Zu etwaigen Sperrwirkungen von Plebisziten am Beispiel des Volksbegehrens zum Flughafen Berlin-Tempelhof - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 261/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Zu etwaigen Sperrwirkungen von Plebisziten am Beispiel des Volksbegehrens zum Flughafen Berlin-Tempelhof Ausarbeitung WD 3 - 261/07 Abschluss der Arbeit: 02.08.2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - Zusammenfassung - Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur „Waldschlösschenbrücke“ lassen sich für das Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ keine Rückschlüsse ziehen. Der Fokus dieser Entscheidung lag auf dem Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und kommunalrechtlichen Vollzugspflichten des Oberbürgermeisters von Dresden. Der Sachverhalt Flughafen Berlin-Tempelhof unterscheidet sich davon in mehreren Punkten: - Bei der Tempelhofer Initiative handelt es sich nicht um ein kommunales Bürgerbegehren , sondern um ein Volksbegehren auf staatlicher Ebene. - In Dresden war das Verfahren des Bürgerbegehrens bereits beendet. Es liegt ein Bürgerentscheid vor, der die Gemeindeorgane bis zum 28. Februar 2008 bindet. Bei dem Volksbegehren zum Flughafen Tempelhof geht es dagegen um etwaige Vorwirkungen zugunsten des erst zustande gekommenen, aber noch nicht abgeschlossenen Volksbegehrens. - Dem Dresdener Bürgerentscheid lag ein verbindliches Verlangen zu Grunde, nämlich der Vollzug des Planfeststellungsbeschlusses aus dem Jahre 1996. Das Volksbegehren Tempelhof richtet sich dagegen an das Abgeordnetenhaus mit der Aufforderung, einen Appell an die Senatsverwaltung zu richten. Ein möglicher rechtlicher Ansatzpunkt für das Volksbegehren der Initiative City- Airport Tempelhof e.V. (ICAT) könnte sich nur aus dem Verfassungsprinzip der Organtreue ergeben. In Bezug auf Volksbegehren existieren bislang aber nur vereinzelte Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Dabei hat es festgestellt, dass das Parlament, das von einem durch Volksentscheid zustande gekommenen Gesetz abweichen will, sich eingehend mit dem darin zum Ausdruck gekommenen Volkswillen auseinander setzen muss. Grenzen werden dem parlamentarischen Gesetzgeber aber nur im Falle der Willkür gesetzt. Ein Geltungsvorrang plebiszitärer Entscheidungen wird dagegen abgelehnt. Die vorhandenen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen deuten zudem auf eine sehr begrenzte Bindungskraft. Sperrwirkungen schon im Vorfeld eines Volksentscheids wurden bislang nicht erwogen. Auch der Verfassung von Berlin und dem Berliner Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid kann keine Sperrwirkung von Volksbegehren entnommen werden. Ein Organstreitverfahren vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof erscheint bereits aus diesem Grund nicht aussichtsreich, selbst wenn der Volksentscheid erfolgreich sein sollte. Zudem hat sich der Berliner Verfassungsgerichtshof bislang kritisch zur Parteifähigkeit der Träger eines Volksbegehrens geäußert. Auf die rechtliche Beurteilung der Entwidmungsentscheidung der Senatsverwaltung hat der Fortgang des Volksbegehrens keinen Einfluss. Selbst bei einem erfolgreichen Volksentscheid wäre die Senatsverwaltung rechtlich nicht verpflichtet, die Entwidmung wieder rückgängig zu machen. Dies ergibt sich bereits aus dem rein politischen Charakter des Volksbegehrens „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“. Entsprechende Klagen hätten ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg: Dritte können im Bezug auf die Schließung des Flughafens keine Verletzung eigener Rechte geltend machen, da diese Entscheidung allein nach luftverkehrsrechtlichem Planungsermessen zu treffen ist. Auch in der Sache ist die Rechtslage nicht wesentlich anders zu beurteilen als beim Widerruf der Betriebserlaubnis. Insoweit hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Rechtmäßigkeit aber bereits bejaht. - Inhalt - 1. Prüfungsgegenstand 6 2. Begrifflichkeiten 6 2.1. Bundesebene 6 2.2. Länderebene 7 2.3. Kommunale Ebene 8 3. Regelungen nach Berliner Landesrecht 9 3.1. Landesebene 9 3.2. Bezirksebene 9 4. Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ 10 4.1. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur „Waldschlösschenbrücke“ 10 4.1.1. Wesentlicher Inhalt der Entscheidung 10 4.1.2. Auswirkungen der Entscheidung auf das Volksbegehren Tempelhof 10 4.2. Keine ausdrückliche Sperrwirkung in Berlin 11 4.3. Sperrwirkung analog § 45 Abs. 5 BezVerwG Bln? 11 4.4. Grundsatz der Organtreue 13 4.4.1. Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts 13 4.4.2. Aussagen anderer Landesverfassungen 14 4.4.3. Zwischenergebnis 14 4.5. Verbindlichkeit von Volksbegehren nach Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfBln 15 4.6. Zusammenfassung 16 5. Erfolgsaussichten gerichtlichen Rechtsschutzes im Fall Tempelhof 16 5.1. Erfolgaussichten eines Antrags im Organstreitverfahren 16 5.2. Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage 17 5.2.1. Zulässigkeit einer Anfechtungsklage 17 5.2.2. Begründetheit einer Anfechtungsklage 19 5.3. Sonstige rechtliche Möglichkeiten 19 - 6 - 1. Prüfungsgegenstand Untersucht wird im Folgenden - ob bzw. welche Auswirkungen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur „Waldschlösschenbrücke“1 auf das laufende Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ hat, - ob ordnungsgemäß zustande gekommene Volksbegehren bis zum Volksentscheid im Allgemeinen und nach Berliner Verfassungsrecht im Besonderen für andere Verfassungsorgane eine Sperrwirkung entfalten, - welche Erfolgsaussichten ein Antrag im Organstreitverfahren beim Berliner Verfassungsgerichtshof hat, - welchen Einfluss ein erfolgreicher Volksentscheid auf bereits getroffene Verwaltungsentscheidungen hat und - ob die Bundesrepublik Deutschland als Haupteigentümerin der von der Entwidmung betroffenen Liegenschaften bzw. Dritte rechtliche Möglichkeiten haben, gegen die Stilllegung des Flughafens Tempelhof vorzugehen. 2. Begrifflichkeiten Unter dem Oberbegriff Plebiszit werden unterschiedliche Formen unmittelbarer Bürgerbeteiligung zusammengefasst. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort plebiscitum ab und setzt sich aus plebs (= Volk) und scitum (= Beschluss) zusammen. Er kann daher auch als Volksbeschluss umschrieben werden. Die Berechtigung zur Teilnahme an Plebisziten ist in der Regel an die Wahlberechtigung zu dem Organ geknüpft, dessen Entscheidung das Plebiszit ersetzen soll2. 2.1. Bundesebene Das Grundgesetz erklärt Volksentscheide, -begehren und -befragungen in Einzelfällen für zulässig. Dabei überlässt es die Ausgestaltung und Durchführung den Bundesländern , vgl. Art. 29 Abs. 2 bis 6 und 8, 118 sowie 118a GG. Im Bund selbst findet keine unmittelbare Beteiligung des Volkes statt. 1 BVerfG, DVBl. 2007, 901 ff. 2 Siehe umfassend zu den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie Krause, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, Demokratie – Bundesorgane, 3. Auflage 2005, § 35. - 7 - 2.2. Länderebene In allen Landesverfassungen sind Regelungen zu direktdemokratischen Abstimmungen enthalten3. Dabei werden in der Regel die Begriffe Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid verwandt4. Die Volksinitiative ist darauf gerichtet, das Parlament mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen. Neben dieser Befassungspflicht entstehen keine weiteren rechtlichen Bindungswirkungen. Insbesondere folgt aus ihr kein Anspruch auf eine bestimmte Sachentscheidung. Weiter als die Volksinitiative geht das Volksbegehren. Es stellt grundsätzlich einen Antrag an das Parlament dar, einen konkreten Gesetzesbeschluss zu fassen, der ggfs. durch eine unmittelbare Abstimmung des Volkes ersetzt werden kann5. Dabei muss das Vorhaben in die Gesetzgebungskompetenz des Landes fallen. In einigen Bundesländern kann sich ein Volksbegehren auch auf einen bestimmten Gegenstand der politischen Willensbildung beziehen6. In diesen Fällen ist das Volksbegehren auf die Fassung eines schlichten Parlamentsbeschlusses gerichtet. Das Verfahren des Volksbegehrens unterteilt sich in eine Initiativphase und eine Befragungsphase . Die meisten Landesverfassungen verwenden für die Initiativphase den Begriff Volksbegehren und bezeichnen die Befragungsphase als Volksentscheid. Soweit das Volksbegehren verfassungsrechtlich zulässig ist und durch eine ausreichende Anzahl von Wahlberechtigten unterstützt wird, wird es von der Landesregierung dem Parlament zur Beschlussfassung vorgelegt. Zugleich nimmt die Landesregierung zum Inhalt des Volksbegehrens Stellung. Lehnt das Parlament das Volksbegehren ab, so ist auf Antrag der Vertreter des Volksbegehrens innerhalb einer bestimmten Frist ein Volksentscheid durchzuführen. Der Volksentscheid stellt die eigentliche Befragung der wahlberechtigten Bevölkerung dar und unterliegt je nach Landesverfassung unterschiedlichen Anforderungen hinsicht- 3 Art. 59, 60 VerfBaWü; Art. 71, 73, 74 VerfBay; Art. 61 – 63 VerfBln; Art. 76 – 78 VerfBra; Art. 69 – 74 und Art. 123 VerfBrem; Art. 48, 50 VerfHmb; Art. 116, 117, 124 VerfHess; Art. 55, 59, 60 VerfMecklVo; Art. 42, 47 – 50 VerfNds; Art. 67a, 68 VerfNRW; Art. 107 – 109, Art. 115 Verf RhlPf; Art. 99, 100 VerfSaarl; Art. 70 – 73 VerfSachs; Art. 77, 80, 81 VerfSachsAn; Art. 37, 41, 42 VerfSchlH und Art. 81, 82 VerfThür; einen guten Überblick über die Rechtslage in den Bundesländern bietet die Ausarbeitung „Direkte Demokratie: Rechtsgrundlagen und Praxis in den deutschen Bundesländern“ vom 4.2.2005 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reg.- Nr. WF III - 336/04. 4 Art. 71 VerfSachs verwendet den Begriff des Volksantrags anstelle Volksinitiative. 5 Allerdings sehen alle Landesverfassungen vor, dass Volksbegehren auf einzelnen Sachgebieten unzulässig sind. Dies betrifft in erster Linie Personalangelegenheiten und haushaltsrelevante Fragen. 6 Art. 77 Abs. 1 VerfBra; Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfBln; Art. 50 Abs. 1 S. 1 VerfHmb und Art. 42 Abs. 1 S. 1 VerfSchlH. - 8 - lich der Anzahl der insgesamt abgegebenen Stimmen (Quorum). Wird das erforderliche Quorum erreicht, so ist der Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit der abgegebenen Stimmen dem Antrag zustimmt. Für das Verfahren bei Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden haben die Länder Ausführungsgesetze erlassen7. 