© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 272/19 Zur Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz Gegenüberstellung verschiedener Formulierungsvorschläge zur Verankerung von Kinderrechten in Art. 6 GG Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Juni 2019 wurden zwei Gesetzentwürfe zur Verankerung von Kinderrechten in das Grundgesetz im Deutschen Bundestag beraten: der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Ergänzung des Artikels 6 zur Stärkung der Kinderrechte ) von den Abgeordneten Katja Dörner, Katja Keul, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN2 sowie der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Verankerung von Kinderrechten) von den Abgeordneten Nobert Müller (Potsdam ), Alexander Müller, Dr. Petra Sitte, Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.3 Die Gesetzentwürfe wurden an verschiedene Bundestagsausschüsse überwiesen,4 federführend ist der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat ebenfalls einen Gesetzentwurf erarbeitet und Ende November 2019 zur Ressortabstimmung an die Bundesregierung übersandt. Über den konkreten Formulierungsvorschlag wurde in der Presse berichtet.5 Es wird darum gebeten, die nachfolgenden Formulierungsvorschläge im Hinblick auf die Stellung von Kindern als Rechtssubjekt sowie auf die sich ergebenden Rechtsfolgen zu vergleichen und Unterschiede herauszustellen: 1.1. Formulierungsvorschlag 1 (BMJV) Aufnahme eines Absatzes 1a in den Art. 6 GG: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen , die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“ 1 Für einen Überblick über vorangegangene Gesetzgebungsinitiativen und andere parlamentarische Vorgänge der 17. und 18. Wahlperiode sowie über ausgewählte Veröffentlichungen der letzten Jahre siehe die Dokumentationen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages WD 3 - 3000 - 226/17, Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz , vom 30. November 2017 und WD 3 - 3000 - 242/17, Kinderrechte im Grundgesetz – Zur Grundrechtsträgerschaft von Kindern, vom 7. Dezember 2017 sowie Wapler, in: Sachverständigenkommission 15. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Materialien zum 15. Kinder- und Jugendbericht – „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“, 2017, Kinderrechte im Grundgesetz, 13 ff., abrufbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/15_KJB_Wapler_b.pdf (letzter Abruf 16. Dezember 2019). 2 BT-Drs. 19/10552. 3 BT-Drs. 19/10622. 4 BT-Plenarprotokoll 19/194 vom 6. Juni 2019, 12660 (D). 5 Vgl. den Artikel in der Süddeutschen Zeitung, Kinderrechte sollen ins Grundgesetz, vom 26. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/kinderrechte-grundgesetz-gesetzentwurf-1.4697042 (letzter Abruf 16. Dezember 2019). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 4 1.2. Formulierungsvorschlag 2 (BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN) Änderungen des Art. 6 GG: „1. Absatz 1 wird wie folgt gefasst: „(1) Kinder, Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ 2. In Absatz 2 werden nach dem Wort „Kinder“ die Wörter „unter Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Selbständigkeit“ eingefügt. Vollständig soll er lauten: „(2) Pflege und Erziehung der Kinder unter Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Selbständigkeit sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ 3. Nach Absatz 4 wird folgender Absatz 4a eingefügt: „(4a) Jedes Kind hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung. Bei allen Angelegenheiten, die das Kind betreffen, ist es entsprechend Alter und Reife zu beteiligen; Wille und zuvörderst Wohl des Kindes sind maßgeblich zu berücksichtigen.“ 4. In Absatz 5 wird das Wort „unehelichen“ durch das Wort „nichtehelichen“ ersetzt.