© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 261/17 Minderheitsregierung auf Bundesebene Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 2 Minderheitsregierung auf Bundesebene Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 261/17 Abschluss der Arbeit: 19. Dezember 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 3 1. Begriff Das Grundgesetz, einfachgesetzliche Bestimmungen sowie weitere Regelwerke wie z. B. die Geschäftsordnung der Bundesregierung kennen weder eine „Mehrheitsregierung“ noch eine „Minderheitsregierung “. Dort werden vielmehr allein die Begriffe „Bundesregierung“ bzw. „Regierung/Regierungen“ verwendet. „Minderheitsregierung“ ist demnach kein Rechtsbegriff. Man versteht allgemein darunter eine Regierung, die von einer oder mehreren Fraktionen getragen wird, die im Parlament nicht über eine absolute Mehrheit verfügt bzw. verfügen. Im Bund hat es dieses Phänomen bislang nur selten und nur kurzfristig gegeben.1 Auf Landesebene hatten Minderheitsregierungen eine längere Dauer.2 2. Entstehung 2.1. Zu Beginn einer Wahlperiode In einer neuen Wahlperiode, die mit dem erstmaligen Zusammentreten des Bundestages, der Konstituierung beginnt (Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG), wird eine Minderheitsregierung – wie jede andere Regierung – durch die Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG) und die Ernennung der Bundesminister durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers (Art. 64 Abs. 1 GG) gebildet. Bei der Kanzlerwahl ist in Bezug auf eine Minderheitsregierung wie folgt zu differenzieren: 2.1.1. Kanzlerwahl mit absoluter Mehrheit Auch der Bundeskanzler einer Minderheitsregierung im Sinne der obigen Definition kann mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (sog. Kanzlermehrheit) gewählt werden (Art. 63 Abs. 2, 3, u. 4 S. 2 GG). Voraussetzung wäre, dass er neben den Stimmen seiner eigenen Fraktion eine ausreichende Zahl von Unterstützern aus anderen Fraktionen im Bundestag mobilisieren kann. Das erscheint dann möglich, wenn es im Vorfeld z. B. Absprachen über eine Tolerierung der Minderheitsregierung im Hinblick auf deren weitere Regierungstätigkeit gegeben hat. Zumindest denkbar ist aber auch der Fall, dass die Unterstützung der Regierungskoalition nur für die Kanzlerwahl zugesichert wird.3 1 Es werden zumeist drei Fälle genannt: 1966 und 1982 infolge von Regierungswechseln und 1972 kurz vor der vorzeitigen Auflösung des Bundestages, siehe hierzu: Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Bd. 1, 1999, Kap. 6.6, S. 1133 u. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994 bis 2003, 2005, Kap. 6.6, S. 296; so auch: Funk, Labiles Wesen, Der Tagesspiegel vom 27. September 2013. 2 Zu nennen sind z. B. die Minderheitskabinette in Berlin unter Richard von Weizsäcker (CDU) von 1981 bis 1983 und in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 unter Reinhard Höppner (SPD), siehe hierzu: Funk, Labiles Wesen, Der Tagesspiegel vom 27. September 2013; ausführlich: Bartsch, Minderheitsregierungen auf Länderebene seit 1990, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff Nr. 50/10 (27. Juli 2010). 3 Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 54. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 4 2.1.2. Kanzlerwahl mit den meisten Stimmen Das zwingende Erfordernis einer Kanzlermehrheit gilt aber nur für die ersten beiden Phasen der Kanzlerwahl, in der ersten Wahlphase nach Art. 63 Abs. 2 GG und – falls in dieser die absolute Mehrheit nicht erreicht wird – in einem zweiten Wahlgang nach Art. 63 Abs. 3 GG. Ist die absolute Mehrheit hier nicht erreicht worden, so findet eine dritte Wahlphase statt, in welcher die meisten Stimmen (einfache Mehrheit) nach Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG ausreichend sind.4 Wird hier der Kandidat dennoch mit absoluter Mehrheit gewählt, muss er vom Bundespräsidenten ernannt werden (Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG). Bekommt er nur die meisten Stimmen, so hat der Bundespräsident zwei Möglichkeiten : Ernennung des Gewählten zum Bundeskanzler oder Auflösung des Bundestages (Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG). Der nur mit den meisten