2.3. Kommunale Ebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid entsprechen auf kommunaler Ebene den Begriffen Bürgerinitiative8, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Die Bürgerinitiative ist auf die Befassung der Gemeindevertretung mit einem bestimmten Gegenstand gerichtet, das Bürgerbegehren dagegen auf die Fassung eines entsprechenden Beschlusses. Soweit der Beschluss abgelehnt wird, kann er durch einen erfolgreichen Bürgerentscheid ersetzt werden. Bürgerinitiative und Bürgerbegehren sind nur zulässig, wenn ihre Gegenstände in die Zuständigkeit der Gemeindevertretung fallen9. Gegenüber dem Volksbegehren weist das Verfahren des kommunalen Bürgerbegehrens aber Besonderheiten auf: So dürfen in einigen Bundesländern in dem Zeitraum zwischen Initiativ- und Befragungsphase die Gemeindevertretung und -verwaltung keine Beschlüsse fassen bzw. umsetzen, die dem Bürgerbegehren widersprechen oder es vereiteln , so genannte Sperrwirkung10. Voraussetzung ist, dass das Bürgerbegehren ordnungsgemäß zustande gekommen ist, also in der Initiativphase ausreichend Unterstützer gefunden hat, und einen zulässigen Gegenstand zum Inhalt hat. 7 Baden-Württemberg: Gesetz über Volksabstimmung und Volksbegehren (VAbstGBaWü); Bayern: Gesetz über Landtagswahl, Volksbegehren und Volksentscheid (LWGBay); Berlin: Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VolksentG Bln); Brandenburg: Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VAGBra); Bremen: Gesetz über das Verfahren beim Volksentscheid (VolkentGBrem); Hamburg: Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VVVGHmb); Hessen: Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid (VVGHess); Mecklenburg-Vorpommern: Gesetz zur Ausführung von Initiativen aus dem Volk, Volksbegehren und Volksentscheid (VVVGMecklVo); Niedersachsen: Gesetz über Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid (VAbstGNds); Nordrhein- Westfalen: Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VI- VBVEGNRW); Rheinland-Pfalz: Landeswahlgesetz (WahlGRhPf); Saarland: Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid (VAbstGSaarl); Sachsen: Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid (VVGSachs); Sachsen-Anhalt: Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VAbstGSachsAn); Schleswig-Holstein: Gesetz über Initiativen aus dem Volk, Volksbegehren und Volksentscheid (VAbstGSchlH); Thüringen: Gesetz über das Verfahren bei Bürgerantrag, Volksbegehren und Volksentscheid (BVVGThür). 8 § 44 des Berliner Bezirksverwaltungsgesetzes verwendet den Begriff Einwohnerantrag. 9 Auch das Bürgerbegehren ist auf einigen Sachgebieten unzulässig. 10 § 18a Abs. 9 GemO Bay und § 16g Abs. 5 S. 2 GemO SchlH. - 9 - 3. Regelungen nach Berliner Landesrecht 3.1. Landesebene Im Land Berlin sind die einschlägigen Regelungen in den Artikeln 61 bis 63 der Verfassung von Berlin11 (VerfBln) und dem Berliner Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid12 enthalten. Seit der Verfassungsänderung im Jahr 200613 kann ein Volksbegehren auch darauf gerichtet sein, Beschlüsse über bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung durch das Abgeordnetenhaus herbeizuführen , Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfBln. Darüber hinaus wurden die Anforderungen für Volksinitiativen , Volksbegehren und Volksentscheide erheblich abgesenkt14. Eine Anpassung des Berliner Volksentscheidsgesetzes steht noch aus. 3.2. Bezirksebene Auf bezirklicher Ebene finden sich in den §§ 44 bis 47 des Berliner Bezirksverwaltungsgesetzes (BezVerwG Bln) Bestimmungen zu plebiszitären Entscheidungen. Sie sind den Regelungen zu den kommunalrechtlichen Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden nachgebildet, obschon die Berliner Bezirke keine selbständigen Gemeinden i.S.d. Art. 28 Abs. 2 GG, sondern rechtlich unselbständige Organisationseinheiten der Senatsverwaltung darstellen. Das BezVerwG enthält eine Regelung zur Sperrwirkung von Bürgerbegehren, die sich an § 18a Abs. 9 GemO Bay orientiert15. § 45 Abs. 5 BezVerwG Bln ordnet an16: „Ist das Zustandekommen eines Bürgerbegehrens festgestellt, dürfen die Organe des Bezirks bis zur Durchführung des Bürgerentscheids weder eine dem Bürgerbegehren entgegenstehende Entscheidung treffen noch mit dem Vollzug einer solchen Entscheidung beginnen, es sei denn, hierzu besteht eine rechtliche Verpflichtung.“ 11 Davon zu unterscheiden sind Einwohnerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerbescheid nach den §§ 44 ff. Bezirksverwaltungsgesetz Berlin. Dazu noch unten und ausführlich Platter, Der Bürgerentscheid in den Berliner Bezirken – Erweiterung demokratischer Teilhaberechte oder basisdemokratische Attrappe ?, LKV 2006, 295 ff. 12 Berliner Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Volksentscheidsgesetz) – VolksentG Bln – vom 11.6.1997, GVBl. S. 304. 