“ 1.3. Formulierungsvorschlag 3 (DIE LINKE.) Einfügen eines neuen Absatzes 2 in Art. 6 GG (die bisherigen Absätze 2 bis 5 würden zu den Absätzen 3 bis 6): „Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung einschließlich des Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Ihr Wohl ist bei allem staatlichen Handeln, das sie betrifft, zu berücksichtigen. Die staatliche Gemeinschaft trägt Sorge für altersgerechte Lebensbedingungen, beteiligt Kinder und Jugendliche bei allen staatlichen Entscheidungen, die sie betreffen und berücksichtigt ihre Ansichten angemessen.“ 2. Vergleichende Gegenüberstellung – Gemeinsamkeiten und Unterschiede 2.1. Unterschiede im Hinblick auf die Struktur und Positionierung in Art. 6 GG Auf den ersten Blick ähneln sich die Formulierungsvorschläge 1 und 3. Beide sehen einen eigenständigen neuen Absatz in Art. 6 GG vor, der nach Art. 6 Abs. 1 GG und damit vor das Elternrecht in Abs. 2 eingefügt werden soll. Beide Vorschläge enthalten drei Sätze, die jeweils dieselben Regelungsbereiche betreffen: In Satz 1 wird neben den Rechten auf Achtung, Schutz und Förderung insbesondere auch das Entwicklungsrecht des Kindes genannt. Satz 2 enthält eine Regelung zur Kindeswohlverpflichtung. Satz 3 betrifft den Regelungsbereich der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Kindes. Zum Teil gleicht sich der Wortlaut, zum Teil sind aber auch deutliche Abweichungen festzustellen, wie noch näher aufzuzeigen ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 5 Der Formulierungsvorschlag 2 weicht dagegen schon auf den ersten Blick stark von den anderen beiden Vorschlägen ab. Es sieht Änderungen in mehreren Absätzen des Art. 6 GG vor: In Art. 6 Abs. 1 GG sollen Kinder an erster Stelle ergänzt werden, vor Ehe und Familie. In Art. 6 Abs. 2 GG sind Ergänzungen vorgesehen, die die Rechtssubjektivität der Kinder betonen. Ein neuer Absatz 4a enthält Regelungen zum Entwicklungsrecht und den Mitsprache- und Beteiligungsrechten des Kindes. Eine weitere, allerdings nur begriffliche Änderung ist für Art. 6 Abs. 5 GG vorgesehen, dort soll der Begriff „unehelich“ durch den Begriff „nichtehelich“ ersetzt werden. 2.2. Unterschiede im Hinblick auf die Formulierung der verschiedenen Rechte 2.2.1. Recht auf Achtung, Schutz und Förderung Alle Formulierungsvorschläge enthalten Regelungen, die diese Rechte betreffen. Die Formulierungsvorschläge 1 und 3 sehen jeweils in Satz 1 vor, dass jedes Kind das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung habe. Im Unterschied zum Formulierungsvorschlag 3 bezieht der Formulierungsvorschlag 1 das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung auf die Grundrechte der Kinder. Beide Vorschläge enthalten eine Regelung zum Recht des Kindes auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit. Auch diesbezüglich weicht der Formulierungsvorschlag 1 vom Formulierungsvorschlag 3 ab, indem er die Ergänzung „in der sozialen Gemeinschaft“ als Bezugnahme vorsieht. Formulierungsvorschlag 2 betont das Recht auf Schutz, indem er Kinder in der Aufzählung von Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG ergänzt; dieser würde dann lauten: „Kinder, Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Anders als bei den beiden anderen Formulierungsvorschlägen wird das Recht auf Achtung nicht als subjektives Recht des Kindes formuliert. Stattdessen soll das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG um einen Hinweis auf die Achtung der Persönlichkeit ergänzt werden. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG würde dann lauten: „Pflege und Erziehung der Kinder unter Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer wachsenden Selbständigkeit sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Ein Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung sieht Formulierungsvorschlag 2 in einem neuen Abs. 4a vor. 2.2.2. Recht auf Beteiligung Alle Formulierungsvorschläge enthalten Regelungen zu Beteiligungsrechten des Kindes, weichen im Einzelnen aber stark voneinander ab. Formulierungsvorschlag 1 beschränkt sich auf die Regelung eines Anspruchs auf rechtliches Gehör bei staatlichen Entscheidungen, die Kinderrechte unmittelbar betreffen. Formulierungsvorschlag 3 sieht dagegen ein Beteiligungsrecht bei allen staatlichen Entscheidungen, die Kinder und Jugendliche betreffen, vor. Ausdrücklich wird geregelt, dass die staatliche Gemeinschaft die Ansichten von Kindern und Jugendlichen bei diesen Entscheidungen angemessen zu berücksichtigen habe. Das Recht auf Beteiligung im Formulierungsvorschlag 2 ist offen formuliert und bezieht sich auf alle Angelegenheiten, die das Kind betreffen. Die Formulierung sieht als einzige eine explizite Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 6 altersspezifische Präzisierung vor, indem die Beteiligung entsprechend Alter und Reife zu erfolgen hat. Ähnlich der Regelung in Formulierungsvorschlag 3 wird ausdrücklich aufgenommen, dass im Rahmen der Beteiligung Wille und zuvörderst Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen sind. 2.2.3. Orientierung am Kindeswohl Alle Formulierungsvorschläge enthalten Regelungen zur Orientierung am Kindeswohl. Im Detail weichen sie aber stark voneinander ab: Formulierungsvorschlag 1 sieht eine Verpflichtung vor, wonach das Wohl des Kindes bei allem staatlichen Handeln, das das Kind unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen ist. Formulierungsvorschlag 3 sieht keine solchen näheren Bestimmungen in Bezug auf die Betroffenheit der Rechte bzw. in Bezug auf die Anforderungen an die Art der Berücksichtigung vor: Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das sie betrifft, zu berücksichtigen. Darüber hinausgehend enthält der Formulierungsvorschlag 3 auch noch einen Auftrag an die staatliche Gemeinschaft, für altersgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen. Formulierungsvorschlag 2 formuliert die Orientierung am Kindeswohl offener, indem textlich kein direkter Bezug auf staatliches Handeln, das sie betrifft, vorgenommen wird. Vorgesehen ist eine Regelung im Zusammenhang mit der Regelung der Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten im neuen Abs. 4a. Wille und zuvörderst Wohl des Kindes sollen maßgeblich zu berücksichtigen sein. 2.2.4. Weitere Besonderheiten Formulierungsvorschlag 3 führt anders als die anderen Formulierungsvorschläge als Rechtinhaber nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche auf. 3. Vergleichende Gegenüberstellung – Stellung des Kindes als Rechtssubjekt Alle drei Formulierungsvorschläge sehen kindzentrierte Formulierungen vor, die das Kind subjektiv berechtigten („hat das Recht auf“). Die Formulierungsvorschläge 1 und 3 sehen dies im Hinblick auf das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung (ihrer Grundrechte), einschließlich des Rechts auf Entwicklung vor. Formulierungsvorschlag 1 sieht zudem einen „Anspruch“ des Kindes auf rechtliches Gehör vor. Nach Formulierungsvorschlag 2 hat jedes Kind das Recht auf Förderung seiner Entwicklung. Die Stellung des Kindes als Rechtssubjekt im Grundgesetz wird damit grundsätzlich von allen Formulierungsvorschlägen hervorgehoben. Nicht alle Regelungsbereiche sind kindzentriert formuliert. Zum Teil werden auch kindbezogene Formulierungen verwendet, die den Staat objektiv verpflichten und Kinder als Bezugspunkt dieser Verpflichtungen nehmen. Kindbezogene Formulierungen sehen die drei Formulierungsvorschläge insbesondere im Hinblick auf die Regelungen zum Kindeswohl vor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 7 Die Formulierungsvorschläge 1 und 3 setzen eine Empfehlung aus der Literatur um. Hofmann/ Donath haben in ihrem Gutachten für das Deutsche Kinderhilfswerk e.V. aus dem Jahr 2017 vorgeschlagen , für das Kindergrundrecht auf die im internationalen Menschenrechtsregime verbreitete Formulierung des „Achtens, Schützens und Förderns“ zurückzugreifen.6 Die im Jahr 2017 gegründete Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ hat sich mit dem Wortlaut des Formulierungsvorschlags 1 intensiv auseinandergesetzt und war sich einig, dass die Formulierung ganz überwiegend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtssubjektivität des Kindes entspreche.7 Allgemein ist darauf hinzuweisen, dass im geltenden deutschen Verfassungsrecht die Rechte der Kinder deutlich weiter und komplexer ausgestaltet sind, als dies nach dem Wortlaut des Grundgesetzes zunächst erscheinen mag. Grundrechtsfähig sind alle natürlichen Personen unabhängig von ihrem Alter und ihren Fähigkeiten.8 Kinder und Jugendliche werden damit durch die Grundrechte geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 1968 klargestellt, dass auch Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sind.9 Im Jahre 2008 schließlich stellte das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Grundsatzentscheidung fest, dass gemäß Art. 6 Abs. 2 GG ein Kind nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, sondern Rechtssubjekt und Grundrechtsträger ist. Die Eltern sind gegenüber dem Kind verpflichtet, ihr Handeln an seinem Wohl auszurichten.10 Das Wohl von Kindern wird darüber hinaus durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. So schützt dieses etwa die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern11 und das Recht des Kindes auf Entwicklung zur Persönlichkeit12. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet zudem den Jugendschutz13 6 Hofmann/Donath, Gutachten bezüglich der ausdrücklichen Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz nach Maßgabe der Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, 2017, 13 f., abrufbar unter: https://kinderrechte -ins-grundgesetz.de/wp-content/uploads/2018/02/DKHW_Gutachten_KRiGG_Hofmann_Donath.pdf (letzter Abruf: 16. Dezember 2019). 7 Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ vom 14. Oktober 2019, 40, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/PM/102519_Abschlussbericht_Kinderrechte .pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf 16. Dezember 2019). 8 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 8. Auflage 2018, Vorbemerkungen zu Abschnitt I, Rn. 70. 9 BVerfGE 24, 119 (144); siehe hierzu auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages , WD 3 - 3000 - 294/14, Kinderrechte im Grundgesetz – Zum Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte, vom 29. Januar 2015, 10 f. 10 BVerfGE 121, 69 (93). 11 BVerfGE 119, 1 (24). 12 BVerfG, Beschluss vom 31. 3. 2000 - 1 BvR 1353/99, NJW 2000, 2191. 13 BVerfGE 83, 130 (140). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 8 und verlangt die Berücksichtigung des Kindeswohls bei Entscheidungen darüber, in welcher Familie ein Kind aufwachsen soll.14 Zudem ist in diesem Zusammenhang auf das Unionsrecht hinzuweisen. Art. 24 und Art. 32 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) sehen spezielle Kinderrechte vor. Die in der Charta geregelten Kinderrechte gelten für die Mitgliedstaaten, sofern eine Anwendbarkeit der Charta gegeben ist (Art. 51 Charta). Dies ist der Fall, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen, also insbesondere bei der Anwendung unionsrechtlicher bzw. unionsrechtlich determinierter Normen oder im Geltungsbereich der unionsrechtlichen Grundfreiheiten.15 4. Vergleichende Gegenüberstellung – Folgenbewertung Wie sich die vorgeschlagenen Änderungen des Art. 6 GG im Einzelnen auf die Rechtsstellung der Kinder auswirken würden, kann nicht abschließend vorausgesagt werden. Insofern beschränken sich die folgenden Ausführungen zum einen auf eine Gegenüberstellung der jeweils verfolgten gesetzgeberischen Ziele. Zum anderen werden einige grundsätzliche Argumente aus der Literatur zur Folgenbewertung bei der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz dargestellt. 4.1. Ziele der Gesetzesänderung 4.1.1. Formulierungsvorschlag 1 Zum ersten Formulierungsvorschlag kann (noch) nicht auf eine Gesetzesbegründung zugegriffen werden. Presseberichten zufolge soll der vorgeschlagene neue Absatz in Art. 6 GG „‘die Grundrechte von Kindern im Text des Grundgesetzes besser sichtbar machen‘ und ‚verdeutlichen, welch hohe Bedeutung Kindern und ihren Rechten in unserer Gesellschaft zukommt‘. Elternrecht und Elternverantwortung würden nicht beschränkt, sondern ‚inhaltlich unverändert‘ garantiert. Das Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat solle ‚bewusst nicht angetastet werden‘.