Deutscher Bundestag Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM- und zum Fiskalpakt Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 265/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 265/12 Seite 2 Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM- und zum Fiskalpakt Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 265/12 Abschluss der Arbeit: 13. September 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 265/12 Seite 3 1. Einleitung Mit Urteil vom 12. September 2012 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)1 mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung der Ausfertigung der Gesetze zur Änderung des Art. 136 AEUV, zum Vertrag zur Einrichtung des europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion (Fiskalvertrag) als überwiegend unbegründet zurückgewiesen. Die Bundesregierung muss allerdings bei der Ratifikation der Verträge „völkerrechtlich sicherstellen“, dass sämtliche Zahlungsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auf die in Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESM festgelegte Höchstsumme von ca. 190 Mrd. Euro begrenzt sind, außer der deutsche Vertreter im Gouverneursrat stimmt einer höheren Zahlungsverpflichtung zu. Außerdem dürfen die Regelungen über die Unverletzlichkeit der Unterlagen des ESM (Art. 32 Abs. 5, Art. 35 Abs. 1 ESMV) und die berufliche Schweigepflicht aller für den ESM tätigen Personen (Art. 34 ESM) nicht einer umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegenstehen. Die Ausarbeitung untersucht, welche Konsequenzen sich aus dem Urteil des BVerfG – insbesondere im Hinblick auf die Einlegung der Vorbehalte und die haushaltsrechtlichen Vorgaben des Urteils, wonach die Bundesrepublik ihrerseits in der Lage sein muss, Kapitalabrufen des ESM nachzukommen – für den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung ergeben. Aufgrund der Kürze der Bearbeitungszeit und noch fehlender Aussagen der Bundesregierung zu ihrem weiteren Vorgehen, kann nur eine erste, vorläufige Einschätzung abgegeben werden. 2. „Völkerrechtliche Sicherstellung“ bei der Ratifikation des ESM 2.1. Aussagen des BVerfG Das BVerfG spricht im Tenor seines Urteils nicht von der Einlegung von Vorbehalten, sondern nur davon, dass bei der Ratifikation des ESM „völkerrechtlich sichergestellt“ werden müsse, dass Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV nur in der Weise ausgelegt werden darf, dass für die Bundesrepublik Deutschland ohne Zustimmung des deutschen Vertreters höhere Zahlungsverpflichtungen nicht begründet werden, und auch die Regelungen über die Unverletzlichkeit der Unterlagen des ESM und die berufliche Schweigepflicht aller für den ESM tätigen Personen nicht einer umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegenstehen dürfen. Erst im Text des Urteils findet sich der Begriff des „Vorbehalts“, in gleichlautenden Sätzen in Rz. 253 und 259: „Die Bundesrepublik Deutschland muss deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein kann, falls sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt2 als unwirksam erweisen sollte“. 1 BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012. 2 Hervorhebung durch die Verfasser. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 265/12 Seite 4 Weitere Erläuterungen zu diesem „Vorbehalt“ oder der Art und Weise der „völkerrechtlichen Sicherstellung“ finden sich im Urteil nicht. Dies deutet darauf hin, dass das BVerfG der Bundesregierung einen Spielraum lassen wollte, wie seine Vorgaben im Ratifikationsverfahren umgesetzt werden können. Deutlich wird aber, dass es nicht allein um eine Interpretation der o.g. Artikel im Sinne der Auslegung durch das BVerfG geht. Deutschland muss darüberhinaus seine Mitgliedschaft beim ESMV beenden können, wenn die anderen Mitgliedstaaten sich nicht an diese Interpretation halten. Fraglich ist daher, wie die Bundesregierung die Vorgaben des BVerfG „völkerrechtlich sicherstellen “ kann. Im Folgenden soll zunächst kurz erläutert werden, wie das Völkerrecht Vorbehalte behandelt. 