© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 268/14 Entscheidungskompetenzen des Bundestages unter den Bedingungen von Privatisierung, europäischer Integration und völkerrechtlicher Einbindung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 2 Entscheidungskompetenzen des Bundestages unter den Bedingungen von unter den Bedingungen von Privatisierung, europäischer Integration und völkerrechtlicher Einbindung Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 268/14 Abschluss der Arbeit: 03.12.2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung und Eingrenzung des Themas 4 2. Privatisierung und Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion des Bundestages 4 2.1. Privatisierungsformen 5 2.2. Privatisierungsbereiche auf Bundesebene 6 2.2.1. Entwicklung 6 2.2.2. Beteiligungsbericht des Bundesministeriums der Finanzen 7 2.2.3. Infrastruktur/Treuhand 7 2.2.4. Energie/Finanzmarktstabilisierung 8 2.3. Gesetzgebungsfunktion 8 2.3.1. Gesetzesvorbehalt 8 2.3.2. Privatisierungsfolgenrecht 9 2.4. Kontrollfunktion 9 2.4.1. Budgethoheit 9 2.4.2. Kontrolle der verbleibenden Verwaltungstätigkeit 10 3. Abgegebene Entscheidungskompetenzen aufgrund der europäischen Integration 11 3.1. Ausschließliche Kompetenzen der Union 12 3.2. Geteilte Kompetenzen der Union 14 3.2.1. Supranationale Kompetenzbereiche 16 3.2.2. Allgemeine Kompetenzbereiche 17 3.3. Weitergehende Kompetenzen der EU (Flexibilitätsklausel) 19 4. Völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 4 1. Fragestellung und Eingrenzung des Themas Die Staats- und Verwaltungsorganisation kann sich unter den Bedingungen von Privatisierung, europäischer Integration und völkerrechtlicher Einbindung verändern.1 Diese Veränderungen können auch mit dem Verlust von Entscheidungskompetenzen einhergehen. Die vorliegende Frage nach dem „Verlust konkreter Entscheidungskompetenzen des Deutschen Bundestages durch Privatisierungsprozesse, der Übertragung von Hoheitsrechten im Wege des europäischen Integrationsprozesses gemäß Art. 23 GG oder aus anderen Gründen“ bedarf angesichts der Breite des Themas einiger Eingrenzungen und Präzisierungen. Im Kontext von Privatisierungen würde die Frage nach dem „Verlust“ von Entscheidungskompetenzen zu kurz greifen, da der Bundestag formal durch Privatisierungen keine Befugnisse verliert. Gleichwohl wirken sich Privatisierungsprozesse auf die Gesetzgebungsfunktion und auf die parlamentarische Kontrolle des Bundestages aus (dazu unten Ziff. 2.). Im Kontext der europäischen Integration lässt sich die Frage nach dem Verlust von Entscheidungskompetenzen des Bundestages besonders auf den Verlust von Gesetzgebungskompetenzen beziehen. Die Erläuterung der Kompetenzverschiebungen soll daher im Vordergrund stehen (dazu unten Ziff. 3.). Nicht unerheblich, aber schwierig zu fassen ist die Bedeutung der in der Frage nicht explizit erwähnten völkerrechtlichen Bindungen Deutschlands für die Entscheidungskompetenzen des Bundestages (dazu unten Ziff. 4.). 2. Privatisierung und Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion des Bundestages Die Privatisierung von Verwaltungsaufgaben des Bundes berührt die Kompetenzen des Bundestages . Art und Ausmaß der Betroffenheit hängen dabei davon ab, welche Privatisierungsform gewählt wurde. Je nach Privatisierungsform wird die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben des Bundes mehr oder weniger aus der hierarchischen Verwaltung ausgegliedert, was sich auf die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesverwaltung und – dem folgend – auf die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundestages auswirkt. In diesem Zusammenhang wird von Verlust parlamentarischer Kontrolle gesprochen.2 Dieser kann auch auf tatsächliche Schwierigkeiten zurückzuführen sein: sei es, dass die möglichen Kontrollbereiche nicht (mehr) erkannt werden oder dass die Wahrnehmung der Kontrolle aufgrund gesellschaftsrechtlicher oder vertraglicher Regelungen verkompliziert wird.3 1 Zum Wandel von Staatlichkeit und ihren Herausforderungen für die Staats- und Verwaltungsorganisation siehe Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: Hoffmann- Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Auflage 2012 (GVwR I), § 16 Rn. 20 ff. 2 Schmidt, Die demokratische Legitimation der parlamentarischen Kontrolle (2007), 368 ff. 3 Schmidt (Fn. 2), 408 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 5 Neben möglichen Einbußen bei der parlamentarischen Kontrolle ist aber auch zu berücksichtigen, dass Privatisierungen nicht notwendig am Gesetzgeber vorbei laufen, sondern unter Gesetzesvorbehalt stehen können. Zudem kann eine sog. Gewährleistungsverantwortung4 für die Aufgabenerfüllung bestehen, die gesetzliche Regulierungsmaßnahmen erfordert (Privatisierungsfolgenrecht5). Beide Aspekte, also die Auswirkungen von Privatisierungen auf die Gesetzgebungs- und auf die Kontrollfunktion des Bundestages sollen erläutert werden. Angesichts der Vielfalt der Privatisierungsbereiche und Privatisierungsformen erfolgt die Darstellung exemplarisch. 2.1. Privatisierungsformen Die verschiedenen Formen der Privatisierung können grob drei Grundtypen zugeordnet werden, und zwar der formellen, der materiellen und der funktionalen Privatisierung.6 In der Privatisierungspraxis werden diese Grundtypen allerdings nicht selten nur teilweise verwirklicht (Teilprivatisierungen ) oder tauchen in Mischformen auf. Die Privatisierungsvielfalt ist damit sehr groß,7 mitunter weisen Privatisierungsformen sehr komplizierte rechtliche Konstruktionen auf.8 Bei der formellen Privatisierung (Organisationsprivatisierung) nimmt der Verwaltungsträger die ihm obliegenden Aufgaben in privatrechtlicher Form wahr (z.B. GmbH oder AG). Die Wahl der privaten Rechtsform lässt die Einordnung als Staatsgewalt dabei unberührt. Der Staat handelt „lediglich“ in privater Form, behält aber die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben.9 Die weitreichendste Form der Privatisierung stellt die materielle Privatisierung dar (Aufgabenprivatisierung ). Hier nimmt der Verwaltungsträger die von ihm bislang in Anspruch genommene Kompetenz nicht mehr wahr.10 Er überlässt die Aufgabenwahrnehmung vollständig Privaten und übernimmt „nur“ noch die Verantwortung dafür, dass die Aufgabenwahrnehmung durch Private gewährleistet wird. Die funktionale Privatisierung bezieht sich auf die Einbeziehung von Privaten in die Erfüllung öffentlich-rechtlich organisierter Aufgaben (Erfüllungsprivatisierung). Kennzeichen ist, dass die Aufgabenzuständigkeit und -verantwortung bei dem Träger der öffentlichen Verwaltung bleibt, 4 Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2. Auflage 2012 (GVwR I), § 12 Rdnr. 163 ff.; Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: GVwR I, § 16 Rdnr. 96 ff. 5 Zum Begriff des Privatisierungsfolgenrechts