“16 Dies deckt sich mit den Prämissen, die sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Kinderrechte ins Grundgesetz“ gesetzt hat: Unstreitige Prämisse der Arbeitsgruppe war, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts austarierte Verhältnis zwischen Kinderrechten und Elternrechten nicht zu ändern.17 14 BVerfGE 75, 201 (218). 15 Vgl. dazu auch Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (Fn. 7), 16; Wapler (Fn. 1), 21. 16 Vgl. Artikel in der Süddeutschen Zeitung (Fn. 5). 17 Vgl. Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (Fn. 7), 25. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 9 4.1.2. Formulierungsvorschlag 2 Dem zweiten Formulierungsvorschlag liegt laut der Gesetzesbegründung das Ziel zu Grunde, die Stellung der Kinder und Jugendlichen durch eine verfassungsadäquate Ergänzung des Grundgesetzes weiter zu verbessern. Der Staat solle stärker in die Pflicht genommen werden, „die einfachgesetzlichen und administrativen Instrumente zu effektivem Schutz der Rechtssphäre und der Förderung von Kindern weiter zu verbessern und bestehenden Defiziten wie der Kinderarmut oder der Chancenungleichheit im Bildungswesen wirksam abzuhelfen.“18 Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) fände insbesondere mit seinen zentralen Art. 3, 4 und 12 zum Kindeswohl als vorrangig zu berücksichtigendem Gesichtspunkt, zur Umsetzung der Kinderrechte und zur Berücksichtigung der Meinung des Kindes noch immer zu wenig praktische Beachtung und Anwendung. Art. 6 GG solle fortentwickelt und modernisiert werden. Durch die Ergänzung des Wortes „Kinder“ in Absatz 1 soll die Gewährleistung des besonderen Schutzes der staatlichen Ordnung für die Kinder ausdrücklich hervorgehoben werden. Die Gewährleistung umfasse nicht allein die Gefahrenabwehr , sondern eine positive Handlungspflicht des Staates. Mit der Ergänzung des Absatzes 2 Satz 1 des Art. 6 GG, wonach bei der elterlichen Pflege und Erziehung die Persönlichkeit und die wachsende Selbständigkeit der Kinder zu achten ist, soll dem allmählichen Hineinwachsen des Kindes in die Selbstbestimmungs- und Selbstverantwortungsfähigkeit und der sich entwicklungsbedingt verändernden Elternverantwortung Rechnung getragen und die Ergänzung in den Schutz des staatlichen Wächteramtes (Satz 2 des Art. 6 Abs. 2 GG ) einbezogen werden. Das den Eltern zustehende Recht auf Pflege und Erziehung des Kindes trete mit zunehmendem Alter und zunehmender Reife des Kindes in den Hintergrund. Das Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung (Satz 1 des neuen Absatzes 4a in Art. 6 GG) soll weit zu verstehen sein und z. B. auch das Recht auf Bildung umfassen. Die Ergänzung des Art. 6 um ein Beteiligungs- und Mitspracherecht des Kindes (so ausdrücklich Satz 2, 1. Halbsatz des neuen Absatzes 4a in Art. 6 GG) soll in der Sache die Vorgabe des Art. 12 UN-KRK umsetzen. Der Wille und zuvörderst das Wohl des Kindes seien (dabei) maßgeblich zu berücksichtigen (so ausdrücklich Satz 2, 2. Halbsatz des neuen Absatzes 4a in Art. 6 GG). Die ausdrückliche Nennung des Kindeswillens, des zuvörderst relevanten Kindeswohls und die Vorgabe der maßgeblichen Berücksichtigung sei ebenfalls eine Umsetzung der Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 UN-KRK. Die wachsende Selbstbestimmungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen sei insbesondere für die Ausübung ihrer Grundrechte von Bedeutung. Das Elternrecht trete insoweit zurück.19 4.1.3. Formulierungsvorschlag 3 In der Gesetzesbegründung für den Formulierungsvorschlag 3 heißt es, dass mit der Einführung einer expliziten Formulierung von Kinderrechten im Grundgesetz den Verpflichtungen im Rahmen der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention nachgekommen werden soll. Diesbezüglich werden Defizite festgestellt. Mit der vorrangigen Berücksichtigung des Wohls des Kindes solle „für Normanwender*innen auf allen staatlichen Ebenen in Rechtsprechung und Verwaltung, aber auch der Gesetzgebung eine verlässliche Leitlinie für die alltägliche Entscheidungsfindung geschaffen 18 BT-Drs. 19/10552, 4. 