2.2. Völkerrechtliche Vorbehalte nach der Wiener Vertragsrechtskonvention Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) ist ein Vorbehalt „eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation , Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern“. Die einzelnen Voraussetzungen und Wirkungsweisen völkerrechtlicher Vorbehalte sind in den Art. 19 ff. WVRK kodifiziert. Vorbehalte sind abzugrenzen von bloßen politischen Absichtsbekundungen einerseits und auslegenden bzw. interpretativen Erklärungen andererseits, mit denen sich ein Signatarstaat eine bestimmte Auslegung zu eigen macht. Derartige Erklärungen haben im Gegensatz zu Vorbehalten keinen Einfluss auf die völkerrechtliche Bindungswirkung. Ein zur Entscheidung über einen völkerrechtlichen Vertrag berufenes Gericht (zuständig für Streitigkeiten aus dem ESM-Vertrag ist nach Art. 37 Abs. 3 ESMV der EuGH) wäre an eine interpretative Erklärung nicht gebunden.3 Eine Erklärung zur Auslegung einzelner Vertragsbestimmungen kann allerdings – unabhängig von ihrer Bezeichnung – einen Vorbehalt darstellen, wenn der erklärende Signatarstaat damit zu erkennen gibt, dass er nur im Sinne dieser Auslegung gebunden sein will.4 Die Zulässigkeit und Wirksamkeit von Vorbehalten zu völkerrechtlichen Verträgen beurteilt sich nach Art. 19 ff. WVRK. Vorbehalte sind grundsätzlich zulässig, es sei denn, der Vertrag schließt Vorbehalte generell oder bestimmte Arten von Vorbehalten aus oder der erklärte Vorbehalt ist mit Ziel und Zweck des Vertrages unvereinbar (Art. 19 WVRK). Für die Wirkung eines zulässigerweise erklärten Vorbehalts treffen die Art. 20 ff. WVRK differenzierte Regelungen: Sind im jeweiligen Vertrag Vorbehalte ausdrücklich zugelassen, ist eine nachträgliche Annahme eines erklärten Vorbehalts nur erforderlich, wenn der Vertrag auch dies ausdrücklich vorsieht (Art. 20 Abs. 1 WVRK). Im Übrigen entfaltet er ohne weiteres Wirkung. Mit der formgerechten (vgl. Art. 23 WVRK) Anbringung eines Vorbehalts wird der Vertrag zwischen 3 Vgl. Fastenrath, FAZ vom 06.09.2012 („Schlupflöcher schließen“). 4 Vgl. Herdegen, Völkerrecht, 11. Aufl. 2012, § 15 Rn. 21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 265/12 Seite 5 dem erklärenden Staat und den übrigen Signatarstaaten jeweils im bilateralen Verhältnis modifiziert (Art. 21 WVRK). Der ESM-Vertrag enthält keine Bestimmungen zu Vorbehalten. Soweit nichts anderes geregelt ist, gilt Art. 20 Abs. 4 WVRK, wonach die Wirkungen eines angebrachten Vorbehalts vom Verhalten der übrigen Signatarstaaten abhängt. Diese können den Vorbehalt annehmen oder Einspruch gegen ihn einlegen. Im letzteren Fall haben die den Vorbehalt ablehnenden Staaten ein Wahlrecht, ob sie den Vertrag im Übrigen in Kraft treten lassen wollen oder nicht (vgl. Art. 21 Abs. 3 WVRK).5 Erklärt sich ein Signatarstaat nicht, gelten angebrachte Vorbehalte nach Ablauf einer Zwölf-Monats-Frist als angenommen (Art. 20 Abs. 5 WVRK). 