Kämmerer, Privatisierung, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band I, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Auflage 2012, § 14 Rdnr. 4 ff. 6 Zu diesen und weiteren Privatisierungstypen siehe Kämmerer (Fn. 5) § 14 Rdnr. 4 ff. 7 Schulze-Fielitz (Fn. 4), § 12 Rdnr. 113 ff. 8 Zum besonders komplizierten Holding-Modell der Berliner Wasserbetriebe vgl. Schuppert (Fn. 1), § 16 Rdnr. 127 f. 9 Vgl. , Zulässigkeit alternativer Betriebsformen bei der Verwaltung von Bundeswasserstraßen mit überwiegend touristischer Nutzung, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 250/12), 2012, 15 f. 10 (Fn. 9), 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 6 die Planung, der Vollzug oder die Finanzierung der Aufgabe ganz oder teilweise einem Privaten übertragen wird, der insoweit als Verwaltungshelfer oder Beliehener fungiert. Anwendungsfall ist die öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP bzw. PPP). Als Erscheinungsformen der funktionalen Privatisierung lassen sich das Betreibermodell und das Konzessionsmodell (sowie eine Kombination dieser Modelle) identifizieren.11 2.2. Privatisierungsbereiche auf Bundesebene 2.2.1. Entwicklung Nach dem ersten Privatisierungsschub auf Bundesebene seit 1959 (Veba, Preussag, VW) wurde zwischen 1983 und 1990 das verbliebene industrielle Bundesvermögen privatisiert (VIAG, IVG, Salzgitter); in den 1990er Jahren erfolgten Privatisierungen vor allem im Bereich der Infrastruktur (Deutsche Bundespost, Deutsche Bundesbahn).12 Die gegenwärtige Diskussion betrifft schwerpunktmäßig Privatisierungen auf Landes- und Kommunalebene.13 Aber auch auf Bundesebene werden Privatisierungen von Verwaltungsaufgaben des Bundes weiterhin geprüft.14 Bestimmte Bereiche der Bundesverwaltung, z.B. die Bundeswehr stehen Privatisierungen allenfalls in Randbereichen offen.15 Ein nicht unerheblicher Privatisierungsdruck geht vom Europäischen Unionsrecht aus.16 Privatisierungsmöglichkeiten sind zudem nach § 7 Abs. 1 S. 2 BHO grundsätzlich zu prüfen. Rechtlicher Ausgangspunkt für Privatisierungen ist der Grundsatz der freien Formenwahl der Verwaltung, wonach öffentlich-rechtliche Verwaltungsträger die Form ihres Handelns, also auch die Privatrechtsform frei wählen können.17 11 (Fn. 9), 16. 12 Vgl. die Zusammenstellung vom BMF „Privatisierung von Bundesunternehmen“ (Stand: April 2014), abrufbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Bundesvermoegen/Privatisierungs _und_Beteiligungspolitik/Privatisierung-Liste-Anlage.pdf?__blob=publicationFile&v=6. 13 Schulze-Fielitz (Fn. 4), § 12 Rdnr. 91 f. m.w.N. 14 Z.B. (Fn. 9); , Formelle Privatisierung der Verwaltung – Bundesfernstraßen und Bundeswasserstraßen , Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 204/14), 2012. 15 Schulze-Fielitz (Fn. 4), § 12 Rdnr. 95 m.w.N. 16 Zum unionsrechtlichen Privatisierungsdruck, der aber keine Privatisierungspflicht begründet Kämmerer (Fn. 5), § 14 Rdnr. 45 ff. 17 BVerwG, NJW 1993, 2695, 2697; Schulze-Fielitz (Fn. 4), § 12 Rdnr. 130 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 7 2.2.2. Beteiligungsbericht des Bundesministeriums der Finanzen Ein wichtiges Hilfsmittel zur Ermittlung der Privatisierungsbereiche stellt der jährliche Beteiligungsbericht des Bundesministeriums der Finanzen dar.18 Aufgelistet nach den jeweiligen Geschäftsbereichen der Bundesministerien informiert er über die zahlreichen Beteiligungen des Bundes. Allerdings ist der Beteiligungsbericht nicht spezifisch als Privatisierungsbericht ausgestaltet , d.h. er informiert zwar über die unternehmerische Tätigkeit des Bundes, doch ist nicht ausgewiesen, ob und inwieweit es sich dabei um formell oder materiell privatisierte Verwaltungsaufgaben des Bundes handelt. Auch listet der Beteiligungsbericht nicht diejenigen Bereiche auf, in denen der Bund Private in Form der funktionalen Privatisierung in die Aufgabenwahrnehmung einbezieht. Die Suche des parlamentarischen Informationsdienstes hat darüber hinaus keine Hinweise auf die Erstellung von umfassenden Privatisierungsberichten durch die Bundesregierung ergeben,19 so dass die (seit 1982) betroffenen Privatisierungsbereiche nicht angegeben werden können. Ein Beschlussantrag aus dem Jahr 2006 „Privatisierungsfolgen seriös bilanzieren – Privatisierungen aussetzen“ mit dem Ziel der Erstellung eines Privatisierungsberichts, der die Privatisierungsfolgen seit 1995 u.a. für die öffentlichen Finanzen, die Entwicklung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, Arbeitsentgelten und Preisen ausweist, blieb erfolglos.20 2.2.3. Infrastruktur/Treuhand Von herausgehobener Bedeutung sind die Privatisierungen in den Infrastrukturbereichen Bahn (Art. 87e GG), Post und Telekommunikation (Art. 87f und Art. 143b GG). Bei der Bahn-Privatisierung handelt es sich um eine formelle Privatisierung, die – bis auf die Schieneninfrastruktur (Art. 87e Abs. 3 S. 3 GG) – einer materiellen Privatisierung offen steht. Um ein materiell privatisiertes Unternehmen handelt es sich beispielsweise bei der Deutschen Post AG als Nachfolgeunternehmen der Post; die anderen Nachfolgeunternehmen der Post, Deutsche Telekom AG und Deutsche Post AG sind teilprivatisiert. Ein Beispiel für funktionale Privatisierungen auf Bundesebene sind die ÖPP-Modelle im Bundesfernstraßenbau. Einen Überblick über die umfangreichen Privatisierungen der Treuhandanstalt, geregelt durch das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens vom 17. Juni 1990 (Treuhandgesetz), gibt der Abschlussbericht der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS).21 Über die Nachfolgeeinrichtungen der Treuhandanstalt informiert der Beteiligungsbericht des Bundesfinanzministeriums.22 18 Beteiligungsbericht des Bundesfinanzministeriums 2013, abrufbar unter http://www.bundesfinanzministerium .de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Bundesvermoegen/Privatisierungs_und_Beteiligungspolitik/Beteiligungen _des_Bundes/Beteiligungsbericht-Anlage-2013.pdf?__blob=publicationFile&v=1. 19 Bezogen auf die 16., 17. und 18. Wahlperiode, mit den Suchwörtern Privatisierung, Berichte. 20 Vgl. BT-Drs. 16/5565 und BT-Drs. 16/3914. 21 Schröder-Hohenwarth (Hrsg.), „Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen“ (2003), 39 ff. 22 Vgl. Fn. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 8 2.2.4. Energie/Finanzmarktstabilisierung Die in der Fragestellung aufgeführten Bereiche Energieversorgung und Finanzmarktstabilisierung gehören nicht zur vorliegenden Thematik. Die Energieversorgung fällt nicht in die Verwaltungskompetenz des Bundes, so dass sich Fragen der Privatisierung nicht stellen.23 Auch bei den durch die Finanzmarktstabilisierungsgesetze geschaffenen Einrichtungen und Stabilisierungsinstrumenten 24 handelt es sich nicht um Privatisierungsmaßnahmen. Gleichwohl sind die Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung wegen ihrer weitreichenden Wirkung (z.B. Haftung des Bundes, § 5 FMStG) von besonderer Bedeutung für die parlamentarische Kontrolle. Diese nimmt nach § 10a FMStG das Gremium zum Finanzmarktstabilisierungsfonds wahr, das vom Bundestag gewählt wird. 2.3. Gesetzgebungsfunktion Die Privatisierung von Verwaltungsaufgaben des Bundes kann durch ausdrückliche Privatisierungsgebote (private Rechtsform für Eisenbahnen des Bundes, Art. 87e Abs. 3 S. 1 GG), Privatisierungsverbote (keine materielle Privatisierung der Schienenwege, Art. 87e Abs. 3 S. 2 und 3 GG) und Privatisierungsoptionen (Art. 87d Abs. 1 S. 2 GG im Hinblick auf die Flugsicherung) verfassungsrechtlich geregelt werden. Darüber hinaus kann der einfache Gesetzgeber Rahmenbedingungen für Privatisierungen schaffen und Vorkehrungen gegen negative Folgen von Privatisierungen treffen (Privatisierungsfolgenrecht). Von Bedeutung für die Beteiligung des Bundestages ist zudem, ob konkrete Privatisierungsmaßnahmen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen und demzufolge ein spezielles Privatisierungsgesetz erfordern. 2.3.1. Gesetzesvorbehalt In einigen Fällen hat der Verfassungsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehen, dass konkrete Privatisierungen durch Gesetz zu regeln sind (Gesetzesvorbehalt), z.B. die Veräußerung von Anteilen des Bundes an Bahninfrastrukturunternehmen (Art. 87e Abs. 3 S. 3 und 4 GG) oder die Umwandlung der Postunternehmen (Art. 143b Abs. 1 GG). Insoweit bedarf es also konkreter Privatisierungsgesetze . Soweit keine ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalte vorgesehen sind, ist eine gesetzliche Regelung der Privatisierung nur ausnahmsweise verfassungsrechtlich geboten.25 Die Wahl der privaten Rechtsform bei der formellen Privatisierung löst für sich keinen Gesetzesvorbehalt aus, sondern obliegt der Entscheidung des Bundes als Verwaltungsträger.26 Materielle Privatisierungen bedürfen ebenfalls keiner weiteren gesetzlichen Grundlage. Zu beachten ist aber, 23 Zur Energieversorgung und ihrer (traditionell) privatrechtlichen Dienstleistungserbringung Kämmerer (Fn. 5), § 14 Rdnr. 92 f. 24 Siehe Schuppert (Fn. 1), § 16 Rdnr. 173b ff. 25 Grundsätzlich zu beachten ist insofern die sog. Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG, BVerfGE 47, 46, 79. 26 Schulze-Fielitz (Fn. 4), § 12 Rdnr. 130; Burgi, Rechtsregime, in: GVwR I (vgl. Fn. 4), § 18 Rdnr. 58; a.A. Schmidt (Fn. 2), 385 f. (m.w.N.). Für einen zumindest bereichs- und typenbezogenen Gesetzesvorbehalt Gross, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation (1999), 273 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 9 dass der Bundestag gleichwohl an der materiellen Privatisierung gemäß §§ 64 Abs. 2, 65 Abs. 7 BHO zu beteiligen ist. Bei der funktionalen Privatisierung ist zu differenzieren: Soll der eingeschaltete Private Hoheitsrechte ausüben und damit als Beliehener tätig werden, ist für die Übertragung von Hoheitsrechten eine gesetzliche Grundlage erforderlich, wird der Private „nur“ als Verwaltungshelfer eingeschaltet, reicht die Verwaltungsentscheidung aus.27 2.3.2. Privatisierungsfolgenrecht Soweit der Bund nicht mehr die Erfüllungsverantwortung innehat, kann ihm, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge eine Gewährleistungsverantwortung für die Aufgabenerfüllung zukommen , die gesetzliche Regulierung erfordert.28 Ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert ist eine solche Gewährleistungsverantwortung beispielsweise in Art. 87 e Abs. 4 GG (Bahn) und in Art. 87 f GG (Postwesen und Telekommunikation). Ziel des Regulierungsrechts ist es, zur Verwirklichung der Regulierungsziele (z.B. Daseinsvorsorge zu angemessenen Preisen, Schaffung von Wettbewerb) angemessene Regulierungsinstrumente sowie die „richtige“ Regulierungsinstanz (z.B. Bundesnetzagentur) zu schaffen. Die Regulierung im Bereich Telekommunikation umfasst beispielsweise die Sicherung des Wettbewerbs (durch Zugangs- und Entgeltregulierung), die Gewährleistung der Grundversorgung, Kundenschutz, den Erhalt einer leistungsfähigen Infrastruktur sowie Interessen der öffentlichen Sicherheit.29 Das Regulierungsrecht steht damit nicht für einen Verlust, sondern für einen Zuwachs von Gesetzgebungsaufgaben. 2.4. Kontrollfunktion Die Ausgliederung der Aufgabenwahrnehmung aus der hierarchischen Verwaltung beschränkt – je nach Privatisierungsform und konkreter Ausgestaltung der Privatisierung – notwendig die Reichweite der parlamentarischen Kontrolle. Gegenstand der Kontrolle ist nämlich nicht mehr die Wahrnehmung der konkreten öffentlichen Aufgabe durch die Bundesverwaltung (direkte parlamentarische Kontrolle), sondern nur noch die bei der Bundesverwaltung verbleibende – vertraglich und gesellschaftsrechtlich mögliche – Aufsicht und Einwirkung auf die privatrechtliche Aufgabenwahrnehmung (indirekte parlamentarische Kontrolle). Hinzu kommen Beschränkungen bei der Haushaltskontrolle. 2.4.1. Budgethoheit Dem Bundestag steht nach Art. 110 GG das Budgetrecht zu. Gegenstand des durch Haushaltsgesetz festzulegenden Haushaltsplans sind nach Art. 110 Abs. 1 S. 1 GG „alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes“. Die Privatisierung von Verwaltungskompetenzen des Bundes berührt das Budgetrecht zwar nicht also solches, beschränkt aber im Hinblick auf materielle und formelle Privatisierungen seine Reichweite. Bei materiellen Privatisierungen entfällt von vornherein eine Haushaltskontrolle , da die Aufgabenwahrnehmung vollständig auf Private übertragen wird. Bei formellen 27 Burgi, Privatisierung, in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 3. Auflage 2006, § 75 Rdnr. 19, 24. 28 Siehe Fn. 4. 29 Ausführlich Kämmerer (Fn. 5), § 14 Rdnr. 106 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 10 Privatisierungen scheidet eine Haushaltskontrolle des in privater Rechtsform geführten Unternehmens ebenfalls aus; unter die in den Haushaltsplan aufzunehmenden Einnahmen und Ausgaben des Bundes fallen nämlich nur Einnahmen und Ausgaben der unmittelbaren Bundesverwaltung, nicht hingegen solche selbständiger öffentlicher oder privater Rechtsträger.30 Nimmt der Bund also Verwaltungsaufgaben in privater Rechtsform wahr (z.B. GmbH), begründet er einen selbständigen privaten Rechtsträger, dessen Einnahmen und Ausgaben nicht Teil des Haushaltsplans sind und als sog. Nebenhaushalte nicht der parlamentarischen Haushaltskontrolle unterfallen. Eine haushaltsrechtliche Steuerung formell und materiell privatisierter Aufgabenwahrnehmung kommt dann lediglich im Rahmen von Zuwendungen in Betracht; haushaltswirksam sind darüber hinaus die Unternehmensgewinne, die dem Bund als Anteilseigner zufließen.31 2.4.2. Kontrolle der verbleibenden Verwaltungstätigkeit Bei materiellen Privatisierungen wird die Aufgabenwahrnehmung vollständig auf Private übertragen . Demzufolge beschränkt sich die verbleibende Verwaltungstätigkeit auf die Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung bzw. auf eine gesetzlich geregelte Regulierungsverwaltung. Im Rahmen von funktionalen Privatisierungen hingegen verbleibt die Aufgabenwahrnehmung beim öffentlichen Verwaltungsträger. Voraussetzung für eine wirksame parlamentarische Kontrolle der mit Hilfe von Privaten wahrgenommen Aufgabenerfüllung ist, dass sich der Verwaltungsträger vertraglich einen angemessenen Einfluss sichert und seine Kontroll- und Weisungsrechte effektiv wahrnimmt. Erfüllt der Verwaltungsträger diese Voraussetzungen nicht, steht ggf. die Zulässigkeit der konkreten funktionalen Privatisierung in Frage.32 Die verbleibende Verwaltungstätigkeit bei formellen Privatisierungen ist abhängig von den konkreten gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltungen. Wie bei der funktionalen Privatisierung muss sich der Verwaltungsträger zur Sicherung der demokratischen Legitimation und Kontrolle einen angemessenen Einfluss auf die privatrechtsförmige Tätigkeit sichern.33 Der Verwaltungsträger kann seinen Einfluss über die Wahl bzw. Bestellung der Gesellschaftsorgane sichern und über den Einfluss auf die Geschäftsführung. Die für formelle Privatisierungen bedeutendsten privaten Organisationsformen GmbH und AG bieten dafür unterschiedliche Möglichkeiten. Die Rechtsform der AG ist die „am weitesten verselbständigte Organisationsform“, die nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere durch die Weisungsunabhängigkeit des Vorstands einen direkten Einfluss des staatlichen Mehrheits- und Alleingesellschafters nicht ermöglicht; empfohlen werden daher besondere privatvertragliche Ausgestaltungen des Gesellschaftsrechtsverhältnisses, z.B. durch den Abschluss eines Beherrschungsvertrags und die satzungsmäßige Festschreibung 30 Reimer, in: Beck`scher Online-Kommentar, GG (Stand: 1.9.2014), Rdnr. 43 zu Art. 110; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung (2001), 119 ff. 31 Reimer (Fn. 30), Rdnr. 47 zu Art. 110. 32 Schmidt (Fn. 2), 433 f. 33 Schmidt (Fn. 2), 388 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 11 der öffentlichen Aufgabe.34 Die in dieser Form wahrgenommene Beteiligungsverwaltung unterliegt der parlamentarischen Kontrolle. Beschränkungen der parlamentarischen Kontrolle konnten allerdings aus aktienrechtlichen Geheimhaltungspflichten folgen, die Auskünfte gegenüber dem Parlament verhinderten. Der 2010 in Kraft getretenen § 69a BHO hat diese Beschränkungen weitgehend beseitigt und sieht Unterrichtungspflichten gegenüber dem Bundestag über „alle grundsätzlichen und wesentlichen Fragen der Beteiligungen des Bundes an privatrechtlichen Unternehmen sowie der Beteiligungsverwaltung durch die Bundesregierung“ vor. Konkret erfolgt die Unterrichtung nach § 69a Abs. 2 BHO regelmäßig gegenüber dem Bundesfinanzierungsgremium (§ 3 des Gesetzes zur Regelung des Schuldenwesens des Bundes).35 Die für die GmbH geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen lassen weitgehende Einwirkungsmöglichkeiten der Gesellschafter auf die Unternehmensführung zu. So besteht eine Weisungsabhängigkeit der Geschäftsführung, auch kann ein Aufsichts-, Verwaltungs- oder Beirat bestimmt werden. Im Übrigen kommt die Unterrichtungspflicht nach § 69a BHO zur Anwendung. Der Bundestag kann – über die Unterrichtungspflicht des § 69a BHO hinaus (vgl. § 69a Abs. 4 BHO) – seine Fragerechte gemäß §§ 100 ff. GO-BT nutzen, um die Bundesregierung im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Einwirkungsrechte auf das Unternehmen zu kontrollieren.36 Ferner besteht die Möglichkeit, Aufsichtsgremien mit Abgeordneten zu besetzen.37 3. Abgegebene Entscheidungskompetenzen aufgrund der europäischen Integration Der Bundestag hat im Zuge der europäischen Integration durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (EU) eigene Gesetzgebungszuständigkeiten abgegeben (Art. 23 Abs. 1 GG). Dies ist notwendige Folge der Teilnahme Deutschlands an der europäischen Integration. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht zunächst in seiner Entscheidung zum Vertrag von Maastricht (1993) und später sehr deutlich in der Entscheidung zum Vertag von Lissabon (2009) Hoheitsbereiche definiert, die nach deutschem Verfassungsrecht nicht auf eine supranationale Einrichtung übertragen werden dürfen.38 Ist eine Übertragung jedoch zulässig und erfolgt, wirkt jedoch nicht der Bundestag, sondern die Bundesregierung bei der Ausübung der Hoheitsgewalt 34 Schmidt (Fn. 2), 391, 396. 35 Die Mitglieder des Gremiums nach § 3 BSchuWG sind bereits zur Verschwiegenheit verpflichtet, § 3 Abs. 3 S. 1 BSchuWG. 36 Schmidt (Fn. 2), 397 f. 37 Dafür Gross (Fn. 26), 276 ff., kritisch hingegen Schmidt (Fn. 2), 414 f., der u.a. auf die Gefahr von Interessenkollisionen verweist. Z.T. wirken Bundestagsabgeordnete in Aufsichtsgremien mit, vgl. dazu die Angaben im Beteiligungsbericht des Bundesfinanzministeriums. 38 BVerfGE 89, 155, 171 f. – Maastricht; BVerfGE 123, 267, 411 – Lissabon; nach dieser Entscheidung dürfen folgende Hoheitsbereiche nicht auf die EU übertragen werden: Regelung der Staatsbürgerschaft, das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen und kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem und über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 12 durch die EU, insbesondere im Europäischen Rat und im Rat, mit.39 Der Bundestag hat diese Entscheidungs - und Gesetzgebungskompetenzen somit „verloren“. Die „verlorenen Gesetzgebungszuständigkeiten“ des Bundestages spiegeln sich daher in den Regelungskompetenzen der EU wider. Letztere ergeben sich aus den Bestimmungen der europäischen Verträge (Art. 2 Abs. 6 AEUV). Einen Kompetenzkatalog der EU, in dem alle Kompetenzen aufgelistet sind, gibt es als solchen nicht. Ein Überblick ergibt sich jedoch aus den Regelungen zu den verschiedenen Kompetenztypen der EU, denen jeweils Rechtsgebiete zugeordnet sind, in denen die EU tätig werden kann. Soweit die EU in diesem Rahmen Regelungen treffen kann bzw. getroffen hat, sind die Entscheidungskompetenzen des Bundestages einschränkt. Zu diesen Kompetenztypen gehören die ausschließlichen Kompetenzen (Art. 3 AEUV, dazu unten Ziff. 3.1.), die geteilten Kompetenzen (Art. 4 AEUV, dazu unten Ziff. 3.2.) und die weitergehenden Kompetenzen der EU nach der Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV, dazu unten Ziff. 3.3.). 