Deutscher Bundestag Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 2 Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union Verfasserinnen: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Abschluss der Arbeit: 31. August 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung, WD 11: Europa Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro- Währungsgebiets und der EU-Organe vom 21. Juli 2011 unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung von Hoheitsrechten 4 2.1. Anpassungsprogramme für Griechenland 4 2.1.1. Vorgaben aus dem EFSF-Rahmenvertrag 4 2.1.2. Vorgaben aus der Griechenland-Fazilität 6 2.2. Umfassende Strategie für Wachstum und Investition in Griechenland 8 2.3. Fazit 8 3. Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG 8 3.1. Formelle Anforderungen an die Hoheitsrechtsübertragung 8 3.2. Materielle Schranken der Hoheitsrechtsübertragung 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 4 1. Einleitung Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat in einem Interview im Magazin „Stern“ am 28. Juli 2011 Regeln für den Fall gefordert, dass ein Land in einer Währungsunion seine Schulden nicht mehr bedienen kann.1 Zu diesen Regeln zählt er einerseits die binnen eines Jahres angestoßenen Fortschritte bei der besseren Abstimmung der nationalen Haushalte, bei der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Union und bei der angestrebten Verschärfung des Stabilitätspaktes. Schäuble fordert darüber hinaus: „Aber die Integration muss fortschreiten und ein Staat mit Problemen, dem geholfen wird, muss im Gegenzug einen Teil seiner Hoheitsrechte an die EU abgeben. Wenn Sie sich die Beschlüsse des Eurozonengipfels vom vergangenen Donnerstag anschauen , sind wir einen wichtigen Schritt dabei weitergekommen.“2 Im Folgenden wird zunächst dargestellt, inwieweit die von Schäuble in Bezug genommene Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU-Organe vom 21. Juli 2011 Schritte in Richtung von Einschränkung von Hoheitsrechten von Empfängerstaaten von Finanzhilfen enthält. Im Anschluss werden unter Punkt 3 die Vorgaben und Grenzen des deutschen Verfassungsrechts für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union erörtert . 2. Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU- Organe vom 21. Juli 2011 unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung von Hoheitsrechten Am 21. Juli 2011 haben die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU- Organe eine Erklärung abgegeben, in der sie ihre Einigung auf weitere Maßnahmen zur Sicherstellung der Finanzstabilität im gesamten Euro-Währungsgebiet und in dessen Mitgliedstaaten vorstellen.3 Folgende angekündigte Maßnahmen weisen einen Bezug zur Einschränkung von Hoheitsrechten von Empfängerstaaten auf: 2.1. Anpassungsprogramme für Griechenland 2.1.1. Vorgaben aus dem EFSF-Rahmenvertrag Die Staats- und Regierungschefs und die EU-Organe erklärten am 21. Juli 2011, dass sie ein neues Finanzierungsprogramm für Griechenland mit einem Gesamtvolumen von etwa 109 Mrd. Euro unterstützen wollen.4 Als Finanzierungsinstrument soll die Europäische Finanzstabilisierungs- 1 Interview mit dem „Stern“ vom 28. Juli 2011, „Der Markt reagiert auf jedes Wort“, online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_82/DE/Presse/Reden-und- Interviews/20110728__Stern.html?__nnn=true (letzter Abruf: 15. August 2011). 2 Interview a.a.O. Hervorhebung durch Verfasserinnen. 3 Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets und der EU-Organe vom 21. Juli 2011, Ausschussdrucksache 17(21)0673, online abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/124011.pdf (letzter Abruf: 11. August 2011). 