2.3. Wie kann die „völkerrechtliche Sicherstellung“ erfolgen? Wie oben unter 2.1. dargestellt, dürfte eine reine Interpretationserklärung oder eine rein politische Erklärung der Bundesregierung gegenüber den anderen ESM-Mitgliedstaaten nicht ausreichen . Die Bundesregierung könnte aber z.B. im Wege eines völkerrechtlichen Kündigungsvorbehalts, einer gemeinsamen Erklärung aller ESM-Vertragspartner oder eines ergänzenden Protokolls rechtlich sicherstellen, dass die Vorgaben des BVerfG umgesetzt werden. Da der Bundesregierung an einer zügigen Ratifikation des ESMV gelegen ist, wird sie wohl bald auf die anderen Vertragspartner zugehen, um mit ihnen Einigkeit zu erzielen. Bisher ist es bei europarechtlichen Verträgen – im Gegensatz zu völkerrechtlichen Verträgen – eher ungewöhnlich, Vorbehalte einzulegen. Üblicher ist der Abschluss von Protokollen, die den EU-Verträge beigefügt werden. Da es sich beim ESMV aber um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, könnte auch eine Ausnahme gelten . Offizielle Aussagen der Bundesregierung über ihr geplantes Vorgehen gibt es aber noch nicht. Die Abgabe eines Vorbehalts oder der Abschluss eines Protokolls stellt eine Vertragsänderung dar. Innerstaatlich erscheint eine erneute Befassung von Bundestag und Bundesrat hierzu nicht geboten. Denn der Zustimmungsvorbehalt des Art. 59 Abs. 2 GG dürfte sich nur auf den Vertragsschluss als solchen, nicht auf die Anbringung von Vorbehalten beziehen.7 Erst sobald die Bundesregierung Art und Weise des Vorbehalts oder des Protokolls mit den anderen Vertragsstaaten geklärt hat, kann die Ratifikationsurkunde zum ESM hinterlegt werden.9 Mit 5 Vgl. Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, § 6 Rn. 79. 7 Vgl. Kunig, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 2. Abschnitt Rn. 85. 9 Der Bundespräsident hat die Gesetze zum „Euro-Rettungsschirm“ am 13. September ausgefertigt, dies hat jedoch nur innerstaatliche Wirkung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 265/12 Seite 6 der Ratifikation, einer förmliche Erklärung, erklärt die Bundesrepublik völkerrechtlich ihre Zustimmung zur völkerrechtlichen Bindung.10 Innerstaatlich ist hierzu gemäß Art. 59 Abs. 1 GG der Bundespräsident berufen. Zuvor ist gemäß Art. 58 S. 1 GG die Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers erforderlich. Folglich hat das Urteil des BVerfG im Hinblick auf die „völkerrechtliche Sicherstellung“ der Vorgaben des BVerfG keine Konsequenzen für den Deutschen Bundestag. Vielmehr ist es Aufgabe der Bundesregierung, das Ratifikationsverfahren zu Ende zu führen und noch vor der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden in rechtlich verbindlicher Weise mit den anderen ESM- Mitgliedstaaten eine Vereinbarung zu treffen. 3. Kapitalabrufe durch die Bundesregierung Der Gesetzgeber hat durch § 1 Abs. 1 ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG), das Nachtragshaushaltsgesetz vom 14. Juni 201211 und § 1 Abs. 1 ESMFinG Mittel in einem Umfang von 21,71712 Mrd. Euro bereitgestellt und das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt, für das abrufbare Kapital in Höhe von 168,30768 Mrd. Euro Gewährleistungen zu übernehmen.12 Die Zahlungen von Deutschland können aber eine Höchstsumme von rund 190 Mrd. Euro erreichen. Da im ESMFinG bisher keine Ermächtigung über diese Summer gegeben wurden, ist fraglich, ob mit hinreichender Sicherheit gewährleistet ist, dass die Bundesrepublik Deutschland sämtlichen, auch kurzfristigen Kapitalabrufen (Art. 9 Abs. 3 ESMV) nachkommen kann und ein Verlust ihrer Stimmrechte auszuschließen ist. Das BVerfG hat ausdrücklich entschieden, dass diese Frage nicht im Rahmen der einstweiligen Anordnung geklärt wird, sondern dem Hauptsacheverfahren vorbehalten ist.13 Daher muss derzeit weder der Deutsche Bundestag noch die Bundesregierung aus dem Urteil Konsequenzen ziehen und z.B. eine Änderung des ESMFinG anstreben. 10 Vgl. Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG, 65. EL 2012, Art. 59 Rn. 76; Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht , 5. Aufl. 2010, 1. Abschnitt Rn. 117. 11 BT-Drs. 17/9650, 17/9651. 12 Vgl. BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012, Rz. 293. 13 Vgl. BVerfG, 2 BvR 1390/12 vom 12.9.2012, Rz. 293.