Stimmen gewählte und ernannte Bundeskanzler wird in der staatsrechtlichen Literatur als (echter) Minderheitskanzler bezeichnet.5 2.2. Im Verlauf einer Wahlperiode Zu nennen ist weiter der Fall, dass im Verlauf einer Wahlperiode eine ursprüngliche Mehrheitsregierung zur Minderheitsregierung wird, etwa weil der Koalitionspartner aus der Regierung ausscheidet. Tritt der Bundeskanzler nicht zurück und kommt es nicht zum konstruktiven Misstrauensvotum (Art. 67 GG) mit anschließenden Neuwahlen, dann bleibt der Bundeskanzler als Regierungschef einer Minderheitsregierung im Amt.6 3. Regierungstätigkeit 3.1. Kein Kanzler minderen Rechts Ein Bundeskanzler in einer Minderheitsregierung, den (echten) Minderheitskanzler eingeschlossen, besitzt nach dem Grundgesetz dieselben Rechte und Pflichten wie ein Bundeskanzler, der mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählt wurde. Er ist trotz der mit einer solchen Konstellation einhergehenden Schwierigkeiten in der praktischen politischen Arbeit „kein Kanzler minderen Rechts“.7 3.2. Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip Der Bundeskanzler einer Minderheitsregierung hat wie ein Mehrheitskanzler das Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Art. 65 GG, der die Richtlinienkompetenz formuliert, spricht die Verteilung der Verantwortlichkeiten in der Bundesregierung8 und nicht das Verhältnis zum 4 Siehe zum Verfahren auch: Giesecke, Bundeskanzlerwahl (Artikel 63 Grundgesetz), Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff Nr. 29/13 (25. September 2013). 5 So etwa: Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 54; Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 63 Rn. 37. 6 Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 54. 7 Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 55. 8 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, 14. Aufl., 2016, Art. 65 GG Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 5 Bundestag an, in dem der Minderheitskanzler nicht über die absolute Mehrheit verfügt. Hier wird die Durchsetzung des politischen Programms ungleich schwerer als im Falle der Mehrheitsregierung. Dies ist aber mit der Richtlinienkompetenz nicht angesprochen. Auch die vom Bundeskanzler gebildete Minderheitsregierung unterliegt keinen besonderen rechtlichen Voraussetzungen. Die Bundesminister besitzen die gleichen Rechte und Pflichten wie die einer Mehrheitsregierung angehörenden Kabinettsmitglieder.9 Es gilt das Ressortprinzip (Art. 65 S. 2 GG). 3.3. Durchsetzbarkeit der politischen Zielsetzungen 3.3.1. Eingeschränkte Durchsetzbarkeit aufgrund des Mehrheitsprinzips Bei der Durchsetzung von Gesetzesinitiativen (Art. 76 GG) im Bundestag und bei besonderen parlamentarischen Zustimmungserfordernissen (z. B. nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz) ist eine Minderheitsregierung darauf angewiesen, sich entweder Stimmen aus dem Oppositionslager zu verschaffen oder zumindest Teile von diesem zur Stimmenthaltung zu bewegen. Nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG erfordert ein Beschluss des Bundestages die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sofern das Grundgesetz nichts anderes bestimmt (einfache Mehrheit). Diese für Beschlüsse des Bundestages grundsätzlich erforderliche einfache Mehrheit besitzt die Minderheitsregierung jedoch gerade nicht. Die vom Grundgesetz geforderte Mehrheit kann sie bei Abstimmungen über Regierungsvorlagen – abgesehen von Zufallsmehrheiten – daher nur erzielen, sofern sie eine generelle Tolerierungsabsprache, z. B. mit einer weiteren Fraktion vereinbart hat, die in ihrer Verlässlichkeit einer Koalitionsvereinbarung gleichkommt10 oder sich zumindest für jedes einzelne Vorhaben die erforderlich Mehrheit sichert. Denkbar ist auch die Absprache mit einer Fraktion, sich bei bestimmten Regierungsvorlagen (etwa beim Haushalt) zu enthalten, um auf diesem Wege die einfache Mehrheit einer Minderheitsregierung zu ermöglichen. 