© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 263/17 Vereinigte Staaten von Europa? Verfassungsrechtliche Beurteilung eines europäischen Bundesstaates Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Obwohl die Union demnach keine Eigenstaatlichkeit besitzt, wird dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) verschiedentlich eine Tendenz zur „eigenstaatlichen Einrichtung“ zugesprochen. In diese Richtung weist auch die Formel der „immer engeren Union“ („ever closer union“), die bereits in der Präambel des EWG-Vertrags von 1957 enthalten war und sich noch heute wortgleich oder leicht abgewandelt in Art. 1 Abs. 2 EUV und in den Präambeln des EUV, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und der Grundrechtecharta findet. Diese „immer engere Union“ soll allerdings eine der „Völker Europas“ sein. Die Formulierungsschwierigkeiten zeigen, dass die Europäische Union als ein Verbund eigener Art nicht unter die klassischen Kategorien föderativer Organisationen subsumiert werden kann. Der Begriff der „Vereinigten Staaten von Europa“ ist älter als die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften. George Washington gebrauchte ihn bereits Ende des 18. Jahrhunderts ; 1925 erschien er im Heidelberger Programm der SPD. Zumeist wird er aber Winston Churchill zugeschrieben, der ihn 1946 in seiner berühmten Züricher Rede gebrauchte. Anders als häufig dargestellt, schwebte Churchill jedoch keine bundesstaatliche Verfassung wie die der Vereinigten Staaten von Amerika vor, sondern eher ein Zusammenschluss nach der Art des britischen Commonwealth. Seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften wurde Begriff allerdings oft im Sinne eines europäischen Bundesstaates verwendet. Er bezeichnete damit ein Gegenmodell zu de Gaulles „Europa der Vaterländer“. In jüngerer Zeit setzten sich zahlreiche deutsche und europäische Politiker mit dem Ziel „Vereinigter Staaten von Europa“ auseinander, wobei oft unklar blieb, welche konkreten Vorstellungen damit verbunden wurden: Martin Schulz forderte die Schaffung solcher „Vereinigten Staaten“ bis 2025, erklärte später aber, dass er die Nationalstaaten nicht abschaffen wolle. Peter Altmaier wies darauf hin, dass die Mehrheit der Bürger einen souveränen Brüsseler Zentralstaat ablehne. Günther Oettinger stellte fest, dass der Begriff in seiner Partei seit der Euro-Krise „nicht mehr so beliebt“ sei; er arbeite lieber an einer Stärkung der Europäischen Union. Die Stellungnahmen zeigen , dass manche unter dem Stichwort der „Vereinigten Staaten“ die europäische Integration vorantreiben , dabei die Rechtsnatur der Union und die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten aber beibehalten wollen. Andere verstehen darunter die Aufgabe der mitgliedstaatlichen Souveränität und die Schaffung eines europäischen Bundesstaates. 2. Verfassungsidentität als Grenze Europäischer Integration Das Grundgesetz (GG) sieht Deutschland in der Präambel als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“. Nach Art. 23 Abs. 1 GG wirkt die Bundesrepublik zur „Verwirklichung eines vereinten Europas (…) bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“. Das Integrationsprogramm des Grundgesetzes wird als „offen“ charakterisiert. Der heutige Stand der Integration nach dem Vertrag von Lissabon wird, auch vom Bundesverfassungsgericht, als verfassungskonform betrachtet. Das bedeutet aber nicht, dass nur diese Ausgestaltung der Union dem Europa- Begriff des Grundgesetzes entspräche. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 263/17 Seite 4 Trotz dieser Offenheit setzt das Grundgesetz der europäischen Integration Grenzen. Die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG schützt die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG; sie sind selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen. Das Bundesverfassungsgericht, das sich mit den verfassungsrechtlichen Grenzen europäischer Integration insbesondere in seinen Urteilen zum Vertrag von Maastricht (1993) und zum Vertrag von Lissabon (2009) auseinandersetzte , leitet daraus einen Bestandsschutz für eine souveräne Bundesrepublik Deutschland her. Entscheidende Bedeutung kommt nach dieser Rechtsprechung dem Demokratieprinzip zu. Danach muss sich jede Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und jede Ausübung staatlicher Befugnisse auf das Staatsvolk zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden. Daher setze auch die eigenständige Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen durch die Europäische Union ein hinreichendes Legitimationsniveau voraus. Legitimation vermittelten vor allem die Staatsvölker der Mitgliedstaaten über die nationalen Parlamente. Dem Deutschen Bundestag müssten folglich „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht“ verbleiben, eine lebendige Demokratie in den Mitgliedstaaten müsse erhalten bleiben. In seinem Maastricht-Urteil ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gründung Vereinigter Staaten von Europa im Sinne einer Staatswerdung der Europäischen Union nicht beabsichtigt sei. Die Frage, ob das Grundgesetz einer Mitgliedschaft Deutschlands in einem europäischen Staat entgegenstehe, ließ es daher ausdrücklich offen. Auch im Lissabon-Urteil bekräftigt das Bundesverfassungsgericht, dass den Mitgliedstaaten „ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse “ bleiben müsse. Es geht aber über das Maastricht-Urteil hinaus: „Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung , dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren. (…) Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“ Unter der Geltung des Grundgesetzes kann Deutschland demnach einem Europäischen Bundesstaat mit eigener Kompetenz-Kompetenz nicht beitreten. Voraussetzung wäre eine neue Verfassung , die nach Art. 146 GG „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ ***