© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 266/20 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Verbandssanktionengesetzes Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 2 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Verbandssanktionengesetzes Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 266/20 Abschluss der Arbeit: 9. Dezember 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Vereinbarkeit des VerSanG-RegE mit dem Grundrecht der Anteilseigner 4 3. Verbot der strafrechtlichen Verantwortung für die Schuld anderer 6 4. Gleichheitsgrundsatz 7 5. Übermaßverbot 8 6. Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung beschäftigt sich mit dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, insbesondere mit dem darin enthaltenen Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG) (im Folgenden VerSanG- RegE). Im Einzelnen wurden folgende Fragen gestellt: – Ist die nach dem VerSanG-RegE vorgesehene Sanktionierung von Verbänden mit den Grundrechten der Anteilseigner der Verbände vereinbar? – Ist die nach dem VerSanG-RegE vorgesehene Sanktionierung von Verbänden mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der strafrechtlichen Verantwortung für die Schuld anderer vereinbar? – Ist es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar, dass der VerSanG-RegE einerseits schuldlose Manager und Aufsichtsratsmitglieder und andererseits Verbände, soweit sie hoheitlich handeln , sowie Bund und Länder von der Sanktionierung ausnimmt? – Verstößt § 9 Abs. 2 VerSanG-RegE, insbesondere die Berechnung des Strafrahmens auf der Grundlage des Umsatzes der gesamten „wirtschaftlichen Einheit“, zu der der Verband gehört, gegen die Grundrechte des Verbandes und seiner Anteilseigner, insbesondere das Übermaßverbot ? – Verstößt der VerSanG-RegE gegen das Rechtsstaatlichkeitsgebot, insbesondere das Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung und der Freiheit der Entscheidung, mit Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren? 2. Vereinbarkeit des VerSanG-RegE mit dem Grundrecht der Anteilseigner Durch das VerSanG-RegE soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei Straftaten, die aus Verbänden (juristische Personen und Personenvereinigungen) heraus begangen werden, insbesondere eine Verbandsgeldsanktion zu verhängen. Die Verbandssanktion richtet sich unmittelbar gegen den Verband, wodurch das Vermögen des Verbandes gemindert werden kann. Die Anteilseigner sind von der Verbandssanktion nicht unmittelbar betroffen. Sie sind davon lediglich mittelbar betroffen, wenn durch die Verbandssanktion der Wert des Verbandes und damit der Wert ihrer Anteile sinkt. Dadurch könnte auch das Grundrecht der Anteilseigner aus Art. 14 Grundgesetz (GG) betroffen sein. Zu prüfen ist daher, ob das VerSanG-RegE in verfassungswidriger Weise in das Grundrecht der Anteilseigner aus Art. 14 GG eingreift. Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet das Eigentum. Dazu gehört auch das z. B. in der Aktie verkörperte Anteilseigentum, das im Rahmen seiner gesellschaftsrechtlichen Ausgestaltung durch Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis gekennzeichnet ist. Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst die Substanz dieses Anteilseigentums in seiner mitgliedschaftsrechtlichen und vermögensrechtlichen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 5 Ausgestaltung.1 Nur die vermögenswerte Rechtsposition ist durch die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG geschützt, nicht aber das Vermögen des Einzelnen als seine gesamte wirtschaftliche Potenz.2 Grundsätzlich nicht geschützt sind daher der bloße Vermögenswert des Anteilseigentums und der Bestand einzelner wertbildender Faktoren.3 Daher umfasst der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums grundsätzlich nicht den wertbildenden Effekt marktregulierender und unternehmensbezogener Vorschriften.4 Es ist daher bereits fraglich, ob durch das VerSanG-RegE der Schutzbereich des Art. 14 GG in Bezug auf die Anteilseigner berührt ist. Der Schutzbereich ist nur dann betroffen, wenn die Auswirkungen der Verbandssanktionen eine substanzielle Beeinträchtigung der Anteile darstellen würden, die über normale Kursverluste hinausgehen. Soweit der Schutzbereich