19 BT-Drs. 19/10552, 4 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 10 werden. Den Interessen und Belangen von Kindern wird, mittels eines eigenen Beteiligungsanspruchs im Grundgesetz, eine höhere Priorität zugesprochen.“20 Mit der Einführung des neuen Abs. 2 in den Art. 6 GG sollen die Rechte der Kinder und Jugendlichen verdeutlicht werden, ohne das Elternrecht zu beschneiden.21 4.2. Zur Kritik an der Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz Die Frage, ob Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollten, wurde und wird intensiv diskutiert.22 In der Diskussion werden verschiedene Argumente angeführt, die auch für die Folgenbewertung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Formulierungsvorschläge von Relevanz sind. 4.2.1. Systematischer Bruch durch Einführung eines Sondergrundrechts Es wird vielfach kritisiert, dass die Einführung von Kinderrechten einen systematischen Bruch bedeuten würde. Der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes sei einheitlich für alle Menschen gleich; bislang seien keine Sonderfreiheitsrechte für bestimmte Personengruppen vorgesehen. Eine besondere Berücksichtigung würde Tür und Tor für weitere öffnen. Neben der Gruppe der Kinder seien auch weitere besonders schutzbedürftige Individuen für einen spezifischen Schutz in Betracht zu ziehen.23 Das Bekenntnis zur Gleichwertigkeit jedes menschlichen Individuums solle nicht aufgegeben werden.24 4.2.2. Auswirkungen auf die Interpretation der Grundrechte Wie bereits oben ausgeführt, sind Kinder nicht nur allgemein grundrechtsfähig, Wesen mit eigener Menschenwürde und Rechtssubjekte. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr klargestellt, dass Kinder Träger von eigenen auf sie zugeschnitten Grundrechten sind. Dies gilt namentlich für das Recht des Kindes auf Entwicklung seiner Persönlichkeit, den Jugendschutz und die Berücksichtigung des Kindeswohls bei Entscheidungen über sein familiäres Umfeld.25 Die Einführung spezieller Kindergrundrechte könnte Fragen zu dem Verhältnis dieser Rechte zu den sonstigen allgemeinen Grundrechten der Kinder aufwerfen. Dazu wird in der Literatur vertreten, 20 BT-Drs. 19/10622, 4. 21 BT-Drs. 19/10622, 5. 22 Zusammenstellungen ausgewählter Veröffentlichungen der letzten Jahre liefern die Dokumentationen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, WD 3 - 3000 - 226/17, Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz, vom 30. November 2017 und WD 3 - 3000 - 242/17, Kinderrechte im Grundgesetz – Zur Grundrechtsträgerschaft von Kindern, vom 7. Dezember 2017. 23 Siehe Becker, in: Uhle (Hrsg.), Kinder im Recht, 2019, Kinderrechte in die Verfassung? 280 f. 24 Wapler (Fn. 1), 29. 25 Siehe dazu oben unter 3. und WD 3 - 3000 - 294/14 (Fn. 9), 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 11 dass bestehende Grundrechte der Kinder, z.B. die aus der Menschenwürde entwickelten grundrechtlichen Gewährleistungen, geschwächt werden könnten und der Grundrechtsschutz der Kinder gespalten würde.26 4.2.3. Auswirkungen auf das Verhältnis Kind-Eltern-Staat Das sogenannte Elterngrundrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG schützt die Beziehung zwischen Eltern und Kind vor staatlichen Eingriffen.27 Dem Staat kommt in dieser Beziehung nur ein „Wächteramt“ zu (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG). Dieses „Wächteramt“ erlaubt allerdings die logisch vorgelagerte staatliche Beobachtung der Pflege und Erziehung durch die Eltern.28 Zwar heißt es in den Gesetzesbegründungen zu den Formulierungsvorschlägen 1 und 3, dass die Rechte der Eltern nach Art. 