© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 261/18 Änderung des Direktwahlaktes Ratifikation der Einführung einer verbindlichen Sperrklausel Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/18 Seite 2 Änderung des Direktwahlaktes Ratifikation der Einführung einer verbindlichen Sperrklausel Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 261/18 Abschluss der Arbeit: 31. Juli 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/18 Seite 3 1. Einleitung Am 7. Juni 2018 billigte der Rat der Europäischen Union den Entwurf eines Beschlusses zur Änderung des Direktwahlaktes (DWA).1 Das Europäische Parlament hat diesem Entwurf (DWA-E) am 4. Juli zugestimmt.2 Art. 3 Abs. 2 DWA-E bestimmt: „Die Mitgliedstaaten, in denen eine Listenwahl stattfindet, legen für Wahlkreise, in denen es mehr als 35 Sitze gibt, eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe fest. Diese Schwelle darf nicht weniger als 2 % und nicht mehr als 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen in dem betreffenden Wahlkreis, einschließlich eines einen einzigen Wahlkreis bildenden Mitgliedstaats betragen.“ Die neuen Bestimmungen sehen also für Mitgliedstaaten mit mehr als 35 Sitzen im Europäischen Parlament eine verbindliche Sperrklausel in Höhe von 2 bis 5 % vor. Sie treten nach Art. 223 Abs. 1 UAbs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Kraft, sobald der Rat sie – nach der nun vorliegenden Zustimmung des Parlaments – einstimmig erlässt und die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen.3 Europarechtlich ist das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Art. 14 Abs. 2 und 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) und im DWA nur unvollständig geregelt, vgl. Art. 8 DWA. Die Ausgestaltung obliegt den Mitgliedstaaten. In Deutschland sind die Wahlen zum Europäischen Parlament im Europawahlgesetz (EuWG) geregelt. Derzeit ist den Mitgliedstaaten nach Art. 3 DWA die Einführung einer Sperrklausel noch freigestellt; sie darf bis zu 5 % betragen. Von dieser Möglichkeit hatte Deutschland zunächst mit einer 5 %-Sperrklausel und später mit einer 3 %-Sperrklausel im EuWG Gebrauch gemacht. Beide Regelungen erklärte das Bundesverfassungsgericht jedoch wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien für verfassungswidrig.4 1 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976 (BGBl. 1977 II, S. 733), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II, S. 810; 2004 II, S. 520), abrufbar unter https://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A01976X1008%2801%29-20020923; vgl. dazu den Änderungsentwurf : Beschluss (EU, Euratom) 2018/994 des Rates vom 13. Juli 2018 zur Änderung des dem Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 beigefügten Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments, ABl. L 178/1, abrufbar unter https://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32018D0994&qid=1532076682077&from=EN; alle Internet -Quellen zuletzt abgerufen am 31. Juli 2018. 2 Vgl. Europäisches Parlament, Procedure file, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/oeil/popups /ficheprocedure.do?lang=en&reference=2015/0907(APP)#tab-0; Europäisches Parlament, Parlament billigt Modernisierung des EU-Wahlrechts, Pressemitteilung vom 4. Juli 2018, abrufbar unter http://www.europarl.europa .eu/news/de/press-room/20180628IPR06818/parlament-billigt-modernisierung-des-eu-wahlrechts. 3 Vgl. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 63. Lfg. 2017, Art. 223 AEUV Rn. 16 f. 4 BVerfGE 129, 300; BVerfGE 135, 259. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/18 Seite 4 Gegenstand der Ausarbeitung ist zunächst die Frage, nach welchem Gesetzgebungsverfahren sich die Ratifikation einer Änderung des DWA in Deutschland richtet (2). Weiter wird untersucht, ob Deutschland die vorliegende Änderung des DWA vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ratifizieren darf (3). 