eröffnet ist, könnte ein Eingriff vorliegen, wenn eine durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Rechtsposition entzogen oder ihre Nutzung, ihre Verfügung oder ihre Verwertung durch eine imperative Regelung oder durch eine mittelbare oder faktische Einwirkung beeinträchtigt wird.5 Da aber das Vermögen als solches nicht geschützt ist, stellen Regelungen, die nicht auf den Bestand einer einzelnen Rechtsposition einwirken, sondern den Tauschwert beeinflussen, keinen Eingriff in die Eigentumsgarantie dar. Kurs- und Wertverluste bewirken daher, auch wenn sie staatlichem Handeln (zumindest mittelbar) zurechenbar sind, keinen Eingriff in die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie .6 Durch das Verbandssanktionengesetz könnte bei den Anteilseignern lediglich eine Minderung des Wertes der Anteile eintreten, der weder den Bestand, die Nutzung noch die generelle Verfügung über die Anteile beeinträchtigt. Es realisiert sich lediglich das Risiko eines Wertverlustes, das bei Anteilseigentum von Kapitalgesellschaften üblich ist, von den Anteilseigner bewusst eingegangen wird und daher hingenommen werden muss. Wertverluste durch staatliche Eingriffe, wie Steuern, Abgaben oder Sanktionen für rechtswidriges Verhalten der Leitungspersonen (z. B. nach § 30 OWiG), gehören zum Risiko des Anteilseigentums.7 1 BVerfG, Urteil vom 11.07.2012, 1 BvR 3142/07, Rn. 52. 2 Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 91. EL April 2020, Art. 14, Rn. 277. 3 Papier/Shirvani (Fn. 2), Rn. 310. 4 BVerfG (Fn. 1), Rn. 53. 5 Jarass, in: Jarass/Pieroth Grundgesetz, 15. Auflage, Art. 14, Rn. 24 f.; Manssen, Staatsrecht II, Grundrechte, 9. Auflage 2012, Rn. 137 ff. 6 BVerfG, Beschluss vom 05.02.2002, 2 BvR 305/93, Rn. 44. 7 Vgl. zum allgemeinen Risiko der Wertentwicklung von Aktien, OLG Frankfurt, Beschluss vom 15.02.2010, 5 W 52/09, Rn. 69. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 6 Ein Eingriff in die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter der Anteilseigner ist mit einer Verbandssanktion daher nicht verbunden. Aber auch ein Eingriff wäre als Inhalts- und Schrankenbestimmung gerechtfertigt, da das Privateigentum unter dem Vorbehalt des Sozialgebotes von Art. 14 Abs. 2 GG steht. Durch das VerSanG-RegE wird jedenfalls nicht in den notwendigen Kern der privatnützigen Vermögens- und Verwaltungsrechte an der Gesellschaft eingegriffen, da bei der Bemessung der Verbandssanktion die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes berücksichtigt werden müssen (§ 15 Abs. 2 VerSanG-RegE) und damit der Bestand des Verbandes und des Anteilseigentums gewahrt ist. 3. Verbot der strafrechtlichen Verantwortung für die Schuld anderer Verbände als juristische Personen können nicht selbst handeln, sondern nur durch Vertreter bzw. vertretungsberechtigte Organe. Die Verbandssanktion trifft allerdings die juristische Person direkt und in ihren wirtschaftlichen Folgen auch die Anteilseigner, die auf das Handeln der Organe und Vertreter unter Umständen keinen Einfluss haben. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob das mit dem Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ vereinbar ist. Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, sodass die Kategorien der Schuld und der Strafe mit dem Menschsein und der Menschenwürde untrennbar verbunden sind.8 Dieser Grundsatz ist daher nur eingeschränkt auf juristische Personen übertragbar. Die Sanktionierung juristischer Personen ist dem geltenden deutschen Rechtssystem nicht fremd.9 Die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist also nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das Rechtssubjekt eine juristische Person ist. Die juristische Person ist als solche zwar nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln in Anspruch genommen, so ist die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend .10 Das normwidrige Organ- oder Vertreterverhalten wird dem Verband als eigenes rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten zugerechnet. Für den Verband ist die Bezugstat stets dann vermeidbar, wenn sie für das Organ oder den Vertreter vermeidbar war.11 Eine vergleichbare Konstruktion enthält § 30 OWiG, gegen den keine verfassungsrechtlichen Bedenken aus dem auch für Ordnungswidrigkeiten geltenden Grundsatz „nulla poena sine culpa“ bestehen, da an ein schuldhaftes bzw. vorwerfbares Handeln einer für die juristische Person oder Personenvereinigung tätig werdenden Leitungsperson angeknüpft wird.12 8 BVerfG, Urteil vom 30.06.2009, 2 BvE 2/08, Rn. 364; Bottmann, in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 5. Auflage 2019, Kap. 2.1. Criminal-Compliance, Rn. 82. 