4 Erklärung vom 21. Juli 2011, a.a.O., Ziffer 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 5 fazilität (EFSF) dienen. Die Staats- und Regierungschefs kündigten an, „die strikte Einhaltung des Programms auf der Grundlage der regelmäßigen Beurteilungen der Kommission in Verbindung mit der EZB und dem IWF sehr eng überwachen“ zu wollen.5 Die Laufzeiten der EFSF- Darlehen sollten zwischen mindestens 15 und maximal 30 Jahren mit einer tilgungsfreien Zeit von 10 Jahren betragen. In diesem Zusammenhang wurde angekündigt, eine angemessene Überwachung nach der Durchführung des Programms sicherzustellen.6 Die Gewährung von Darlehen aus dem EFSF unterliegt nach dem EFSF-Rahmenvertrag7 schon bislang strengen Bedingungen: Als Voraussetzung für den Abschluss einer Vereinbarung über eine Darlehensfazilität haben die jeweiligen, ein solches Darlehen beantragenden Mitgliedstaaten Absichtserklärungen (Memoranda of Understanding) mit der Europäischen Kommission in Abstimmung mit EZB und IWF abzuschließen, die die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets als Sicherungsgeber der EFSF vertritt; diese Memoranda of Understanding regeln die Haushaltsdisziplin und wirtschaftspolitischen Leitlinien der jeweiligen Staaten und ihre Einhaltung der Bestimmungen der Memoranda of Understanding (Präambel Ziffer 2, Art. 2 Abs. 1 (a) S. 1 des EFSF-Rahmenvertrages). Diese Absichtserklärungen werden auch Anpassungsprogramme genannt . Das Memorandum of Understanding wird zwischen Kommission und dem die Stabilitätshilfe beantragenden Mitgliedstaat verhandelt und sodann von dem beantragenden Mitgliedstaat und der Kommission unterzeichnet. Innerhalb des beantragenden Mitgliedstaats wird nach der Verhandlung seitens der Regierung das Memorandum of Understanding vom Parlament gebilligt; erst dann kann die Unterzeichnung erfolgen.8 Als Beispiel sei auf das am 17. Mai 2011 von der portugiesischen Regierung und der Kommission unterzeichnete Memorandum of Understanding (Portugal Memorandum of Understanding on Specific Economic Policy Conditionality – „MoU“ = deutsch: Vereinbarung über spezifische wirtschaftspolitische Auflagen9), d. h. das portugiesische Anpassungsprogramm, hingewiesen. Das portugiesische Anpassungsprogramm basiert auf drei Säulen10: Erstens sollen tiefgreifende Strukturreformen erfolgen, die das Potenzialwachstum erhöhen, Arbeitsplätze schaffen und die 5 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, a.a.O., Ziffer 2. 6 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, a.a.O., Ziffer 3. 7 Der EFSF-Rahmenvertrag ist online abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_1270/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Europa/20100609- Schutzschirm-Euro-Anlage__1,templateId=raw,property=publicationFile.pdf (letzter Abruf: 15. August 2011); am 20. Juni 2011 haben die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets eine Änderung des EFSF- Rahmenvertrags beschlossen, s. Ausschussdrucksachen 17(21)0596; 17(21)0602; in englischer Sprache online abrufbar unter: http://www.efsf.europa.eu/attachments/efsf_framework_agreement_amendment_agreement.pdf (letzter Abruf: 15. August 2011). 8 Vgl. Bundesregierung, Portugal beantragt Hilfe aus Euro-Rettungsschirm, online abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2011/04/2011-04-08-portugalhilfen ,layoutVariant=Druckansicht.html (letzter Abruf: 15. August 2011). 9 Im Volltext nur in englischer Sprache verfügbar unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/eu_borrower/mou/2011-05-18-mou-portugal_en.pdf (letzter Abruf: 15. August 2011). 10 Für die Zusammenfassung vgl. Durchführungsbeschluss des Rates vom 30. Mai 2011 über einen finanziellen Beistand der Union für Portugal, Ratsbeschluss 2011/344/EU, ABl. 2011 L 159/88. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 6 Wettbewerbsfähigkeit steigern sollen. Das Anpassungsprogramm sieht insbesondere Reformen am Arbeitsmarkt, beim Gerichtswesen, bei den Netzindustrien sowie im Wohnungs- und Dienstleistungssektor vor. Die zweite Säule besteht aus einer Haushaltskonsolidierungsstrategie, die durch finanzpolitische Strukturmaßnahmen und eine bessere Finanzkontrolle öffentlich-privater Partnerschaften („ÖPPs“) und staatseigener Unternehmen unterstützt wird und darauf abzielt, die Bruttoschuldenquote mittelfristig auf einen deutlichen Abwärtspfad zu führen. Konkret haben sich die Behörden dazu verpflichtet, das Defizit bis 2013 auf 3 % des BIP abzusenken. Drittens enthält das Anpassungsprogramm eine finanzpolitische Strategie, die auf Rekapitalisierung und Abbau des Fremdkapitalanteils basiert, gemeinsam mit Bemühungen, den Finanzsektor durch marktgestützte Mechanismen, die von Reserven gestützt werden, vor einem ungeordneten Abbau des Fremdkapitals zu schützen. Insgesamt sind im