3.1. Ausschließliche Kompetenzen der Union Unterliegt ein Rechtsgebiet der ausschließlichen Kompetenz der EU, kann nur die EU in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden. Den Mitgliedstaaten ist der Erlass von Gesetzen auf diesen Gebieten somit nicht erlaubt, es sei denn es geht um die Umsetzung von EU-Rechtsakten in das jeweilige nationale Recht oder die EU hat die Mitgliedstaaten dazu ausdrücklich ermächtigt (Art. 2 Abs. 1 AEUV). Folgende Rechtsgebiete fallen in die ausschließliche Kompetenz der EU (Art. 3 AEUV): Zölle (Art. 3 Abs. 1 a) i.V.m. Art. 28 ff. AEUV). Für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderliche Wettbewerbsregeln (Art. 3 Abs. 1 b) i.V.m. Art. 101 ff. AEUV). Die genaue Grenzziehung zwischen dieser ausschließlichen Kompetenz der Union und den Bereichen, die den Mitgliedstaaten und damit auch dem Bundestag zur Gestaltung noch offen stehen, ist umstritten.40 Einigkeit besteht darin, dass die Union über die Gesetzgebungs- und Entscheidungskompetenzen in folgenden Bereichen verfügt: Kartellverbote und Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 103 i.V.m. Art. 101 und Art. 102 AEUV), öffentliche Unternehmen und Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse (Art. 106 Abs. 3 AEUV) und staatliche Beihilfen (Art. 109 i.V.m. Art. 107 und Art. 108 AEUV). Diese Rechtsgebiete sind den Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten entzogen, soweit die betreffenden Sachverhalte grenzüberschreitenden Charakter haben oder sich auf den Binnenmarkt auswirken können. 39 Puttler, Globalisierung als Topos, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI, 2013, § 234, Rdnr. 28. Vgl. auch zur Kritik an dieser Situation vor allem Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: VVDStRL, Band 50 (1991), 9, 39 f. 40 Vgl. den Überblick bei: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung , 52. Ergänzungslieferung (Stand: Januar 2014), Art. 3 AEUV Rdnr. 12 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 13 Währungspolitik (nur für Euro-Mitgliedstaaten, Art. 3 Abs. 1 c) i.V.m. Art. 127 ff. und Art. 282 Abs. 1 AEUV) Die mit der Währungsunion zusammenhängenden Gesetzgebungs- und Entscheidungskompetenzen wurden erstmals mit dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1993 auf die Europäische Union übertragen und traten in der Folge schrittweise in Kraft.41 Die Grenzziehung zwischen Währungspolitik, für die die Europäische Union die ausschließliche Kompetenz im Euro- Raum hat, und der Wirtschaftspolitik, die im Wesentlichen bei den Mitgliedstaaten liegt (Art. 5 Abs. 1 AEUV), ist im Einzelnen schwierig, wie sich insbesondere zuletzt im Rahmen der Finanzkrise der letzten Jahre gezeigt hat.42 Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik (Art. 3 Abs. 1 d) AEUV i.V.m. Art. 38 ff. AEUV) Gemeinsame Handelspolitik (Art. 3 Abs. 1 e) AEUV i.V.m. Art. 206 f. AEUV) Seit dem Vertrag von Nizza (2003) gehört die gemeinsame Handelspolitik, das heißt die handelspolitische weltweite Außenvertretung des Binnenmarktes,43 zur ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen Union. Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) wurden weitere Aspekte in die gemeinsame Außenhandelspolitik einbezogen (Art. 207 AEUV). Dazu gehören nunmehr auch Abkommen über den Handel mit Waren und Dienstleistungen, die Handelsaspekte des geistigen Eigentums sowie ausländische Direktinvestitionen. Die Reichweite dieser neuen Kompetenzen – gerade der ausländischen Direktinvestitionen – wird, nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden Folgen für die Mitgliedstaaten, teilweise eng ausgelegt.44 Abschluss internationaler Übereinkünfte (Art. 3 Abs. 2 AEUV i.V.m Art. 216 AEUV) Auch dieser Kompetenztitel ist in seinen Einzelheiten schwierig zu erfassen. Art. 3 Abs. 2 bestimmt, dass die ausschließliche Zuständigkeit für internationale Übereinkünfte nur gegeben ist, wenn „der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.“ Mit dieser Vorschrift wird jedoch kein eigenständiger ausschließlicher Kompetenztitel der Union begründet. Die Vorschrift setzt voraus, dass ein Kompetenztitel gegeben ist und stellt klar, dass es sich dann um eine ausschließliche Kompetenz handelt, wenn die weiteren genannten Voraussetzungen gegeben sind. 41 Zur Geschichte der Wirtschafts- und Währungsunion siehe Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2011), Art. 119 AEUV Rdnr. 2 ff. 42 Zur Wirtschaftspolitik und ihrer Abgrenzung zur Währungspolitik siehe: EuGH, Rs. C-370/12, Slg. 2012, I-0000, Rdnr. 46 ff. – Pringle; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung , 52. Ergänzungslieferung (Stand: Januar 2014), Art. 3 AEUV Rdnr. 16 f. 43 BVerfGE 123, 267, 417 – Lissabon. 44 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011 Art. 3 AEUV Rdnr. 14 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 14 Diese Regelung wird ergänzt durch Art. 216 Abs. 1 AEUV, der jedoch etwas anders formuliert ist: „Die Union kann mit einem oder mehreren Drittländern oder einer oder mehreren internationalen Organisationen eine Übereinkunft schließen, wenn dies in den Verträgen vorgesehen ist oder wenn der Abschluss einer Übereinkunft im Rahmen der Politik der Union entweder zur Verwirklichung eines der in den Verträgen festgesetzten Ziele erforderlich oder in einem verbindlichen Rechtsakt der Union vorgesehen ist oder aber gemeinsame Vorschriften beeinträchtigen oder deren Anwendungsbereich ändern könnte.“ Diese Vorschriften sind durch die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe recht unklar gefasst. Ihr Wortlaut geht zurück auf die Rechtsprechung des EuGH zu den internationalen Übereinkünften der Union (insbesondere die sogenannte AETR-Rechtsprechung45), die ihrerseits in der Vergangenheit nicht immer einheitlich war.46 In der Vergangenheit hat die EU außerhalb eindeutiger Vertragsabschlusskompetenzen häufig die sonstigen Kompetenztitel des Art. 216 Abs. 1 AEUV nicht in Anspruch genommen. Jedenfalls bei wichtigen internationalen Abkommen hat sie daher nicht auf einen alleinigen Vertragsabschluss , d.h. ohne die Einbeziehung der Mitgliedstaaten, bestanden, sondern es wurden so genannte gemischte Abkommen abgeschlossen, bei denen die Mitgliedstaaten neben der Union und dem Drittstaat Vertragspartner wurden.47 War dies der Fall, so musste, wenn die entsprechenden weiteren Voraussetzungen des Grundgesetzes erfüllt waren (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), auch der Bundestag diesen gemischten Abkommen im Rahmen des Ratifikationsverfahrens zustimmen. 