2. Ratifikation im Gesetzgebungsverfahren nach Art. 23 Abs. 1 S. 3, Art. 79 Abs. 2 GG In Deutschland richtet sich die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge grundsätzlich nach Art. 59 Grundgesetz (GG). Für Verträge, die politische Beziehungen regeln oder sich auf die Gesetzgebung beziehen, fordert Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG die Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates in Form eines Vertragsgesetzes. Eine zusätzliche Sonderregelung für die europäische Integration enthält Art. 23 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lissabon-Urteil entschieden , dass dort, wo die Europäischen Verträge eine Änderung des Primärrechts ohne ein Ratifikationsverfahren erlauben, „neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung [obliegt], die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss (Integrationsverantwortung)“.5 Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hat der Gesetzgeber im Integrationsverantwortungsgesetz (IntVG) umgesetzt. Die Änderung des DWA beruht auf Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. Zwar wird es auch weiterhin kein einheitliches Wahlrecht zum Europäischen Parlament geben („nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten“, Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Alt. 1 AEUV);6 es handelt sich jedoch um Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments „im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ (Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Alt. 2 AEUV). Das Bundesverfassungsgericht nennt Art. 223 Abs. 1 AEUV ausdrücklich als einen Fall des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens, der die besondere Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat auslöst: „Während das ordentliche Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 EUV-Lissabon ) unter dem klassischen Ratifikationsvorbehalt für völkerrechtliche Verträge steht, bedürfen von Verfassungs wegen auch primärrechtliche Änderungen im vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon) eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und gegebenenfalls Satz 3 GG. Dieselbe Voraussetzung gilt für die Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon entsprechenden Änderungsvorschriften ([…] Art. 223 Abs. 1 UAbs. 2 […] AEUV).“7 Dementsprechend ordnet § 3 Abs. 2, 1 IntVG für vom Rat nach Art. 223 Abs. 1 AEUV erlassene Bestimmungen die Zustimmung durch ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 GG an.8 Anders als zuletzt in der Staatspraxis, die – noch vor dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – einen 5 BVerfGE 123, 267, 351. 6 Vgl. zum bisherigen DWA BVerfG, Beschluss vom 22. November 2001, Az. 2 BvB 1/01, 2 BvB 2/01, 2 BvB 3/01, Rn. 20. 7 BVerfGE 123, 267, 434; vgl. auch BVerfGE 123, 267, 387. 8 Vgl. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Recht der EU, Art. 223 AEUV Rn. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/18 Seite 5 völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG annahm,9 ist daher nun Art. 23 Abs. 1 GG anzuwenden. Ob das Ratifikationsgesetz zur Änderung des DWA einfaches Zustimmungsgesetz ist (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) oder ob es einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf, hängt davon ab, ob die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG erfüllt sind. Danach gelten Art. 79 Abs. 2 und 3 GG „für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden“. Bei der Änderung des DWA handelt es sich um eine Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union. Dazu zählen nämlich nicht nur Änderungen in den Vertragstexten des EUV und des AEUV, sondern auch solche Änderungen, die von einem Unionsorgan beschlossen werden und von den Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften angenommen werden.10 Eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes liegt vor, wenn entsprechende Änderungen „im nationalen Bereich […] eine Änderung des Grundgesetzes darstellten“.11 Demnach ist zu fragen, ob die Einführung einer Sperrklausel in Höhe von 2 bis 5 % bei Europawahlen in Deutschland eine Änderung des Grundgesetzes erforderte . Das Bundesverfassungsgericht hat die im EuWG einfachgesetzlich normierten Sperrklauseln von zunächst 5 % und anschließend 3 % für verfassungswidrig erklärt.12 Begründet hat es dies mit einem nicht gerechtfertigten Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Eine Sperrklausel sei auf europäischer Ebene derzeit nicht erforderlich um die Funktionsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen .13 Da das Gericht die Sperrklausel in beiden Fällen schon an der Erforderlichkeit scheitern ließ, kam es auf deren Höhe nicht mehr an. Geht man von dieser Rechtsprechung aus, so dürfte – nach geltendem Recht – auch eine niedrigere 2 %-Sperrklausel einfachrechtlich nicht eingeführt werden. Möglich wäre die Einführung einer Sperrklausel für Europawahlen nur durch eine in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG zulässige Verfassungsänderung. Eine der Änderung des DWA entsprechende Regelung im nationalen Recht könnte also nur durch Verfassungsänderung geschaffen werden. Daher kommt der DWA-Reform verfassungsänderndes Gewicht zu: Sie 9 Vgl. den Gesetzentwurf zur letzten Änderung des DWA, BT-Drs. 15/1059, S. 1, 6. 10 Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2. Aufl. 2018, § 7 Rn. 39. 11 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 14. Aufl. 2016 Art. 23 Rn. 36; vgl. bereits Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung , 1997, S. 118 ff.; Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar, § 7 Rn. 46. 12 BVerfGE 129, 300, und BVerfGE 135, 259. 13 BVerfGE 129, 300, 324 ff.; BVerfGE 135, 259, 291 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/18 Seite 6 ist nach Art. 23 Abs. 1 S. 3, Art. 79 Abs. 2 GG zu ratifizieren. Das Ratifikationsgesetz muss mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat beschlossen werden.14 3. Zulässigkeit der Ratifikation Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ratifikation von Änderungen des DWA bestimmt sich nach anderen Maßstäben als sie das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung der Sperrklauseln des EuWG anzuwenden hatte. Während die nationalen Normen am Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit – bei der Wahl zum Europäischen Parlament aus Art. 3 Abs. 1 GG und nicht aus Art. 38 Abs. 1 GG – und am Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen waren,15 ist der Prüfungsmaßstab im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG reduziert: Im Hinblick auf einen hinreichenden Grundrechtsschutz (Solange-Rechtsprechung) und den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Ultra-vires-Kontrolle) bestehen keine Bedenken .16 In Betracht kommt allein eine Verletzung der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Sie schützt „die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung [und] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze “, die nicht berührt werden dürfen. Die Ratifikation der geplanten Änderung des DWA könnte zwar insoweit das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, 2 GG berühren, als bei den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien ein Bezug zum Demokratieprinzip besteht: Die Wahlrechtsgleichheit „sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger“, die Chancengleichheit der Parteien „hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen , die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren“.17 Das bedeutet jedoch nicht, dass bei der Prüfung am Maßstab des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1, 2 GG dieselben Standards anzuwenden wären wie bei der Prüfung der Art. 3 und 21 GG. Die Ewigkeitsgarantie schützt lediglich die Grundsätze der Staatsstrukturprinzipien. Dieser dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogene Verfassungskern wäre wohl bei dem vorgesehenen moderaten Rahmen für Sperrklauseln zwischen 2 und 5 % noch nicht berührt.18 *** 14 Für die Anwendbarkeit von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch Kotzur/Heidrich, Ein (Bären-)Dienst an der Europäischen Demokratie?, ZEuS 2014, 259, 272; Heinig, Sperrklausel im Direktwahlakt: Darf der Deutsche Bundestag zustimmen?, DVBl. 2016, 1141, 1145; Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar, § 7 Rn. 115; offengelassen bei Will, Nichtigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen, NJW 2014, 1421, 1424. 15 Vgl. zum Prüfungsmaßstab dort BVerfGE 120, 82, 102 ff.; 135, 259, 282 ff. 16 So auch Heinig, DVBl. 2016, 1141, 1145 f. 17 BVerfGE 129, 300, 317, 319. 18 So auch Heinig, DVBl. 2016, 1141, 1146 f.; im Ergebnis wohl auch Wernsmann, Verfassungsfragen der Drei-Prozent -Sperrklausel im Europawahlrecht, JZ 2014, 23, 28.