9 Siehe § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz. 10 BVerfG, Beschluss vom 25.10.1966, 2 BvR 506/60, Rn. 46 ff. 11 Rogall, in: Mitsch (Hrsg.) Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 30, Rn. 8 ff. 12 Meyberg, in: Graf BeckOK OWiG, 28. Edition Stand 01.10.2020, § 30 Rn, 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 7 Die Verbandsanktion nach dem VerSanG richtet sich gegen den Verband für ein eigenes Verschulden . Die Anteilseigner werden nicht für fremdes Verschulden bestraft. Die Auswirkungen auf die Anteilseigner sind nur wirtschaftlicher Natur und stellen keine Sanktionierung der Anteilseigner dar. Die Auswirkungen liegen im Rahmen des Anlagerisikos. Ein Verstoß gegen den Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ ist dadurch nicht gegeben. 4. Gleichheitsgrundsatz Es wurde die Frage aufgeworfen, ob es mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei, dass der Ver- SanG-RegE einerseits schuldlose Manager und Aufsichtsratsmitglieder sowie andererseits Verbände, soweit sie hoheitlich handeln, von der Sanktionierung ausnimmt. Der Gleichheitsgrundsatz verlangt, Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln.13 Der Gesetzgeber verletzt den Gleichheitssatz, wenn er eine Gruppe anders behandelt als eine andere, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vorliegen, die die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. In gleicher Weise kann der Gleichheitssatz verletzt sein, wenn für die gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte – bezogen auf den in Rede stehenden Sachbereich und seine Eigenart – ein vernünftiger, einleuchtender Grund fehlt.14 Es ist daher zu prüfen, ob eine Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen vorliegt, obwohl vergleichbare Sachverhalte gegeben sind oder eine Gleichbehandlung bei unterschiedlichen Sachverhalten vorliegt. Zu betrachten sind dabei zunächst der Verband an sich, die schuldhaft handelnden Organe bzw. Vertreter, die Organe bzw. Vertreter, denen kein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, sowie die Anteilseigner. Der Verband wird durch die Verbandssanktion nach dem VerSanG-RegE wegen zugerechnetem, eigenem Verschulden direkt sanktioniert. Daneben können die schuldhaft handelnden natürlichen Personen strafrechtlich oder ordnungswidrigkeitsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Dagegen werden Leitungspersonen und Aufsichtsratsmitglieder, denen kein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, nicht sanktioniert. Wie bereits dargelegt, werden auch die Anteilseigner nicht sanktioniert, da sich durch eine Verbandssanktion lediglich ein allgemeines wirtschaftliches Anlagerisiko realisiert. Der Verband und die schuldhaft handelnden natürlichen Personen erfahren daher eine andere Behandlung als schuldlose Leitungspersonen und Anteilseigner. Die der Ungleichbehandlung zugrunde liegende Sachverhalte sind aber nicht vergleichbar, da dem Verband und den handelnden natürlichen Personen ein Verschulden vorgehalten werden kann. Es liegt daher kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor. 13 BVerfG, Urteil vom 16.03.2004, 1 BvR 1778/01, Rn. 92. 14 BVerfG, Beschluss vom 10.03.2008, 1 BvR 1243/04, Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 8 Nach § 5 Nr. 3 VerSanG-RegE ist eine Verbandssanktion ausgeschlossen, wenn eine Verbandstat in Vornahme hoheitlichen Handelns begangen wird. Verbände, die hoheitlich handeln, werden dadurch anders behandelt als Verbände, die nicht hoheitlich handeln. Es ist bereits fraglich, ob die zugrunde liegenden Sachverhalte vergleichbar sind. Die Verbandssanktion soll durch abschreckende Sanktionen präventiv auf Verbände einwirken, sodass Wirtschaftskriminalität wirksam bekämpft werden kann.15 Hoheitliches Handeln ist aber mit wirtschaftlichem Handeln nicht vergleichbar.16 Zumindest dürfte eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein, da sich aus der Natur des Sanktionsrechts ergibt, dass eine Selbstbebußung des Staates nicht in Betracht kommt.17 5. Übermaßverbot Nach § 9 Abs. 2 VerSanG-RegE soll sich die Verbandsgeldsanktion nach dem durchschnittlichen Jahresumsatz bemessen. Dabei ist der weltweite Umsatz aller natürlichen Personen und Verbände zugrunde zu legen, soweit diese Personen und Verbände mit dem Verband als wirtschaftliche Einheit operieren. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob das Abstellen auf den Umsatz der wirtschaftlichen Einheit gegen das Übermaßverbot verstößt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auch Übermaßverbot, gebunden.18 Das Abstellen auf den Umsatz der wirtschaftlichen Einheit ist verhältnismäßig, wenn ein legitimer Zweck verfolgt wird und die Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind. Der Gesetzgeber hat hinsichtlich des verfolgten Zwecks einen Beurteilungsspielraum, den er nur dann überschreitet, wenn seine Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können. Dies gilt entsprechend für die Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele.19 Der Zweck des Verbandssanktionengesetzes liegt in der wirksamen Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität . Das Abstellen auf den Umsatz dient dazu, die präventive Wirkung am besten zu entfalten und eine Belastungsgleichheit auch für große Unternehmen und multinationale Konzerne herzustellen.20 Die Betrachtung der wirtschaftlichen Einheit soll dem Grundgedanken entsprechen, dass die Ahndung auch in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen soll. 15 Gesetzesbegründung, Bundestag-Drucksache 19/23568, S. 43 16 Vgl. Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 71. EL August 2020, AEUV Art. 101, Rn. 70. 17 Rogall (Fn. 11), § 30, Rn. 37; Gesetzesbegründung (Fn. 15), S. 68. 18 Ipsen, Staatsrecht II Grundrechte, 21. Auflage 2018, Rn. 182. 19 BVerfG, Beschluss vom 06.10.1987, 1 BvR 1086/82, Rn. 75. 20 Gesetzesbegründung (Fn. 15), S. 46 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 9 Die Ahndungsempfindlichkeit und der daraus resultierende Abschreckungseffekt ergeben sich nicht aus den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verbandes, sondern aus denjenigen der maßgeblichen wirtschaftlichen Einheit. Zudem soll diese Bezugsgröße sicherstellen, dass keine von der Vermeidung von Sanktionen motivierten Vermögensverschiebungen innerhalb des Konzerns erfolgen.21 Die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität stellt einen legitimen Zweck dar, der den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers nicht überschreitet. Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erforderlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.22 Durch das Abstellen auf die wirtschaftliche Einheit besteht für Verbände die Gefahr einer höheren Sanktion. Durch das Abstellen auf die wirtschaftliche Einheit haben konzerninterne Vermögensverschiebungen keine Auswirkungen auf die Sanktionshöhe, wodurch eine Umgehung der Sanktion erschwert wird. Der Gesetzgeber geht dadurch von einer höheren Präventivwirkung aus. Diese Annahme steht nicht offensichtlich im Widerspruch zu den angestrebten Gesetzeszielen und bewegt sich im Rahmen des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums. Das Abstellen auf die wirtschaftliche Einheit ist daher geeignet, die verfolgten Ziele zu erreichen. Die Erforderlichkeit beinhaltet das Gebot, dass der Staat aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel wählt.23 Als milderes Mittel käme eine Betrachtung des jeweiligen Einzelunternehmens in Frage. Dieses wäre aber nicht gleich geeignet. Die Ahndungsempfindlichkeit und der sich hieraus ergebende Abschreckungseffekt bestimmen sich nämlich nicht nach den wirtschaftlichen Daten der juristischen Person, für die gehandelt wurde, sondern nach denjenigen des Gesamtunternehmens. Im Übrigen kann nur so wirksam Vermögensverschiebungen innerhalb des Gesamtkonzerns entgegengewirkt werden.24 Das Abstellen auf die wirtschaftliche Einheit ist daher auch erforderlich. Die Maßnahme muss zudem angemessen sein, d. h. sie darf nicht außer Verhältnis zum Zweck bzw. Ziel der Maßnahme stehen. Die Unverhältnismäßigkeit erfordert eine gewisse Evidenz. Dabei ist auch die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu berücksichtigen.25 Ein Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist daher nur bei deutlicher Unangemessenheit gegeben.26 Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes, insbesondere seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sind gem. § 15 Abs. 2 VerSanG-RegE bei der Bemessung der Verbandsgeldsanktion zu berücksichtigen. Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen gehören alle Umstände, die die Fähigkeit des Verbands, eine bestimmte Geldbuße aufzubringen, beeinflussen. Zu berücksichtigen ist auch, ob die Verbandsgeldsanktion für den Verband zu einer Existenzgefährdung führen kann, ob 21 Gesetzesbegründung (Fn. 15), S. 72. 22 BVerfG, Beschluss vom 10.04.1997, 2 BvL 45/92, Rn. 61. 23 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 91. EL April 2020, Art. 20 Rn. 113. 24 Vgl. BGH Kartellsenat, Beschluss vom 26.02.2013, KRB 20/12, Rn. 70. 25 Ipsen (Fn. 18), Rn. 195. 26 Grzeszick (Fn. 23), Rn. 120. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 10 Arbeitsplätze konkret gefährdet sind oder ein Insolvenzverfahren eingeleitet werden müsste.27 Auch bei der Verhängung einer Verbandssanktion gegen den oder die Rechtsnachfolger müssen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Rechtsvorgängers vor Einleitung der Rechtsnachfolge berücksichtigt werden. Die Verbandsanktion soll die gegenüber dem Rechtsvorgänger nach §§ 9, 15 VerSanG-RegE angemessene Sanktion nicht übersteigen.28 Durch jene Vorschrift soll die Marktmacht und die Leistungsfähigkeit des betreffenden Unternehmens möglichst zutreffend erfasst werden. Stellte man nur auf das betreffende Unternehmen im Sinne einer – natürlichen oder juristischen – Person ab, würde die wirtschaftliche Realität nur bruchstückhaft und unzureichend abgebildet. Ist das Unternehmen Teil eines Konzerns, wächst ihm ein erweiterter Verhaltensspielraum zu. Es ist nicht auf seine eigenen Ressourcen angewiesen, sondern kann auf die Wirtschaftskraft des Gesamtkonzerns zurückgreifen. Es hängt zudem häufig von Zufälligkeiten und von ganz unterschiedlichen Gründen und Motiven der Unternehmensleitung ab, ob ein Geschäftszweig als Teilbetrieb oder als selbständige juristische Person organisiert wird.29 Das VerSanG-RegE enthält daher Regelungen, die bei der Bemessung der Sanktionshöhe eine wirtschaftliche Überforderung des Verbandes als wirtschaftliche Einheit verhindern. Zudem kann von einer Verfolgung nach § 37 VerSanG-RegE abgesehen werden, wenn den Verband durch die Verbandstat Folgen getroffen haben, die so schwer sind, dass die Verhängung einer Sanktion offensichtlich verfehlt wäre. Eine deutliche Unangemessenheit ist daher nicht anzunehmen. Die Bemessung der Verbandssanktion in Bezug auf die wirtschaftliche Einheit ist daher angemessen und verstößt nicht gegen das Übermaßverbot. 6. Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung Nach § 17 VerSanG-RegE ist eine Milderung der Verbandssanktion bei verbandsinternen Untersuchungen vorgesehen, wobei u. a. das Ausmaß der Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden durch den Verband zu berücksichtigen ist. Zugleich sollen die Unterlagen, zu deren Aufbewahrung ein redlicher Kaufmann oder ein Gewerbebetrieb im Rahmen der Überwachung seines Geschäftsbetriebs gesetzlich verpflichtet ist, keinem Beschlagnahmeverbot unterliegen30. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob dies gegen das Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung und der Freiheit der Entscheidung , mit Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren, verstößt. Den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung hat das Bundesverfassungsgericht als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher 27 Gesetzesbegründung (Fn. 15), S. 77 f. 28 Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, Bundestag-Drucksache 19/23568, S. 153. 29 Vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.06.2009, VI-2a Kart 2 - 6/08 OWi, Rn. 618. 