3.2. Geteilte Kompetenzen der Union Verfügt die EU in einem Rechtsgebiet „nur“ über die geteilte Zuständigkeit, bedeutet dies, dass die Gesetzgebungskompetenz den Mitgliedstaaten und der EU grundsätzlich gleichermaßen zukommt. Ein Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten und damit ein Entscheidungsverlust der nationalen Parlamente tritt nur dann ein, wenn und soweit die Union regelnd tätig wird (Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 AEUV). Nimmt die EU diese Kompetenz durch den Erlass von Rechtsakten in Anspruch, ist es den Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen jedoch gestattet, darüber hinausgehende Regelungen, insbesondere zur Verstärkung von Schutzstandards zu erlassen. Allerdings ist es den Mitgliedstaaten untersagt, sich mit diesen Regelungen in Widerspruch zu dem Unionsrecht zu setzen (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV). Die Ausübung der geteilten Kompetenzen der EU wird allerdings durch das Subsidiaritätsprinzip eingeschränkt. Danach darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen 45 EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263 - AETR; danach: EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76, Slg. 1976, 1279 - Kramer; EuGH Gutachten 1/76, Slg. 1977, 741 - Stillegungsfonds; EuGH Gutachten 1/94, Slg. 1994, I-5267 – WTO. 46 Vgl. dazu Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 216 AEUV, Rdnr. 10 f. m.w.N. 47 So wurden z.B. fast alle derzeit geltenden Assoziierungsabkommen und Freihandelsabkommen der Union in Form von gemischten Abkommen geschlossen. Vgl. Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 216 AEUV, Rdnr. 5; Art. 217 AEUV Rdnr. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 15 von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Art. 5 Abs. 3 EUV). Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind beauftragt, über die Einhaltung dieses Prinzips zu wachen.48 Allerdings ist die Auslegung der verschiedenen unbestimmten Rechtsbegriffe (nicht „ausreichend verwirklicht“, „besser“) im Einzelfall nicht immer ganz einfach.49 Schließlich ist auch in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten alle zur Durchführung der Rechtsakte der EU erforderlichen Maßnahmen treffen (Art. 291 Abs. 1 AEUV). Bedarf es zu einer solchen Durchführung noch eines Umsetzungsrechtsakts, verbleibt es in diesem Rahmen bei einer entsprechenden Umsetzungs- und damit Entscheidungskompetenz des Bundestages (Umsetzungsspielraum).50 Innerhalb des Katalogs der geteilten Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 AEUV) ist zwischen den folgenden zwei Kompetenzbereichen zu unterscheiden: Der erste Kompetenzbereich entsteht erst im Kontext eines Staatenverbunds (supranationale Kompetenzbereiche, z.B. Binnenmarkt, transeuropäische Netze). Diese Politikfelder können nur durch Zusammenwirken mit anderen Staaten in völkerrechtlichen Verträgen geregelt werden. Daher gehen dem Bundestag in diesem Bereich keine originären Gesetzgebungskompetenzen , sondern allenfalls die Zustimmungsrechte zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG verloren (dazu unten Ziff. 3.2.1.). Der zweite Bereich erfasst demgegenüber Kompetenzbereiche, die vor der Übertragung dieser geteilten Kompetenz auf die EU in der Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten und daher in Deutschland in der des Bundestages lagen (allgemeine Kompetenzbereiche, dazu unten Ziff. 3.2.2.). Zur so genannten parallelen Zuständigkeit gehören Maßnahmen in den Bereichen Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt einerseits und Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe andererseits (Art. 4 Abs. 3, 4 AEUV). Die EU nimmt in diesen Bereichen insbesondere koordinierende Aufgaben wahr und hindert dadurch die Mitgliedstaaten nicht daran, ihrerseits Regelung auf diesen Gebieten zu treffen, soweit diese den Maßnahmen der EU nicht widersprechen .51 Folglich ergibt sich in diesen Bereichen kein Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten 48 Art. 12 b) EUV i.V.m. dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon). Vgl. dazu Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 51. Ergänzungslieferung (Stand: September 2013), Art. 12 EUV Rdnr. 40 ff.; Bickenbach, Das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EUV und seine Kontrolle, EuR 2013, 523. 49 Siehe dazu etwa die Ausführungen zur Auslegung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bei Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 5 EUV Rdnr. 27 ff. 50 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 291 AEUV Rdnr. 4. 51 Siehe dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 52. Ergänzungslieferung (Stand: Januar 2014), Art. 4 AEUV Rdnr. 26. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 16 und damit auch kein Verlust der Gesetzgebungs- oder sonstigen Entscheidungskompetenzen des Bundestages. 3.2.1. Supranationale Kompetenzbereiche Binnenmarkt (Art. 4 Abs. 2 a) i.V.m. Art. 26 Abs. 1 AEUV) Der Binnenmarkt umfasst „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Diese Definition nimmt daher Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV), die Freizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) sowie die Kapitalund Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV). Nimmt die EU diese Kompetenzen wahr, was sie in großem Umfange bereits getan hat, sind diese Bereiche den Gesetzgebungskompetenzen des Bundestages entzogen. Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt (Art. 4 Abs. 2 c) i.V.m. Art. 174 ff. AEUV) Dieser Politikbereich zur Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts wurde erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und damit verhältnismäßig spät in die Europäischen Verträge aufgenommen.52 Allerdings wird die Zuordnung dieses Politikbereichs zur geteilten Zuständigkeit kritisiert, da die Regelungen lediglich Fördermaßnahmen im Rahmen der Struktur- und Regionalpolitik vorsehen (Art. 174 ff. AEUV). Ein besserer Standort seien die ergänzenden Maßnahmen nach Art. 6 AEUV gewesen.53 Transeuropäische Netze (Art. 4 Abs. 2 h) i.V.m. Art. 170 ff. AEUV) Die Kompetenz der EU im Bereich transeuropäischer Netze umfasst den Auf- und Ausbau der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur (Art. 170 Abs. 1 AEUV). Zu deren Wahrnehmung stehen der EU die in Art. 171 AEUV genannten Instrumente zur Verfügung: Der Erlass von Leitlinien, die Durchführung von Aktionen und Unterstützungsmaßnahmen (Abs. 1), die Förderung der Koordinierung der einzelstaatlichen Politiken der Mitgliedstaaten (Abs. 2) durch unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen sowie die Zusammenarbeit mit dritten Ländern (Abs. 3). Gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinsichtlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte (Art. 4 Abs. 2 k) i.V.m. Art. 168 Abs. 4 AEUV) Diese geteilte Zuständigkeit besteht nur in Bezug auf die „gemeinsamen Sicherheitsanliegen“ im Bereich der öffentlichen Gesundheit.54 Die sonstigen Kompetenzen der EU im Bereich des Gesundheitswesens (Art. 168 Abs. 1 – 3 AEUV) gehören zu den Unterstützungs-, Koordinierungs - und Ergänzungsmaßnahmen der EU (Art. 6 AEUV). Im Rahmen der gemeinsamen 52 Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 174 AEUV Rdnr. 1. 53 Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU- Konvents, EuR 2004, 216, 223. 54 Daneben gilt auch noch die Unterstützungskompetenz nach Art. 6 S. 2 a) AEUV. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 17 Sicherheitsanliegen kann die EU die in Art.168 Abs. 4 AEUV im einzelnen festgelegten Maßnahmen erlassen. 3.2.2. Allgemeine Kompetenzbereiche Sozialpolitik (Art. 4 Abs. 2 b) i.V.m. Art. 153 AEUV) Dieser Bereich wird von der geteilten Kompetenz der EU nicht vollumfänglich erfasst. Art. 153 Abs. 1 AEUV nennt die sozial- und arbeitspolitischen Bereiche, in denen die EU die Tätigkeit der Mitgliedstaaten lediglich unterstützt und ergänzt. Folglich sind die Mitgliedstaaten in diesem Bereich primär zuständig.55 Art. 153 Abs. 2 b) AEUV sieht zudem nur den Erlass von Mindestvorschriften vor. Damit bleibt es den Mitgliedstaaten unbenommen, strengere Regeln aufzustellen, solange diese mit Unionsrecht vereinbar sind (Art. 153 Abs. 4 2. Spiegelstrich AEUV). Schließlich sind die Bereiche Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht, Streikrecht und Aussperrungsrecht von der Vorschrift ausgenommen (Art. 153 Abs. 5 AEUV). Die umfangreichste Gesetzgebungstätigkeit hat die EU bislang auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes entfaltet.56 Einen bedeutsamen Einfluss auf das nationale Arbeitsrecht haben zudem Regelungen der EU, die sich auf Arbeitsbedingungen beziehen.57 Landwirtschaft und Fischerei (Art. 4 Abs. 2 d) i.V.m. Art. 43 AEUV) Im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik ist die EU umfassend zuständig und kann grundsätzlich jede agrarpolitisch bedeutsame Frage regeln.58 Allerdings hat die EU den Mitgliedstaaten in der Vergangenheit ausdrücklich weitgehende Spielräume bei der Regelung ihrer Agrarpolitik eingeräumt.59 Umwelt (Art. 4 Abs. 2e) i.V.m. Art. 192 AEUV) Im Umweltbereich ist die EU umfangreich tätig geworden.60 Es ist allerdings ausdrücklich vorgesehen , dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich verstärkte Schutzmaßnahmen, d.h. weiterführende Gesetze, beibehalten oder ergreifen können, soweit diese mit Europarecht vereinbar sind (Art. 193 AEUV). In diesem Rahmen bestehen die Gesetzgebungskompetenzen des Bundestages somit auch dann weiter, wenn die EU von dieser geteilten Kompetenz Gebrauch macht. 55 Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 153 AEUV Rdnr. 3. 56 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 43. Ergänzungslieferung (Stand: März 2011), Art. 153 AEUV Rdnr. 14. 57 Benecke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 43. Ergänzungslieferung (Stand: März 2011), Art. 153 AEUV Rdnr. 42. 58 von Rintelen, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 42. Ergänzungslieferung (Stand: September 2010), Art. 43 AEUV Rdnr. 47. 59 Entsprechende Beispiele finden sich bei von Rintelen, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 42. Ergänzungslieferung (Stand: September 2010), Art. 43 AEUV Rdnr. 61. 60 Überblick bei Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 192 AEUV Rdnr. 5 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 18 Verbraucherschutz (Art. 4 Abs. 2 f) i.V.m. Art. 169 AEUV) Die Kompetenzen der EU erstrecken sich hier auf den Schutz der Gesundheit der Verbraucher, ihre Sicherheit, den Schutz ihrer wirtschaftlichen Interessen und die Förderung ihres Rechts auf Information, Erziehung, Information und Bildung von Verbrauchervereinigungen (Art. 169 Abs. 1 AEUV). Insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher, die auch den zivilrechtlichen Verbraucherschutz umfassen,61 ist die EU umfassend tätig geworden .62 Die Mitgliedstaaten sind allerdings nicht daran gehindert, strengere Schutzmaßnahmen, d.h. solche mit einem höheren Verbraucherschutzniveau, beizubehalten oder zu ergreifen (Art. 169 Abs. 4 S. 1 AEUV).63 Verkehr (Art. 4 Abs. 2 g) i.V.m. Art. 91 AEUV): Im Bereich der Gemeinsamen Verkehrspolitik kann die EU eine Reihe spezifischer Regelungen erlassen (Art. 91 Abs. 1 a) bis c) AEUV). Darüber hinaus gestattet die Generalklausel des Art. 91 Abs. 1 d) AEUV der EU auch den Erlass von „allen sonstigen zweckdienlichen Maßnahmen“. „Zweckdienlich“ ist eine Vorschrift, wenn sie geeignet ist, die „Ziele der Verträge im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik“ (Art. 90 AEUV) zu erreichen. Auf dieser Basis kommt der EU hier eine weitreichende Rechtsetzungsbefugnis zu.64 Dennoch wurde in der Vergangenheit insbesondere im Hinblick auf Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit (Art. 91 Abs. 1 c) AEUV), etwa bei der Festlegung der maximal zulässigen Blutalkoholkonzentration von Kfz-Fahrern, an dem Subsidiaritätsgrundsatz festgehalten.65 Folglich ist dieser spezifische Kompetenzbereich (Verbesserung der Verkehrssicherheit) bisher bei den Mitgliedstaaten verblieben. Energie (Art. 4 Abs. 2 i) i.V.m. Art. 194 AEUV) Dieser Kompetenzbereich ist durch den Vertrag von Lissabon (2009) in die europäischen Verträge aufgenommen worden.66 Seitdem formulieren die europäischen Verträge zunächst vier energiepolitische Ziele der EU. Dazu gehören (a) die Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarktes, (b) die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, (c) die Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen sowie (d) die Förderung der Interkonnektion der Energienetze 61 Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 43. Ergänzungslieferung (Stand: September 2010), 43. Ergänzungslieferung 2014, Art. 169 AEUV Rdnr. 11. 62 Überblick bei Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2011), Art. 169 AEUV Rdnr. 14. 63 Soweit Verbraucherschutzregelungen der EU allerdings vorranging der Harmonisierung des Binnenmarktes dienen (Art. 114 AEUV), ist es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, weitergehende Regelungen zu erlassen. Siehe dazu Pfeiffer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2011), Art. 169 AEUV Rdnr. 41 m.w.N. 64 Boeing/Kotthaus/Rusche, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: April 2012), Art. 91 AEUV Rdnr. 29 m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH. 65 Boeing/Kotthaus/Rusche, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: April 2012), Art. 91 AEUV Rdnr. 25. 66 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 44. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2011), Art. 194 AEUV Rdnr. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 19 (Art. 194 Abs. 1 AEUV). Die EU ist ermächtigt, die erforderlichen Maßnahmen zu erlassen, um diese Ziele zu erreichen (Art. 194 Abs. 2 AEUV). Die Bestimmungen wahren jedoch ausdrücklich das Recht der Mitgliedstaaten, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen (Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV).67 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 4 Abs. 2 j) i.V.m. Art. 78, 79, 81, 81, 87, 89 AEUV) Dieser Kompetenzbereich wurde mit dem Vertrag von Lissabon (2009) neu geordnet. Diese zuvor zur so genannten Dritten Säule gehörenden, teilweise auch als intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten verstandenen Rechtsbereiche wurden nunmehr eindeutig der (geteilten) Kompetenz der Europäischen Union zugeordnet.68 Die EU besitzt daher verschiedene Kompetenzen auf dem Gebiet der Asyl- und Einwanderungspolitik (Art. 78, 79 AEUV), der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen (Art. 81, 82 AEUV), der polizeilichen Zusammenarbeit und der grenzüberschreitenden Behördentätigkeit (Art. 87, 89 AEUV). 