3.3.2. Gesetzgebungsnotstand In der staatsrechtlichen Literatur11 wird im Kontext der soeben geschilderten Problematik der u.U. bestehenden Durchsetzungsschwäche einer Minderheitsregierung auch der Gesetzgebungsnotstand gemäß Art. 81 GG erwähnt. Ein solcher tritt allerdings nur unter engen Voraussetzungen ein und ist sowohl zeitlich als auch sachlich begrenzt12: Der Gesetzgebungsnotstand setzt zunächst voraus, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG erfolglos gestellt und der Bundespräsident den Bundestag nicht aufgelöst hat. Der Bundespräsident kann sodann für eine Gesetzesvorlage auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates den Gesetzgebungsnotstand erklären, wenn der Bundestag diese abgelehnt hat, obwohl die Bundesregierung sie als 9 Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 55; vgl. auch: Giesecke, Bundeskanzlerwahl (Artikel 63 Grundgesetz), Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff Nr. 29/17 (23. November 2017) als aktualisierte Fassung des Aktuellen Begriffs Nr. 29/13 vom 25. September 2013. 10 Diese Konstellation wird auch als „informelle Koalition“ bezeichnet, so: Thomas, in: ZParl 2007, S. 101 ff. 11 So etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 56. 12 Siehe zum Ganzen auch: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, 14. Aufl., 2016, Art. 81 GG Rn. 4 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 6 dringlich bezeichnet (Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG) oder wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage verbunden hat (Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG). Nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands gilt für eine erste Gesetzesvorlage Folgendes: Das Gesetz gilt als zustande gekommen, wenn die Bundesregierung die Gesetzesvorlage erneut in den Bundestag einbringt, der Bundestag diese - wieder ablehnt oder - nur in einer für die Bundesregierung unannehmbaren Fassung annimmt oder - innerhalb von 4 Wochen nach der erneuten Einbringung nicht verabschiedet und der Bundesrat ihr zustimmt (Art. 81 Abs. 2 GG). Nach der ersten Erklärung des Gesetzgebungsnotstands unterliegt das Zustandekommen von Gesetzen ohne Beschluss des Bundestages geringeren Anforderungen (Art. 81 Abs. 3 S. 1 GG). Der Gesetzgebungsnotstand ist auf sechs Monate nach seiner ersten Erklärung begrenzt. Er darf nach Ablauf dieser Frist innerhalb der Amtszeit des Bundeskanzlers nicht noch einmal erklärt werden (Art. 81 Abs. 3 S. 2 GG). Eine Grundgesetzänderung im Wege des Gesetzgebungsnotstands ist ausgeschlossen (Art. 81 Abs. 4 GG). 3.3.3. Verweigerung der Gegenzeichnung Etwa für den Fall, dass auf Initiative der die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages stellenden Oppositionsfraktionen ein Gesetz zustande gekommen ist, wird zum Teil die Frage aufgeworfen, ob die Minderheitsregierung die Pflicht hat, dieses ihren politischen Vorstellungen nicht entsprechende Gesetz gegenzuzeichnen.13 Art. 82 Abs. 1 GG sieht vor, dass die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung (Art. 58 GG) ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Die Gegenzeichnung ist Wirksamkeitsvoraussetzung eines Gesetzes.14 Hiermit vollzieht die Bundesregierung den parlamentarischen Willen. Nach wohl überwiegender Auffassung wird der Bundesregierung ein Prüfungsrecht in Bezug auf die gegenzuzeichnenden Gesetze – entsprechend den Kompetenzen des Bundespräsidenten in Bezug auf die Ausfertigung – zugestanden.15 Ungeachtet der streitigen Reichweite dieses Prüfungsrechts (formelle oder auch materielle Verfassungsmäßigkeit), herrscht Einigkeit darüber, dass ein politisches Prüfungsrecht nicht besteht,16 welches dazu berechtigen könnte, die Ausfertigung bzw. Gegenzeichnung bei politisch missliebigen Vorlagen zu verweigern. 13 So etwa Funk, Labiles Wesen, Der Tagesspiegel vom 27. September 2013. 14 Nierhaus, in: Sachs, 7. Aufl. 2014, Art. 82 GG Rn. 18. 15 Nierhaus, in: Sachs, 7. Aufl. 2014, Art. 82 GG Rn. 18. 16 Nierhaus, in: Sachs, 7. Aufl. 2014, Art. 82 GG Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 7 3.3.4. Exekutive Gestaltungsmöglichkeiten Des Weiteren wird wegen der beschriebenen Schwierigkeiten, vor denen eine Minderheitsregierung steht, Gesetzesinitiativen im Bundestag erfolgreich durchzusetzen, mitunter darauf hingewiesen, dass eine solche Regierung gut daran tue, ihre Politik so zu gestalten, dass sie möglichst wenige förmliche Gesetze benötige, und dass sie die Möglichkeiten exekutiver Gestaltungsmöglichkeiten, z. B. Rechtsverordnungen nach Art. 80 GG und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, weitestgehend ausschöpfen solle.17 Allerdings ist hier zu bedenken, dass es eine Reihe von Beteiligungsrechten des Bundesrates und auch des Bundestages gibt,18 die auch diese Tätigkeit einer Minderheitsregierung erschweren können: Nach Art. 80 Abs. 2 GG muss der Bundesrat in der Regel zustimmen, wenn die Bundesregierung oder ein Bundesminister Rechtsverordnungen über Grundsätze und Gebühren in Bezug auf das Postwesen, die Telekommunikation und die Eisenbahnen erlassen will. Die Zustimmungspflicht des Bundesrates für Rechtsverordnungen kann sich auch aus dem zum Erlass der Rechtsverordnung ermächtigenden Bundesgesetz ergeben, nämlich dann, wenn dieses Gesetz zustimmungsbedürftig ist oder wenn es von den Ländern im Auftrag des Bundes oder in eigener Angelegenheit ausgeführt wird. Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages sind nicht wörtlich in Art. 80 GG aufgeführt. In der Praxis finden sich jedoch in Einzelgesetzen explizit festgelegte Mitwirkungsmöglichkeiten . Für den Erlass von Verwaltungsvorschriften, die keine Außenwirkung gegenüber dem Bürger haben, gibt es keine mit Art. 80 GG vergleichbaren, ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehenen Beteiligungsrechte. Erlässt jedoch die Bundesregierung eine Verwaltungsvorschrift zur bundesweit einheitlichen Ausführung eines Gesetzes, so ist der Bundesrat nach Art. 84 Abs. 2 GG zu beteiligen. Gleiches gilt nach Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG, wenn die Länder Bundesgesetze im Auftrag des Bundes ausführen. 4. Rolle des Bundestages im Falle einer Minderheitsregierung Die Bildung einer Minderheitsregierung hat auch auf den Bundestag erhebliche Auswirkungen. Abweichend zum Fall einer Mehrheitsregierung besitzt das Oppositionslager in einer solchen Konstellation die parlamentarische Mehrheit. Praktisch können vonseiten der Opposition folglich die Mehrheitsrechte in Anspruch genommen werden. Diese erstrecken sich auf den gesamten politischen Handlungsbereich. Dieser reicht von Beschlüssen zum parlamentarischen Verfahren bis hin zum Beschluss von Gesetzen. Auch das in der Praxis bisher kaum in Anspruch genommene Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG könnte zu einer neuen Form parlamentarischen Regierens führen. Insgesamt wäre die Verschmelzung zwischen Bundesregierung und Bundestag gegenüber einer Mehrheitsregierung deutlich gelockert. Es wäre daher zu erwarten, dass das Gesetzgebungsverfahren in den Ausschüssen gegenüber den politischen Vorstellungen der Bunderegierung eine 17 So etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, 80. EL Juni 2017, Art. 63 GG Rn. 57. 18 Die nachfolgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf: Wissenschaftliche Dienste, Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments beim Erlass von Rechtsverordnungen, Sachstand WD 3 - 3000 - 067/11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 261/17 Seite 8 höhere Eigenständigkeit aufweisen könnte. Ferner dürfte auch die parlamentarische Kontrolle der Regierung intensiviert werden. Eine Minderheitsregierung, die sich auf ein Tolerierungsmodell stützt, könnte zu einer Aufweichung der politischen Lager im Parlament führen. Die Unterteilung in Regierungs- und Oppositionslager könnte sich je nach Ausgestaltung einer Tolerierung als schwierig erweisen. Dies könnte für eine tolerierende Fraktion zu finanziellen Folgen führen. Nach § 50 Abs. 2 AbgG erhalten Fraktionen, die die Bundesregierung nicht tragen, einen Oppositionszuschlag. Eine Tolerierungsfraktion befindet sich in einer Zwischenstellung. Je nach Ausgestaltung im Einzelfall könnte sie daher entweder der Regierungs- oder der Oppositionsseite zugeordnet werden. In Sachsen-Anhalt kam es in 90er Jahren zu einem Rechtsstreit über die politische Einordnung einer Duldungsfraktion. Das Landesverfassungsgericht entschied damals zugunsten der Duldungsfraktion. Es verlangte für die Zuordnung einer solchen Fraktion zum Regierungslager eine grundsätzliche koalitionsähnliche Abrede.19 *** 19 VerfGSA, Urteil vom 29.05.1997 - LVG 1/96 -, LKV 1998, 101 ff.