Anpassungsprogramm zahlreiche konkret zu ergreifende Einzelmaßnahmen aufgelistet. Es werden außerdem konkrete Zeitpunkte für die Verwirklichung dieser Maßnahmen genannt. Die Erfüllung der im MoU vereinbarten Maßnahmen wird regelmäßig überwacht. Insbesondere wird die Auszahlung weiterer Kredittranchen aus dem EFSF-Programm von der Erfüllung der Aufgaben abhängig gemacht. Nach dem MoU sind die portugiesischen Behörden zudem dazu verpflichtet, die Europäische Kommission, die EZB und den IWF zu konsultieren, bevor politische Maßnahmen ergriffen werden, die nicht im Einklang mit dem Anpassungsprogramm stehen.11 Nimmt man das Beispiel des portugiesischen Anpassungsprogramms, sieht man, dass dieses weitreichende Vorgaben für Politikbereiche enthält, die im Wesentlichen in rein nationaler Zuständigkeit liegen, wie die nationale Haushalts- und Finanzpolitik, die Organisation des Justizwesens oder die Arbeitsmarktpolitik. Insoweit tangiert das MoU faktisch die Hoheitsrechte des Stabilitätshilfe beantragenden Mitgliedstaats. Es ist aber essentiell zu betonen, dass der die Stabilitätshilfe beantragende Mitgliedstaat die Vorgaben mit aushandelt und sich im MoU freiwillig nach Zustimmung des nationalen Parlaments zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet – wenn auch als Voraussetzung der Gewährung eines Darlehens aus der EFSF. Es handelt sich also um eine selbst auferlegte temporäre Einschränkung von Hoheitsrechten, aus der der die Hilfe beantragende Mitgliedstaat auch jederzeit wieder aussteigen kann: Die Nichtbefolgung der Vorgaben des MoU führt schließlich nur dazu, dass weitere Kredittranchen ggf. nicht mehr ausgezahlt werden . Mit der Erklärung vom 21. Juli 2011 betonen die Staats- und Regierungschefs und die EU-Organe noch einmal, dass sie die Einhaltung der Programme strikt überwachen wollen; eine angemessene Überwachung soll auch noch nach der Laufzeitverlängerung der Darlehen bestehen. 2.1.2. Vorgaben aus der Griechenland-Fazilität Am 21. Juli 2011 kündigten die Staats- und Regierungschefs des Weiteren an, die Laufzeiten der derzeitigen Griechenland-Fazilität erheblich zu verlängern. Dies würde durch einen Mechanis- 11 Memorandum of Understanding, S. 1, abrufbar a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 7 mus ergänzt, der geeignete Anreize zur Umsetzung des Programms, das mit Griechenland vereinbart wurde, bietet.12 Die Griechenland-Fazilität beruht auf der Einigung der Mitgliedstaaten des Euro- Währungsgebiets vom 2. Mai 2010 über das drei Jahre laufende Hilfspaket zugunsten Griechenlands . Dieses umfasst ein Kreditvolumen von insgesamt 110 Mrd. Euro, das in Höhe von 80 Mrd. Euro durch die Staaten der Euro-Gruppe aufgebracht wird; weitere 30 Mrd. Euro stellt der IWF zur Verfügung.13 Zwischen Griechenland und den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets wurde ebenfalls eine Vereinbarung über die spezifischen wirtschaftspolitischen Auflagen (Memorandum of Understanding on Specific Economic Policy Conditionality14) getroffen, die ebenso wie die Anpassungsprogramme im Rahmen der EFSF festgelegt, welche wirtschaftspolitischen Bedingungen Griechenland erfüllen muss, damit die nächste Darlehenstranche ausgezahlt wird.15 Das griechische Anpassungsprogram zielt auf eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung mit einer Rückführung des Defizits unter 3 % bis 2014, Strukturreformen zur Modernisierung des öffentlichen Sektors, der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der Gütermärkte und der Privatisierung von Staatsbesitz. Es werden konkret zu treffende Maßnahmen innerhalb eines bestimmten Zeitplans festgelegt, z. B. die Kürzung des Oster-, Urlaubs- und Weihnachtsgelds für Beamte mit dem Ziel einer Einsparung von 500 Mio. Euro jährlich bis Ende Juni 2010. Letztlich hat sich Griechenland im Anpassungsprogramm – wie Portugal im Rahmen des EFSF- Programms – freiwillig nach Zustimmung des Parlaments zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet , von denen seitens der Geberländer die Erwartung besteht, dass sich Griechenland hieran hält. In ihrer Erklärung vom 21. Juli 2011 kündigten die Staats- und Regierungschefs an, die Laufzeit der Griechenland-Fazilität zu verlängern. Im Gegenzug sollen geeignete Anreize zur Umsetzung des Anpassungsprogramm gesetzt werden; wie diese jedoch genau aussehen sollen, wird nicht spezifiziert. Griechenland und die Geberländer werden sich jedoch wiederum auf einen ergänzenden Mechanismus einigen müssen, so dass die Unterwerfung unter diesen Mechanismus, und damit eine Einschränkung von Hoheitsrechten, auch auf letztlich freiwilliger Basis unter Ausübung der Souveränitätsrechte erfolgen wird. 12 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, a.a.O., Ziffer 3. 