6 GG „nicht angetastet“29 bzw. „nicht beschnitten“30 würden. Es ist aber offen, ob die Hervorhebung der Kinderechte (durch explizite Nennung der Rechte auf Achtung , Schutz und Förderung, einschließlich des Rechts auf Entwicklung) nicht eine veränderte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach sich ziehen könnte, in der sich die Hervorhebung auch gegenüber dem Elterngrundrecht niederschlägt. Die Positionierung eines neuen Absatzes mit Kindergrundrechten vor dem Absatz mit dem Elterngrundrecht wird insofern unterschiedlich beurteilt: Die Bund-Länder-AG argumentiert in ihrem Abschlussbericht, dass wenn die Kindergrundrechte vor dem Elterngrundrecht stünden, sie die Ziele von Elternverantwortung und Wächteramt prägen würden. "Insbesondere würden die an den Staat gerichteten Vorgaben des neuen Regelungstexts in diesem Fall für das Wächteramt nur relevant, soweit nicht Artikel 6 Absatz 2 GG die Verantwortung den Eltern zuweist, und sie würden im Übrigen nur für staatliches Handeln außerhalb des familiären Kontextes – etwa im Schulbereich – gelten.“31 Die Zuständigkeitsverteilung von Eltern und Staat im geltenden Art. 6 Abs. 2 GG würde sich nicht verschieben. Andere Stimmen in der Literatur gehen dagegen davon aus, dass die Verortung vor dem Elterngrundrecht „eindeutig für eine Relativierung und Abschwächung der Elternverantwortung zugunsten der staatlichen Kindeswohlverantwortung“ spreche.32 Es wird bemängelt, dass dem Formulierungsvorschlag 26 Vgl. hierzu Kirchhof, Kinderrechte in der Verfassung – zur Diskussion einer Grundgesetzänderung, ZRP 2007, 149 (150); Wapler (Fn. 1), 29; Becker (Fn. 23), 280 f.; anderer Ansicht aber Höfling, Zur Stärkung von Kinderrechten im Grundgesetz, ZKJ 2017, 354 f. 27 von Coelln, in: Sachs (Fn. 8), Art. 6 Rn. 53. 28 von Coelln, in: Sachs (Fn. 8), Art. 6 Rn. 76. 29 Vgl. Artikel in der Süddeutschen Zeitung (Fn. 5). 30 BT-Drs. 19/10622, 5. 31 Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe (Fn. 7), 116. 32 Jestaedt, Schriftliche Stellungnahme zu den Gesetzentwürfen zur Verankerung von Kindesrechten im Grundgesetz, BT-Drs. 17/10118, BT-Drs. 17/11650 und BT-Drs. 17/13223 – Anlässlich der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 26. Juni 2013, 6, abrufbar unter: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?file ToLoad=2930&id=1223 im Archiv der öffentlichen Anhörungen, Rechtsausschuss - Mittwoch, 26. Juni 2013, 14.00 Uhr - Kinderrechte (letzter Abruf 16. Dezember 2019). Zur Kritik an einer Herabsetzung der Eingriffsschwelle für Interventionen in die Familie gegen den Willen der Eltern siehe auch Wapler (Fn. 1), 25 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 272/19 Seite 12 1 (dies dürfte in gleicher Weise für den Formulierungsvorschlag 3 gelten) eine Sicherungsklausel fehle, die ausdrücklich bestimme, dass die geplante Grundrechtsergänzung das Elternrecht unberührt lasse und vor einem „Verfassungstrojaner“ gewarnt.33 4.2.4. Verhältnis zu geltendem internationalen Recht Ein weiterer Aspekt sind mögliche Spannungsverhältnisse zu geltendem internationalen Recht (UN-KRK und Art. 24 Charta), sollten die Formulierungen der Kinderrechte voneinander abweichen . Gerade im Hinblick auf den Formulierungsvorschlag 1 zeigt sich, dass dieser bezüglich der Beteiligungs- und Mitspracherechte der Kinder hinter den völkerrechtlichen Staatenverpflichtungen aus Art. 12 UN-KRK zurückbleibt. Daraus könnten sich Interpretationsprobleme ergeben.34 *** 33 Artikel von Uhle, Der Verfassungstrojaner, in der FAZ vom 4. Dezember 2019, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/gesetzentwurf-zu-kinderrechten-eltern-rechte-in-gefahr- 16519240.html (letzter Abruf: 16. Dezember 2019). 34 So Wapler, Verfassungsblog Kinderrechte ins Grundgesetz: Ein neuer Entwurf bringt nichts Neues vom 6. Dezember 2019, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/kinderrechte-ins-grundgesetz-ein-neuer-entwurf-bringt-nichtsneues / (letzter Abruf: 16. Dezember 2019).