13 Achtes Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 25.5.2006, GVBl. S. 446; vgl. auch den Leitfaden zur Durchführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden im Land Berlin (Stand: Oktober 2006) des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“, im Internet unter: http://bb.mehr-demokratie.de. 14 Vgl. die Begründung zum interfraktionellen Antrag in AH-Drs. 15/5038. 15 Vgl. dazu die Entscheidung BayVerfGH, NVwZ-RR 1998, 82 ff., die eine frühere Fassung des § 18a GemO Bay für verfassungswidrig erklärte. 16 Ursprünglich war geplant, die Sperrwirkung bereits bei Vorlage der Hälfte der erforderlichen Unterschriften eintreten zu lassen, vgl. AH-Drs. 15/3708 vom 24.2.2005. - 10 - 4. Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ 4.1. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur „Waldschlösschenbrücke“ 4.1.1. Wesentlicher Inhalt der Entscheidung Jüngst hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde der Landeshauptstadt Dresden nicht zur Entscheidung angenommen17. Darin wandte sich die Stadt Dresden gegen zwei Bescheide des Regierungspräsidiums Dresden und einen bestätigenden Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts18. Dem Rechtsstreit lag eine Ersatzvornahme der Kommunalaufsichtsbehörde bzgl. der Vergabe von Bauleistungen zur Errichtung einer Elbquerung, bekannt unter dem Namen „Waldschlösschenbrücke “, zugrunde. Der Stadtrat hatte das Verfahren nach Intervention des Welterbekomitees ausgesetzt, obwohl sich in einem Bürgerentscheid am 27. Februar 2005 eine Mehrheit der Bürger19 für den Bau der Brücke ausgesprochen hatte. Nach § 24 Abs. 4 der Sächsischen Gemeindeordnung steht ein Bürgerentscheid einem Beschluss des Gemeinderats gleich und kann innerhalb einer Frist von drei Jahren nur durch einen weiteren Bürgerentscheid abgeändert werden. Damit ist der Oberbürgermeister zum Vollzug des Bürgerentscheids verpflichtet. Die Bindungsfrist läuft am 28. Februar 2008 ab. Das Gericht führte aus, dass sich die Landeshauptstadt Dresden zwar auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG und den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG berufen könne. Diese Rechte seien durch das Sächsische Oberverwaltungsgericht jedoch nicht verletzt worden. Insbesondere hielt das Bundesverfassungsgericht die summarische Prüfung der Rechtslage im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes für ausreichend. 4.1.2. Auswirkungen der Entscheidung auf das Volksbegehren Tempelhof Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich für den Sachverhalt Verkehrsflughafen Tempelhof keine weiterführenden Erkenntnisse: - Im Dresdner Sachverhalt lag ein wirksamer Bürgerentscheid vor, dessen Bindungswirkung durch die Sächsische Gemeindeordnung für drei Jahre angeordnet wird. Im Fall des Volksbegehrens Tempelhof ist bislang die Initiativphase abgeschlossen und das Volksbegehren wirksam zustande gekommen. Der Volksentscheid steht noch aus. Ein zu beachtender Volkswille hat sich noch nicht gebildet. - Der Bürgerentscheid zur Waldschlösschenbrücke betraf ein Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene. Auf dieser Ebene spielen Fragen der Gewaltenteilung und des freien Mandats eine untergeordnetere Rolle als auf staatlicher Ebene, weil von 17 BVerfG, DVBl. 2007, 901 ff. 18 OVG Dresden, DÖV 2007, 564 ff. und VG Dresden, Beschluss vom 30.8.2006, Aktenzeichen 12 K 1768/06 (juris). 19 Mehrheit bezogen auf die abgegebenen Stimmen. - 11 - etwaigen Bindungswirkungen kein Legislativorgan betroffen ist. Der Stadtrat stellt ein kollegiales Exekutivorgan dar. In Berlin ist eine vergleichbare Konstellation nur auf bezirklicher Ebene anzutreffen. - Die Schließung des Verkehrsflughafens Tempelhof ist eine Angelegenheit, die in die Zuständigkeit der Berliner Senatsverwaltung fällt. Nach Art. 87d Abs. 2 GG können die Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung den Ländern durch Gesetz als Auftragsverwaltung übertragen werden. Eine entsprechende Regelung ist in § 31 Abs. 2 LuftVG enthalten. Auf der Landesebene kann jedoch nur das Abgeordnetenhaus Erklärungen an den Senat richten. 4.2. Keine ausdrückliche Sperrwirkung in Berlin Die Verfassung von Berlin und das Berliner Volksentscheidsgesetz enthalten keine ausdrückliche Sperrwirkung für ordnungsgemäß zustande gekommene Volksbegehren. Eine Gesetzesinitiative der Fraktionen von CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sieht die Einführung einer Sperrwirkung auf staatlicher Ebene vor. Dadurch solle verhindert werden, dass der Senat oder das Abgeordnetenhaus vollendete Tatsachen schaffen , bevor der Willensbildungsprozess des Volkes abgeschlossen ist20. § 26 Abs. 4 VolksentG Bln n.F. soll lauten: „Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, so darf bis zur Durchführung des Volksentscheides weder der Senat noch das Abgeordnetenhaus eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung treffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung beginnen, es sei denn, schon zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrages auf Zulassung des Volksbegehrens haben rechtliche Verpflichtungen dazu bestanden. Davon unberührt bleibt die Gesetzgebungskompetenz des Abgeordnetenhauses.