige Präzisierung hervorgerufen wird. Für die Zulässigkeit eines Folgeantrags im Hinblick auf das hier besprochene Urteil des EuGH vom 19. November 2020 dürfte es daher darauf ankommen, ob die jeweilige Ablehnung des Flüchtlingsstatus unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH nunmehr als unionsrechtswidrig angesehen werden muss. Dies dürfte sich nicht pauschal für alle Fälle beantworten lassen, da immer die konkrete Tatsachengrundlage zum Zeitpunkt der Entscheidung berücksichtigt werden muss. Bei Zulässigkeit des Folgeantrags aufgrund geänderter Rechtslage wird ein weiteres Asylverfahren durchgeführt, in dem geprüft wird, ob die neue Sach- und Rechtslage tatsächlich zu einer anderen Einschätzung der Gefährdung führt.30 Die Zulässigkeit des Folgeantrags aufgrund geänderter Rechtslage führt daher nicht automatisch zu einer Anerkennung als Flüchtling, sondern zu einer erneuten Prüfung, bei der die dann aktuelle Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen ist. 4. Auswirkungen auf die Anerkennungspraxis des BAMF Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sind Behörden verpflichtet, sich an Gesetz und Recht zu halten (Art. 20 Abs. 3 GG). Urteile des EuGH, die in Vorabentscheidungsverfahren ergehen (Art. 267 AEUV), binden zunächst nur die in derselben Sache im Ausgangsstreitverfahren entscheidenden Gerichte inter partes, d. h. das vorlegende Gericht und die Instanzgerichte.31 Entscheidet der EuGH über die Auslegung von Unionsrecht, sind letztinstanzliche Gerichte auf Grund des Unionsrechts gehalten, die Auslegung des EuGH anzuwenden oder bei Zweifeln dem Gerichtshof erneut vorzulegen. Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen bezieht sich auch auf die Anwendung des Unionsrechts durch die Verwaltungsorgane.32 Im Asylverfahren sind neben der Auslegung gesetzlicher Normen aber auch die im Einzelfall vorliegenden Tatsachen zu berücksichtigen. Es kann daher nicht abgeschätzt werden, in wie weit das Urteil Auswirkungen auf die Anerkennungspraxis des BAMF haben wird, da die zum Zeitpunkt der Entscheidung jeweils vorliegende Tatsachengrundlage nicht vorhergesagt werden kann.33 5. Auswirkungen auf Familiennachzug Das Urteil des EuGH (C-238/19) betrifft den Familiennachzug nicht direkt. Soweit sich daraus Folgen für die Anerkennungspraxis und den Status der betreffenden Personen ergeben können, könnte dies indirekt auch Auswirkungen auf den Familiennachzug haben. 30 Müller (Fn. 24), Rn. 48. 31 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, AEUV Art. 267 Rn. 49 m.w.N. 32 Ehricke in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, AEUV Art. 267 Rn. 72 f. 33 Vgl. dazu Hruschka (Fn. 16); Feneberg, Schutz bei Wehrdienstentzug für syrische Geflüchtete, Verfassungsblog vom 2. Dezember 2020, (https://verfassungsblog.de/schutz-bei-wehrdienstentzug-fur-syrische-gefluchtete/, zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 273/20 Seite 10 Familienangehörige subsidiär Schutzberechtigter haben gemäß § 36a Abs. 1 S. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) keinen Anspruch auf Familiennachzug; die Entscheidung steht viel mehr im Ermessen der zuständigen Behörden. § 36a AufenthG beschränkt den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (als sog. Stammberechtigte ) auf Ehegatten, minderjährige ledige Kinder und Eltern von minderjährigen Schutzberechtigten, die ohne personensorgeberechtigten Elternteil in Deutschland leben; Geschwister werden von der Vorschrift nicht erfasst. Der Nachzug von sonstigen Familienangehörigen, also auch von Geschwistern , kann aber in Ausnahmefällen bei Vorliegen einer besonderen Härte nach § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG in Betracht kommen. Eine wesentliche Voraussetzung für den Familiennachzug nach § 36a AufenthG ist das Vorliegen humanitärer Gründe, wobei monatlich bis zu 1000 nationale Visa erteilt werden können.34 Dagegen haben Menschen, denen die Asylberechtigung beziehungsweise die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, das Recht auf privilegierten Familiennachzug: Dieser umfasst den Ehegattinnen-, Ehegatten- sowie Kindernachzug.35 Grundsätzlich besteht daher ein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG erteilt und verlängert wird.36 Die jeweiligen Voraussetzungen und Versagungsgründe sind in den §§ 27 ff. Aufenth G geregelt. 6. Abgeschlossene und laufende Asylverfahren Das Urteil des EuGH könnte dann auf abgeschlossene und laufende Asylverfahren Auswirkungen haben, wenn die zu Grunde liegenden Tatsachen und die maßgeblichen Gründe für die Ablehnung des Flüchtlingsstatus im Asylverfahren nunmehr anders zu beurteilen wären. Ob dies der Fall ist, kann anhand der reinen Zahlen zu Asylverfahren und subsidiär Schutzberechtigten nicht ermittelt werden, da – soweit ersichtlich – bislang keine Daten vorliegen, aus denen eine derartige Differenzierung nach den Gründen für die Ablehnung hervorgeht. *** 34 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, Sachstand vom 17. Juni 2020, WD 3 - 3000 - 137/20, (https://www.bundestag.de/resource /blob/708990/884d4fca67dc7d1a13301eba71955ec3/WD-3-137-20-pdf-data.pdf, zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). 35 BAMF, Familienasyl und Familiennachzug, (https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/Familienasyl Familiennachzug/familienasylfamiliennachzug-node.html, zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). 36 Tewocht in: Kluth/Heusch (Hrsg.) BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition Stand: 1. Juli 2020, § 27 AufenthG, Vorbemerkung .