13 Statement by the Eurogroup, 2. Mai 2010, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/misc/114130.pdf (letzter Abruf: 14. Dezember 2010). In Deutschland verabschiedete der Bundestag am 7. Mai 2010 das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik (Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz – WFStG), BGBl. I S. 537. 14 S. European Commission, The Economic Adjustment Programme for Greece, Third Review – Winter 2011, S. 93, online abrufbar nur in englischer Sprache unter: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/occasional_paper/2011/pdf/ocp77_en.pdf (letzter Abruf: 16. April 2011); s. auch Beschluss des Rates vom 8. Juni 2010 gerichtet an Griechenland zwecks Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung und zur Inverzugsetzung Griechenlands mit der Maßgabe , die zur Beendigung des übermäßigen Defizits als notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen, Ratsbeschluss 2010/320/EU, ABL. 2010 L 145/6. 15 S. hierzu Häde, Rechtsfragen der EU-Rettungsschirme, Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2011, S. 1 (4 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 8 2.2. Umfassende Strategie für Wachstum und Investition in Griechenland Die Staats- und Regierungschefs und die EU-Organe haben am 21. Juli 2011 ferner eine umfassende Strategie für Wachstum und Investition in Griechenland gefordert.16 Die Kommission will hierzu eine Arbeitsgruppe einsetzen, die mit den griechischen Behörden zusammenarbeiten wird, um die Strukturfonds auf die Aspekte Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildung auszurichten. Die EU-Fonds und die EIB sollen für den Aufbau der griechischen Wirtschaft eingesetzt werden. Mit diesem Vorschlag ist keinerlei Einschränkung von Hoheitsrechten verbunden, geht es doch nur um die Schaffung von Rahmenbedingungen, damit Gelder aus den EU-Fonds und der EIB in Projekte in Griechenland fließen können. 2.3. Fazit In der Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 21. Juli 2011 wird noch einmal betont, dass die Gewährung von Darlehen nur bei einer gleichzeitigen Vereinbarung über ein Anpassungsprogramm mit weitreichenden Maßnahmen erfolgt. Betont wird zudem, dass die Einhaltung der Anpassungsprogramme seitens Kommission, EZB und IWF überwacht werden wird. Zu all diesen Maßnahmen verpflichten sich die Empfängerländer jedoch freiwillig im Rahmen einer von ihnen ausgehandelten Vereinbarung. Inwieweit ein Mitgliedstaat Hoheitsrechte dergestalt temporär einschränken kann, um so die Voraussetzungen für die Gewährung von Stabilitätshilfen zu erhalten, hängt einzig vom jeweiligen innerstaatlichen Verfassungsrecht ab und den dort festgelegten Grenzen. 3. Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2, 3 GG 3.1. Formelle Anforderungen an die Hoheitsrechtsübertragung Gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Für Änderungen der vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates notwendig, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG. 3.2. Materielle Schranken der Hoheitsrechtsübertragung In materieller Hinsicht gestattet Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nur die Übertragung einzelner Hoheitsrechte , nicht aber die allein einem Staat zukommende umfassende Hoheitsgewalt.17 Somit ist eine Selbstaufgabe der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat zugunsten eines europäischen Bundesstaates ausgeschlossen.18 Die auf die EU übertragenen Hoheitsrechte müssen hin- 16 Erklärung der Staats- und Regierungschefs, a.a.O., Ziffer 4. 17 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, Bd. 2, 6. Auflg. 2010, Art. 23 Rn. 10. 18 BVerfGE 123, 267, 347 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 9 reichend in den Verträgen bestimmt sein und im Zustimmungsgesetz hinreichend normiert sein.19 Die Erteilung einer Kompetenz-Kompetenz ist nicht erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Maastricht-Urteil festgestellt, dass Art. 38 GG einer Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union stets dann entgegensteht, wenn die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so entleert wird, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird. Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.20 In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon21 hat das BVerfG diese Grundsätze bestätigt und weiter ausgeformt. Tragender Gedanke hierzu ist die dauerhafte Integrationsverantwortung, die den deutschen Verfassungsorganen obliegt und die darauf gerichtet ist, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union (EU) demokratischen Grundsätzen im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG entspricht.22 Die „integrationsfeste Verfassungsidentität “ des Grundgesetzes muss gewahrt bleiben,23 nur in diesem Umfang dürfen gemäß Art. 23 Abs. 1 GG Hoheitsrechte übertragen werden. Aus der Ausübung bereits übertragener Kompetenzen dürfen keine weiteren Zuständigkeiten für die EU begründet und eine weitgehende Verselbstständigung politischer Herrschaft muss vermieden werden. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung enthält insoweit nationale Verfassungsprinzipien.24 Ob diese gewahrt bleiben, ist der Kontrolle des BVerfG unterworfen.25 Der Deutsche Bundestag muss Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behalten oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung muss maßgeblichen Einfluss auf die europäischen Entscheidungsverfahren auszuüben vermögen.26 Allerdings bedeute die vom Demokratieprinzip geforderte Wahrung der Souveränität für sich genommen nicht, dass eine von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben müssten.27 Art. 23 Abs. 1 GG gestatte die Mitwirkung Deutschlands an der Entwicklung der Europäischen Union, dies umfasse auch die Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion und einer politischen Union. Allerdings müsse in den Mitgliedstaaten ausrei- 19 BVerfGE 75, 223, 242; 89, 155, 194 ff; 123, 267, 349 ff. 20 BVerfGE 89, 155, 186. 21 BVerfGE 123, 267. 22 BVerfGE 123, 267, 356. 23 BVerfGE 123, 267, 347. 24 BVerfGE 123, 267, 350. Siehe auch Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon- Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, 2867 (2868). 25 BVerfGE 123, 267, 354 f. 26 BVerfGE 123, 267, 356. 27 BVerfGE 123, 267, 357. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 -270/11 , WD 11 – 3000 – 114/11 Seite 10 chender Raum zur poltischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse verbleiben.28 Das BVerfG arbeitet in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon heraus, dass - Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, - die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand, - die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen, - kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen, z. B. im Familienrecht, Bildungssystem, - oder der Umgang mit religiösen Gemeinschaften, besonders sensibel für die Fähigkeit zur demokratischen Selbstgestaltung eines Verfassungsstaates sind.29 Für jeden dieser Bereiche zeigt das BVerfG auf, wo die Grenzen der Verfassungsidentität liegen, die weder durch den Vertrag von Lissabon noch durch zukünftige Vertragsänderungen angegriffen werden dürfen. Zum Budgetrecht des Deutschen Bundestages hat das BVerfG in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon ausgeführt, dass „eine das Demokratieprinzip und das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt verletzende Übertragung [vorliege], wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde“.30 Allerdings gefährde nicht jede haushaltswirksame europäische oder internationale Verpflichtung die Gestaltungsfähigkeit des Bundstages als Haushaltsgesetzgeber. Entscheidend sei, dass die Gesamtverantwortung mit ausreichenden politischen Freiräumen für Einnahmen und Ausgaben noch beim Deutschen Bundestag liege.31 28 BVerfGE 123, 267, 358. 29 BVerfGE 123, 267, 359 ff. 30 BVerfGE 123, 267, 361. 31 BVerfGE 123, 267, 361 f.