3.3. Weitergehende Kompetenzen der EU (Flexibilitätsklausel) Außerhalb der geschriebenen Kompetenzen ist die EU dann befugt, Regelungen zu erlassen, wenn diese erforderlich sind, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen (so genannte Flexibilitätsklausel , Art. 352 AEUV). Die Vorschrift stellt eine „Lockerung, keine Durchbrechung“ 69 des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) dar. Mit ihr wird nicht die Kompetenz der EU begründet, sich selbständig weitere Kompetenzbereiche zu erschließen (keine Kompetenz-Kompetenz), sondern sie soll mögliche Lücken schließen, die sich dann ergeben können, wenn der EU zwar bestimmte Ziele aufgegeben worden sind, aber entsprechenden Regelungsermächtigungen fehlen. Die Flexibilitätsklausel ist damit Ausdruck der Unmöglichkeit, alle denkbaren Regelungskonstellationen in den europäischen Verträgen zu erfassen.70 Eine Übersicht, in welchen Politikbereichen die EU in der Vergangenheit Rechtsakte auf diese Kompetenz gestützt hat, kann der Kommentierung von Winkler71 entnommen werden. 67 Auch Erklärung Nr. 35 zu Art. 194 AEUV sieht einen mitgliedstaatlichen Entscheidungsspielraum vor. Hiernach lässt Art. 194 AEUV das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, Bestimmungen zu erlassen, die für die Gewährleistung ihrer Energieversorgung unter den Bedingungen eines Krisenfalls im Sinne von Art. 347 AEUV erforderlich sind. 68 Siehe dazu ausführlich: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung , 52. Ergänzungslieferung (Stand: Januar 2014), Art. 4 AEUV Rdnr. 21 ff. 69 Winkler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 46. Ergänzungslieferung 2014 (Stand: Oktober 2011), Art. 352 AEUV Rdnr. 14; ebenso Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 352 AEUV Rdnr. 12. 70 Winkler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. Ergänzungslieferung 2014, Art. 352 AEUV Rdnr. 14. 71 Winkler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 53. Ergänzungslieferung 2014, Art. 352 AEUV Rdnr. 119 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 20 4. Völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland Schließlich verliert der Bundestag auch dann Entscheidungsrechte, wenn sich die Bunderepublik in völkerrechtlichen Verträgen verpflichtet, bestimmte nationale Regelungen zu erlassen, zu unterlassen oder aufzuheben. Aufgrund dieser völkerrechtlichen Bindungen wird der Entscheidungsspielraum des Bundestages als Gesetzgeber entsprechend eingeschränkt. Allerdings muss der Bundestag in diesen Fällen, d.h. wenn sich der völkerrechtliche Vertrag auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, dem Vertrag zustimmen (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Stimmt der Bundestag zu, trifft er somit selbst die Entscheidung über die Einschränkung seines Gesetzgebungsspielraumes. Zu diesen Fällen gehören auch die intergouvernementalen Verträge, die in den letzten Jahren zur Abwendung der Finanzkrise zwischen den bzw. einigen Mitgliedstaaten der EU abgeschlossen wurden, wie z.B. der Fiskalvertrag72 oder der ESM-Vertrag73. Daneben verstärkt auch die Globalisierung die Notwendigkeit einer stärkeren internationalen Verflechtung Deutschlands mit anderen Staaten und internationalen Organisationen durch völkerrechtliche Verträge. In ihrer Tendenz verstärkt diese Entwicklung den Verlust von Entscheidungskompetenzen des Bundestages. Sowohl die Beziehungen zu anderen Staaten als auch die Mitarbeit in internationalen Organisationen werden in erster Linie von der Bundesregierung und nicht vom Bundestag wahrgenommen.74 Auch wenn diese völkerrechtliche Verflechtung Deutschlands fortschreitet, hat der Bundestag, wenn die entsprechenden Verträge einmal abgeschlossen sind, nur wenige Möglichkeiten, diese Tendenz abzuwenden. Er ist insbesondere nicht berechtigt, die Regierung etwa in einem Mandatsgesetz anzuweisen, einen bestehenden völkerrechtlichen Vertrag zu kündigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Zustimmungspflicht des Bundestages zu völkerrechtlichen Verträgen als Durchbrechung des außenpolitischen Primats der Bundesregierung eng auszulegen.75 Das Grundgesetz gibt dem Bundestag bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 GG somit nur ein Zustimmungs- bzw. Ablehnungsrecht, weitergehende Rechte des Bundestages bestehen bei völkerrechtlichen Verträgen nicht. Damit wäre sowohl ein Gesetz, das der Bundesregierung aufgibt, einen völkerrechtlichen Vertrag zu kündigen oder das die zunächst erteilte Zustimmung widerruft, verfassungswidrig. Die völkerrechtlichen Verträge, die die Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen hat, können dem jeweils aktuellen Fundstellennachweis B des Bundesgesetzblattes Teil II entnommen werden.76 Diese Auflistung ist nach Auskunft der zuständigen Mitarbeiterinnen der Bundesregierung für 72 Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BGBl. 2012 II, 1006. Allerdings wird in Bezug auf den Fiskalvertrag überzeugend vertreten, dass mit diesem Vertrag keine weiteren Hoheitsrechte auf die EU übertragen wurden; vgl. Hölscheidt/Rohleder, Vom Anfang und Ende des Fiskalvertrags, DVBl 2012, 806, 807 ff. 73 Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, BGBl. 2012 II, 981. 74 Puttler, Globalisierung als Topos, in: Isensee/Kirchhof, HStR XI, 2013, § 234, Rdnr. 29. 75 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 351, 369 – Petersberger Abkommen; aus der neueren Rechtsprechung stärker differenzierend, aber im Ergebnis ebenso: BVerfGE 131, 152, 195 f. – parlamentarische Informationsrechte. 76 http://www.bgbl.de/banzxaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=FNB_2013.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 268/14 Seite 21 diesen Fundstellennachweis B jedoch nicht vollständig. Die genaue Anzahl der völkerrechtlichen Verträge Deutschlands konnten auch diese Mitarbeiterinnen der Bundesregierung nicht angeben. Ein Blick in den Fundstellennachweis B vermittelt jedoch einen Eindruck, in welchem erheblichen Umfang Deutschland völkerrechtliche Verträge eingegangen ist, auch wenn es sich dabei nicht nur um Verträge handelt, die sich auf Gesetzgebungskompetenzen beziehen. Vor diesem Hintergrund ist es den Wissenschaftlichen Diensten nicht möglich, die Vertragsmaterien aufzulisten, die die Entscheidungskompetenzen des Bundestages völkerrechtlich begrenzen.