© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 269/20 Sprachnachweise im Aufenthaltsrecht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 269/20 Seite 2 Sprachnachweise im Aufenthaltsrecht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 269/20 Abschluss der Arbeit: 27. November 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 269/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist dem Ehegatten eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Ehegatte u. a. sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG ist Satz 1 Nr. 2 für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn u. a. es dem Ehegatten auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen. Es wurden die Fragen aufgeworfen, ob das AufenthG ein Ermessen für die Rechtsanwender eröffne bezüglich der Frage, inwieweit in Ländern, in denen der geforderte Sprachnachweis objektiv nicht erbracht werden kann, von diesen Sprachnachweisen abgesehen werden kann und inwieweit bei der Rechtsanwendung vorrangiges EU-Recht zu beachten ist. 2. Zum Begriff des Ermessens und zu unbestimmten Rechtsbegriffen Was unter dem Begriff Ermessen zu verstehen ist, erschließt sich aus dem Gegensatz zum gebundenen Verwaltungshandeln, bei dem das Gesetz die Verwirklichung des Tatbestands mit einer abschließend bestimmten, zwingenden Rechtsfolge verknüpft. Wenn diese strikte Verknüpfung von Tatbestand und zwingender Rechtsfolge auf der Rechtsfolgenseite der Norm gelockert wird, indem das ermächtigende Gesetz der Behörde die Möglichkeit zur Wahl zwischen mehreren in gleicher Weise gesetzmäßigen Rechtsfolgen eröffnet, wird ein Ermessen eingeräumt.1 Im Gegensatz zum Ermessen spricht man von unbestimmten Rechtsbegriffen, wenn der Gesetzgeber Begriffe verwendet, deren Bedeutung in besonderem Maß unklar ist und die der wertenden Konkretisierung im Einzelfall bedürfen.2 Unbestimmte Rechtsbegriffe eröffnen der Verwaltung Interpretationsspielräume, die sie ausfüllen müssen.3 Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ist gerichtlich voll überprüfbar.4 3. Erfordernis eines Sprachnachweises und Ausnahmen hiervon nach dem AufenthG Nach der gesetzlichen Konstruktion des Ehegattennachzugs im AufenthG ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Zu diesen Voraussetzungen gehören u. a. einfache Sprachkenntnisse. Das Gesetz sieht demnach bei Vorliegen der Voraussetzungen nur 1 Aschke in: BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 49. Edition, Stand: 01.10.2020, § 40, Rn. 4 2 Aschke (Fn. 1) Rn. 22. 3 Aschke (Fn. 1) Rn. 24. 4 BVerfG, Urteil vom 20.02.2001, 2 BvR 1444/00, Rn. 53 (zitiert nach Juris). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 269/20 Seite 4 eine Rechtsfolge (Erteilung der Aufenthaltserlaubnis) vor.5 Das Gesetz eröffnet diesbezüglich kein Ermessen. Bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sieht das AufenthG vor, dass Satz 1 Nr. 2 (einfache Sprachkenntnisse) unbeachtlich ist, wenn u. a. der Erwerb einfacher Sprachkenntnisse nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Auch hierbei wird bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Rechtsfolge zwingend vorgegeben6 und kein Ermessen eröffnet. Ob die jeweiligen Voraussetzungen für die Unbeachtlichkeit des Erwerbs einfacher Sprachkenntnisse erfüllt sind, ist anhand der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit des Erwerbs einfacher Sprachkenntnisse zu prüfen. Die besonderen Umstände des Einzelfalls sind bei der Abwägung zu berücksichtigen. Ein Ermessen wird dadurch aber nicht begründet . Bei der Rechtsanwendung im Einzelfall sind die Voraussetzungen für die Unmöglichkeit oder die Unzumutbarkeit des Erwerbs einfacher Sprachkenntnisse – objektiv betrachtet – entweder erfüllt oder nicht. Je nachdem, ob diese Voraussetzungen vorliegen oder nicht, ist die Rechtsfolge im Gesetz klar geregelt. 4. Europarechtskonforme Auslegung Nach Art. 288 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist eine Richtlinie hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Nationale Rechtsnormen, insbesondere solche, die zur Durchführung der Richtlinie erlassen wurden, sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Sinne der vorgesehenen Ziele der Richtlinie auszulegen.7 Die Auslegung des nationalen Rechts ist unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.8 Bei der Auslegung der Regelungen zum Erwerb von Sprachkenntnissen nach dem AufenthG sind daher die Ziele der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung zu berücksichtigen. Zu dieser Richtlinie hat der EuGH mit Urteil vom 9. Juli 2015 (C‑153/14) entschieden, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt. Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 der Richtlinie, nach dem von Drittstaatsangehörigen Integrationsmaßnahmen verlangt werden können, ist dagegen eng auszulegen. Ferner darf der den Mitgliedstaaten zuerkannte Handlungsspielraum nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel 5 Tewocht in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 27. Edition, Stand: 01.07.2020, § 30 AufenthG, Rn. 7; Dienelt in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 30 AufenthG, Rn. 8. 6 Dienelt (Fn. 5) Rn. 82. 7 EuGH, Urteil vom 22.09.1998, C-185/97, Rn. 18. 8 BVerwG, Urteil vom 21.08.2018, 1 C 21/17, Rn. 27. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 269/20 Seite 5 dieser Richtlinie, Familienzusammenführungen zu fördern, und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde.9 Mit § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG wurde eine Ausnahmeregelung geschaffen, um die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung in Härtefällen nicht unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Nach der Gesetzesbegründung soll dies sicherstellen, dass alle Besonderheiten des Einzelfalls gebührend berücksichtigt werden können und bei Vorliegen besonderer Umstände ein Absehen vom Sprachnachweis möglich ist.10 Die Feststellung, ob von der Unzumutbarkeit des Spracherwerbes vor Einreise auszugehen ist, erfolgt nicht schematisch, sondern im Wege einer individuellen Prüfung der Umstände.11 Durch die Härtefallklausel sind daher die europarechtlichen Vorgaben gewahrt, wenn die Ziele der Richtlinie bei der Auslegung im Einzelfall berücksichtigt werden.12 *** 9 EuGH, Urteil vom 09.07.2015, C‑153/14, Rn. 50. 10 BT-Drs. 18/5420, S. 26 11 VG Berlin, Urteil vom 11.07.2016, 8 K 97.16 V, Rn. 22. 12 BVerwG, Urteil vom 25.06.2019, 1 C 40/18, Rn. 25; Dienelt (Fn. 5) Rn. 84.