“ Der Vorstoß war auch Gegenstand der ersten Lesung am 5. Juli 2007 und wurde unter der Bezeichnung „aufschiebende Wirkung“ diskutiert21. Der Gesetzentwurf wurde an den Ausschuss für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Immunität und Geschäftsordnung überwiesen. Er ist noch nicht beraten worden22. Die geplante Sperrwirkung käme aber allenfalls künftigen Volksbegehren zugute. 4.3. Sperrwirkung analog § 45 Abs. 5 BezVerwG Bln? Denkbar wäre, die Regelungen im Bezirksverwaltungsgesetz analog anzuwenden. Eine entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens des § 45 Abs. 5 BezVerwG Bln auf 20 AH-Drs. 16/0690, S. 7, Begründung zu § 26 Abs. 4 n.F. 21 AH-Plen.-Prot. 16/15, lfd. Nr. 10. 22 Quelle: Parlamentsdokumentation des Abgeordnetenhauses Berlin (PARDOK), Stand: 19.7.2007. - 12 - Volksbegehren dürfte jedoch ausgeschlossen sein. Die Konfliktlagen auf bezirklicher und staatlicher Ebene unterscheiden sich nämlich grundlegend voneinander: Auf bezirklicher Ebene findet die Sperrwirkung ihre Rechtfertigung in der geringen Reichweite bezirklicher Angelegenheiten und in der Eigenschaft der Bezirksorgane als Organisationseinheiten der Senatsverwaltung. Es handelt sich um Untergliederungen der vollziehenden Gewalt, für die der Vorrang des Gesetzes gilt, Art. 20 Abs. 3 GG. Im Gegensatz dazu nimmt das Abgeordnetenhaus legislative Funktionen wahr. Es ist ein repräsentatives Legislativorgan, das über eine demokratische Legitimation durch das Berliner Wahlvolk verfügt. Dieser qualitative Unterschied zwischen Volksentscheid und Bürgerentscheid kommt in Art. 3 Abs. 2 S. 1 VerfBln zum Ausdruck: „Die gesetzgebende Gewalt wird durch Volksabstimmungen, Volksentscheide und durch die Volksvertretung ausgeübt, die vollziehende Gewalt durch die Regierung und die Verwaltung sowie in den Bezirken im Wege von Bürgerentscheiden .“ Abgeordnetenhaus und Wahlvolk sind ebenbürtige Ausformungen der gesetzgebenden Gewalt, die nach Art. 20 Abs. 3 GG nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden sind. Auch Art. 59 Abs. 2 VerfBln geht von der Gleichrangigkeit von Abgeordnetenhaus und Volksbegehren als Gesetzesinitiatoren aus: „Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Abgeordnetenhauses, durch den Senat oder im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden.“ Aus dieser Gleichrangigkeit23 entsteht ein natürliches Konkurrenz- und Spannungsverhältnis , das nach dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie zugunsten des parlamentarischen Gesetzgebers aufgelöst wird24. In diesem System wird die politische Willensbildung grundsätzlich dem Parlament als institutionalisiertem Legislativorgan 23 Ausführlich zur Gleichrangigkeit von Volkswillensbildung und parlamentarischer Willensbildung und m.w.N. HVerfG, Urteil vom 15.12.2004, Aktenzeichen HVerfG 6/04, (juris) = DÖV 2005, 252 = NVwZ 2005, 685, im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen; vgl. dazu auch die Information 14/71 „Wirkung von Volksentscheiden“ des Parlamentarischen Beratungs- und Gutachterdienstes des Landtags NRW vom 5.9.2005, abrufbar über die Homepage des Landtages NRW: www.landtag.nrw.de › Dokumente › Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst › Ausarbeitungen und Gutachten › Aktuelles aus der Rechtsprechung , letzter Aufruf: 1.8.2007; kritisch zu dieser Entscheidung Bull, Der Volksentscheid: unverbindlich und folgenlos?, NordÖR 2005, 99 ff. und Engelken, Kann ein Volksbegehren Sperrwirkung für Gesetzgebung und Regierung haben?, DVBl. 2005, 415 ff. 24 Lediglich Peine will die Gleichrangigkeit von Parlament und Volk in der Gesetzgebung um ein personelles Element anreichern. Nach der Theorie des actus contrarius dürfe daher nur das Volk plebiszitär gefasste Entscheidungen abändern. Peine, Volksbeschlossene Gesetze und ihre Änderung durch den parlamentarischen Gesetzgeber, Der Staat 18 (1979), 375 (398). Das läuft auf eine beschränkte Präferenz gegenüber dem Parlament hinaus. - 13 - überantwortet. Die plebiszitäre Beteiligung der Wahlbevölkerung bleibt demgegenüber die Ausnahme und ist in einzelnen Bereichen ganz ausgeschlossen. Die Annahme einer Sperrwirkung zugunsten direktdemokratischer Entscheidungen würde die Legitimation des Abgeordnetenhauses beschränken und dem aktualisierten Volkswillen den Vorrang einräumen. Eine derartige Beschränkung kann nicht auf eine analoge Anwendung des Berliner Bezirksverwaltungsgesetzes gestützt werden. 4.4. Grundsatz der Organtreue Schließlich folgt auch aus dem Grundsatz der Organtreue nichts anderes. Nach diesem Grundsatz haben sich Staatsorgane im Verhältnis zueinander so zu verhalten, dass sie ihre verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten verantwortlich und gewissenhaft, frei von Zeitnot und Pressionen ausüben können25. 4.4.1. Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts Das Hamburgische Verfassungsgericht hat Volksinitiativen und das abstimmende Wahlvolk in den Schutzbereich dieses Grundsatzes einbezogen. Zugleich hat es aber deutlich gemacht, dass daraus nur eine politische Bindungswirkung folge26. Der Grundsatz der Organtreue gebiete zwar die Rücksichtnahme durch andere Staatsorgane 27 und generiere besondere Prüfungs- und Berücksichtigungspflichten bei der Änderung derartiger Gesetze. Diese Rücksichtnahmepflichten seien aber bereits dann gewahrt, wenn sich die Bürgerschaft nicht leichtfertig über den im Volksentscheid zum Ausdruck gekommenen Volkswillen hinwegsetzt, sondern diesen würdigt und danach seine Abwägung vornimmt28. Insbesondere müsse die Bürgerschaft die im Gesetzgebungsverfahren vorgesehenen Diskussions- und Abstimmungsprozesse sowie Erkenntnis - und Beratungsmöglichkeiten in parlamentarischen Fachgremien im Rahmen sachgerechter Arbeit ausschöpfen. Dabei müsse anhand ausführlicher und abwägender Ausführungen erkennbar werden, dass sich der parlamentarische Gesetzgeber mit dem Volksentscheid und dem darin zum Ausdruck gekommenen Willen des Volkes in der 25 Zum Grundsatz der Organtreue allgemein Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 37 ff. 26 HVerfG, Urteil vom 27.4.2007, Aktenzeichen HVerfG 3/06, (juris) = HmbJVBl. 2007, 48 ff., im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen , letzter Aufruf: 1.8.2007. 27 HVerfG, Urteil vom 27.4.2007, Aktenzeichen HVerfG 4/06, (juris), im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. 28 So bereits HVerfG, Urteil vom 15.12.2004, Aktenzeichen HVerfG 6/04, (juris) = DÖV 2005, 252 = NVwZ 2005, 685, im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. - 14 - Sache auseinandergesetzt und diesen bei seiner eigenen Entscheidungsfindung berücksichtigt hat. Diese Entscheidung habe das Verfassungsgericht aber nicht zu bewerten29. 4.4.2. Aussagen anderer Landesverfassungen Diese Grundlinie wird auch durch einen Vergleich der Landesverfassungen abgesichert . In den meisten Bundesländern haben Landesregierung oder Landtag das Recht, dem Volksbegehren einen eigenen Gesetzesvorschlag gegenüberzustellen30. In diesem Fall wird über beide Vorschläge gemeinsam in einem Volksentscheid abgestimmt. Aus diesem Recht zum Alternativvorschlag kann geschlossen werden, dass der Landesregierung weiterhin auch eine parallele Gesetzesinitiative über den parlamentarischen Gesetzgeber möglich bleibt. Dafür spricht auch § 7 Abs. 2 des Bremischen Gesetzes über das Verfahren beim Volksentscheid31: „Hat die Bürgerschaft nach Eingang des Zulassungsantrages beim Landeswahlleiter den begehrten Gesetzesentwurf mit Änderungen oder zum gleichen Gegenstand ein abweichendes Gesetz beschlossen, so tritt das durch Volksentscheid beschlossene Gesetz am Tage seines Inkrafttretens an die Stelle dieses Gesetzes.“ Eine solche Bestimmung ist nur sinnvoll, wenn die Bürgerschaft trotz wirksam zustande gekommenen Bürgerbegehrens berechtigt bleibt, eigene abweichende Gesetze zu beschließen 32. Erst der erfolgreiche Volksentscheid tritt dann an deren Stelle. 4.4.3. Zwischenergebnis Die Ausführungen des Hamburgischen Verfassungsgerichts können sinngemäß auf das Spannungsverhältnis zwischen den Initiatoren des Volksbegehrens Tempelhof und dem Berliner Abgeordnetenhaus bzw. Senat übertragen werden. Jedoch müssen die ohnehin schwachen Anforderungen an die parlamentarische Rücksichtnahme weiter abgesenkt werden, da sich ein Volkswille noch nicht gebildet hat. 29 HVerfG, Urteil vom 27.4.2007, Aktenzeichen HVerfG 4/06, (juris), im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. 30 Art. 60 Abs. 1 S. 2 VerfBaWü; Art. 74 Abs. 4 VerfBay; Art. 78 Abs. 1 S. 2 VerfBra; Art. 60 Abs. 3 S. 2 VerfMecklVo; Art. 49 Abs. 1 S. 2 VerfNds; Art. 100 Abs. 2 S. 2 VerfSaarl; Art. 72 Abs. 2 S. 3 VerfSachs; Art. 81 Abs. 4 S. 1 VerfSachsAn; Art. 42 Abs. 2 S. 2 VerfSchlH und Art. 82 Abs. 7 S. 2 VerfThür. 31 Bremisches Gesetz über das Verfahren beim Volksentscheid v. 27.2.1996 – VolksentGBrem – GBl. S. 41. 32 Zur historischen Verfassungslage in Bremen findet sich bei Peine (Fn. 24), 375 (389) ein interessanter Hinweis: So enthielt § 8 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen von 1920 eine Regelung, nach der es den staatlichen Organen nicht erlaubt war, durch Volksentscheid gefasste Beschlüsse in der laufenden Legislaturperiode zu ändern. Dies war erst nach einer neuen Wahl zur Bürgerschaft wieder möglich. In der Landesverfassung von 1947 ist eine solche Regelung nicht enthalten. - 15 - Der Berliner Senat ist daher von Verfassungs wegen lediglich gehalten, sich bei Entscheidungen zum Flughafen Tempelhof mit den Anliegen des Volksbegehrens auseinanderzusetzen . Eine Verpflichtung, die entsprechenden Verfahren einstweilig auszusetzen , folgt daraus nicht. 4.5. Verbindlichkeit von Volksbegehren nach Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfBln Selbst wenn man davon ausginge, dass sich die Pflicht zur Organtreue zu einer Stillhaltepflicht verdichten kann, so würden sich daraus für das Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen!“ keine Änderungen ergeben. Mit dem Volksbegehren Tempelhof wird das Abgeordnetenhaus aufgefordert, einen Appell an den Berliner Senat zu richten, mit dem dieser aufgefordert wird, seine Schließungsabsichten für den Flughafen Berlin-Tempelhof (THF) aufzugeben33. Ein derartiger Beschluss des Abgeordnetenhauses ist zwar verfassungsrechtlich zulässig, zugleich aber für die Senatsverwaltung rechtlich unverbindlich34. Er stellt lediglich eine politische Absichtserklärung des Abgeordnetenhauses gegenüber der Senatsverwaltung dar. Dieses Schicksal würde auch ein gleichlautender Volksentscheid teilen, da er den Parlamentsbeschluss nur ersetzt35: „Wenn ein dem Petitum der Volksinitiative vergleichbares Ersuchen der Bürgerschaft an den Senat für diesen nicht verbindlich ist, so muss dasselbe auch für einen erfolgreichen Volksentscheid mit demselben Wortlaut gelten. Da also sogar ein erfolgreicher Volksentscheid mit dem beantragten Text für den Senat nicht verbindlich wäre, so kann noch viel weniger schon vor der endgültigen Entscheidung des Volkes eine Sperrwirkung eintreten .“ 36 33 So auch die Stellungnahme des Senats von Berlin vom 14.5.2007 - SenInnSport I A 15 - 0149/334 -, AH-Drs. 16/0524, S. 1. 34 Zur Unverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, Demokratische Willensbildung – Die Staatsorgane des Bundes, 2. Auflage 1987, § 40 Rdnr. 12, S. 348 und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 26 II 2, S. 48 f. 35 In diesem Sinne hat auch das Hamburgische Verfassungsgericht wiederholt entschieden, vgl. HVerfG, Urteil vom 15.12.2003, Aktenzeichen HVerfG 4/03, (juris), Volksinitiative „Gesundheit ist keine Ware“; bestätigt durch HVerfG, Urteil vom 15.12.2004, Aktenzeichen HVerfG 6/04, (juris), mit Hinweisen zu den Beratungen im Verfassungsausschuss der Bürgerschaft und öffentlichen Anhörungen ; beide im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. 36 HVerfG, Urteil vom 15.12.2003, Aktenzeichen HVerfG 4/03, (juris), (Hervorhebung durch die Verfasser ), im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. - 16 - 4.6. Zusammenfassung Entscheidungen der Berliner Senatsverwaltung zwischen Zustandekommen eines Volksbegehrens und Volksentscheid können im Falle des Art. 62 Abs. 1 S. 2 VerfBln nicht verhindert werden. Die Missachtung (künftiger) politischer Absichtserklärungen stellt – auch wenn sie auf einem Volksentscheid beruhen – keinen Rechtsverstoß dar37. Freilich kann der politische Druck, der von einem Volksbegehren bzw. einem Volksentscheid ausgeht, dazu eingesetzt werden, die Senatsverwaltung auf diesem Wege von ihrem Vorhaben abzubringen38. 5. Erfolgsaussichten gerichtlichen Rechtsschutzes im Fall Tempelhof Rechtsschutz kommt auf landesverfassungsrechtlicher Ebene wegen einer möglichen Verletzung des Gebots der Organtreue in Betracht. Gegen die Entwidmung könnte auf verwaltungsgerichtlicher Ebene vorgegangen werden. 5.1. Erfolgaussichten eines Antrags im Organstreitverfahren Zu verfassungsrechtlichen Streitigkeiten gehören auch solche über Existenz und Reichweite von Pflichten aus der Organtreue gegenüber verfassungsgemäß zustande gekommenen Volksbegehren. Gemäß Art. 84 Abs. 2 Nr. 1 VerfBln entscheidet der Berliner Verfassungsgerichtshof hierüber im Organstreitverfahren. Fraglich erscheint bereits die Parteifähigkeit des ICAT e.V.. Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat im Jahre 1999 entschieden, dass der Träger eines Volksbegehrens – jedenfalls während der Initiativphase – keinen besonderen verfassungsrechtlichen Status innehabe und daher kein anderer Beteiligter i.S.d. Art. 84 Abs. 2 S. 1 VerfBln sei39. Sein Rechtsstatus ergebe sich allein aus den §§ 3 ff. VolksentG Bln und sei nicht hinreichend verfassungsrechtlich abgesichert40. Auch das Berliner Wahlvolk stelle keine verfassungsrechtlich organisierte Einheit dar, deren Rechte der Träger des Volksbegehrens im Organstreitverfahren verteidigen könne. Das Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs steht zwar im Gegensatz zu den 37 So auch Engelken, Kann ein Volksbegehren Sperrwirkung für Gesetzgebung und Regierung haben?, DVBl. 2005, 415 (419 f.). 38 Zur politischen Vorwirkung von kommunalen Referenden Bogumil, Direkte Demokratie als verhandlungsdemokratischer Impuls – Wirkungen kommunaler Referenden in NRW, Referat vom 22.6.2001, S. 10 f., in: Schiller (Hrsg.), Direkte Demokratie, Forschung und Perspektiven, 2002, S. 194 ff., im Internet unter: http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Joerg.Bogumil › Publikationen und Downloads › Aufsätze in Sammelbänden, letzter Aufruf: 1.8.2007. 39 VerfGH Bln, DVBl. 1999, 979 ff., ablehnend Engelken, Kann ein Volksbegehren Sperrwirkungen für Gesetzgebung und Regierung haben?, DVBl. 2005, 415 (417). 40 Aus § 41 Abs. 1 VolksentG Bln folgt nichts anderes, weil keiner der dort genannten Fälle vorliegt. - 17 - späteren Entscheidungen des Hamburgischen Verfassungsgerichtshofs41. Aber selbst unter Zugrundelegung der Praxis des Hamburgischen Verfassungsgerichts wäre ein Antrag mangels Verfassungsverstoßes (vgl. 4.6) jedenfalls unbegründet. 