30 § 97 StPO Abs. 2 S. 2 n.F. nach Art. 4 Nr. 1 b) RegE eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 11 Verfehlungen bezichtigen muss oder in Versuchung gerät, durch Falschaussagen ein neues Delikt zu begehen, oder wegen seines Schweigens in Gefahr kommt, Zwangsmitteln unterworfen zu werden.31 Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte für juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Dort, wo der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind, kommt eine Erstreckung auf juristische Personen als bloße Zweckgebilde der Rechtsordnung nicht in Betracht. Das wird umso eher der Fall sein, als der Grundrechtsschutz im Interesse der Menschenwürde gewährt wird, die nur natürliche Personen für sich in Anspruch nehmen können. Bei dem Zwang zur Selbstbezichtigung verhält es sich so. Der Zwiespalt, in den ein solcher Zwang den Einzelnen führt, muss vor allem aus Gründen der Menschenwürde vermieden werden. Dieser Bezug schließt eine Erstreckung auf juristische Personen aus.32 Da juristische Personen sich nicht auf den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung berufen können, ist ein Verfassungsverstoß insofern nicht gegeben. Dagegen gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG) auch für juristische Personen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten. Es gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.33 Eine Beschlagnahme der genannten Unterlagen stellt einen Eingriff in dieses Recht dar. Dieser Eingriff könnte aber gerechtfertigt sein, wenn er verhältnismäßig ist. Die Beschlagnahmemöglichkeit der genannten Unterlagen soll sicherstellen, dass die Unterlagen, deren Aufbewahrung gesetzlich verpflichtend ist, nicht der Beschlagnahme durch Überlassung an einen Berater entzogen werden können. Damit sollen die Nachweisobliegenheiten der Unternehmen und das Aufklärungsinteresse des Staates gewährleistet werden. Ein legitimer Zweck ist daher gegeben . Die Beschlagnahme ist auch geeignet, diesen Zweck zu erfüllen, da bei einem Beschlagnahmeverbot kein Zugriff auf diese Unterlagen möglich wäre und so die gesetzliche Verpflichtung zur Aufbewahrung unterlaufen werden könnte. Die Beschlagnahme ist auch erforderlich, da mildere, gleich geeignete Mittel nicht ersichtlich sind. Die Beschlagnahmemöglichkeit ist angemessen, wenn sie nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck steht. Absolute Beweiserhebungsverbote können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in engen Ausnahmefällen zum Tragen kommen, insbesondere wenn eine Ermittlungsmaßnahme mit einem Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde verbunden wäre, die jeder Abwägung von vornherein unzugänglich ist. Nur in solchen Fällen ist es zulässig – und unter Umständen auch verfassungsrechtlich geboten –, bereits eine Beweiserhebung generell zu untersagen und jede Verwendung gleichwohl erlangter Erkenntnisse auszuschließen.34 Der 31 BVerfG, Beschluss vom 26.02.1997, 1 BvR 2172/96, Rn. 82. 32 BVerfG (Fn. 31), Rn. 83 f. 33 BVerfG, Beschluss vom 27.06.2018, 2 BvR 1405/17, Rn. 61 und Rn. 112. 34 BVerfG, (Fn. 33), Rn. 78. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 266/20 Seite 12 Schutzbereich der Menschenwürde ist bei juristischen Personen aber nicht berührt, sodass ein absolutes Beschlagnahmeverbot verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Der Gesetzgeber ist daher nicht gehalten, für die genannten Unterlagen ein Beschlagnahmeverbot zu regeln. Die Beschlagnahmemöglichkeit umfasst zudem nur Unterlagen, bei denen eine gesetzliche Aufbewahrungspflicht für Kaufleute oder einen Gewerbebetrieb besteht. Unterlagen, die zur Verteidigung eines Beschuldigten angefertigt werden, fallen weiterhin unter das Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 Nr. 2 Strafprozessordnung (StPO). Dagegen besteht bislang bereits kein Beschlagnahmeverbot für die Ergebnisse unternehmensinterner Ermittlungen. Von Verfassungswegen ist es auch nicht geboten, eine beschuldigtenähnliche Stellung, die einen Beschlagnahmeschutz nach sich zieht, bereits dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrag gibt.35 Da durch das VerSanG-RegE Verteidigungsunterlagen weiterhin einem Beschlagnahmeverbot unterliegen , ist der Eingriff durch die Beschlagnahmemöglichkeit der genannten Unterlagen daher gerechtfertigt. Ein Verfassungsverstoß ist nicht gegeben. *** 35 Greven, in: Hannich, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 97, Rn. 14a.