5.2. Erfolgsaussichten einer Anfechtungsklage Daneben kommt eine Anfechtungsklage gegen den Entwidmungsbescheid in Betracht. Eine derartige Klage könnte grundsätzlich vom Adressaten des Entwidmungsbescheides aber auch von Dritten erhoben werden. 5.2.1. Zulässigkeit einer Anfechtungsklage Dritte müssen darlegen, dass sie durch die Entwidmung in eigenen Rechten verletzt sind. In Betracht kommt allein die Verletzung von Normen, die erkennbar nicht nur dem Schutz öffentlicher Interessen, sondern auch dem Schutz eines individuell bestimmbaren und in qualifizierter Form betroffenen Personenkreises zu dienen bestimmt sind42. Solche ausdrücklich drittschützenden Vorschriften bzgl. der Entwidmung von Verkehrsflughäfen ergeben sich weder aus dem Luftverkehrsgesetz (LuftVG) noch aus der Luftverkehrszulassungsverordnung (LuftVZO)43. Lediglich bei der Ausübung luftverkehrsrechtlichen Planungsermessens können subjektive Rechte in die planerische Abwägung einzubeziehen sein44. Jedoch müssen abwägungserhebliche Interessen hinreichend konkret, individuell zu erfassen und als Einzelinteresse schutzwürdig sein45. Gewerbliche Fluggesellschaften und private Flughafennutzer haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer persönlichen Interessen und Belange oder auf eine bestimmte Entscheidung46. Der Grund: Gewerbliche Fluggesellschaften können sich nicht auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen, da kein betriebsbezogener Eingriff in einen bestehenden und ausgeübten Gewerbebetrieb vorliegt47. Und ein Anspruch auf die Erhaltung des Gemeingebrauchs an öffentlichen Sachen ist in Rechtsprechung und Literatur ebenso wenig anerkannt wie ein Anspruch auf dessen Gewährung48. Dritte können 41 HVerfG, Urteil vom 15.12.2003, Aktenzeichen HVerfG 4/03, (juris), bestätigt in HVerfG, Urteil vom 15.12.2004, Aktenzeichen HVerfG 6/04, (juris); beide im Internet unter: www.justiz.hamburg.de › Hamburgisches Verfassungsgericht › Aktuelle Entscheidungen, letzter Aufruf: 1.8.2007. 42 So genannte Schutznormtheorie, Kopp/Schenke, VwGO Kommentar, 14. Auflage 2005, § 42, Rn. 83 ff.; BVerfGE 27, 297 (307). 43 Ausführlich Sellner/Reidt, Verwaltungsrechtlicher Rechtsschutz von Flughafennutzern bei Kapazitätserweiterungen , -verringerungen und Schließung von Flughäfen, NVwZ 2004, 1168 (1170). 44 Kopp/Schenke (Fn. 42), § 42, Rn. 91; Sellner/Reidt (Fn. 43), 1168 (1171). 45 BVerwG, NVwZ-RR 1994, 189. 46 Kopp/Schenke (Fn. 42), § 42, Rn. 91. 47 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.11.2005, Aktenzeichen 12 A 3.05 (juris) zu Tegel. 48 Peine, Recht der öffentlichen Sachen, JZ 1996, 350 und 398 (406). - 18 - daher weder den Bau noch die Schließung öffentlicher Verkehrsflughäfen beanspruchen 49. Dies gilt auch für die Eigentümer der von der Entwidmung betroffenen Grundstücke und Liegenschaften. Grundsätzlich besteht auch kein Recht auf den Fortbestand einer günstigen Anbindung an einen Verkehrsflughafen50. Die im Einzugsgebiet wohnenden Fluggäste können sich daher nicht auf die Erhaltung ihres Anliegergebrauchs berufen. Allenfalls solche Unternehmen, die einen besonderen gewerblichen und rechtlich verankerten Standortbezug zu einem Verkehrsflughafen aufweisen, können die Berücksichtigung ihrer Belange einklagen51. Die entsprechende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nahm Bezug auf die Regelung des § 33 Abs. 2 S. 3 LuftVZO, nach der der Ort des Schwerpunktes der Ausbildung in der Erlaubnis für eine Flugschule bestimmt wird. Solche Erlaubnisse müssen für jeden Flughafen neu beantragt werden. Ob auch etwaige Kläger im Fall Tempelhof einen solchen rechtlichen Bezug zum Flughafen Berlin-Tempelhof nachweisen können, ist nicht bekannt. Schließlich vermitteln auch die Regelungen über das Volksbegehren und den Volksentscheid keinen Drittschutz, da sie allein auf die Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung ausgerichtet sind. Bei einer Anfechtungsklage wäre die Klagefrist zu beachten. Die Anfechtungsklage kann nur innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides52 erhoben werden , § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO. Der Lauf der Monatsfrist wird durch eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung in Gang gesetzt, § 58 Abs. 1 VwGO. Bei fehlerhafter oder unterbliebener Belehrung beginnt die Frist nicht zu laufen, § 58 Abs. 2 VwGO. Soweit die Klage von dritter Seite erhoben wird, stellt sich grundsätzlich kein Fristproblem53, wenn ihnen der Entwidmungsbescheid nicht bekanntgegeben wurde. 49 Sellner/Reidt (Fn. 43), 1168 (1170). 50 VGH Mannheim, ESVGH 45, 129. 51 BVerwG, NVwZ 1990, 262. 52 Der Bescheid lag den Verfassern nicht vor; ausweislich der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Barbara Hendricks auf die Frage des Abgeordneten Peter Rzepka (CDU/CSU), Drucksache 16/5683, Frage 29, wurde der Entwidmungsbescheid der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben am 18.6.2007 zugestellt. Die Bundesanstalt prüfe derzeit die dem Bescheid zugrunde liegenden rechtlichen Bewertungen. Dies beinhalte auch die Frage, welche prozessualen Möglichkeiten gegen den Bescheid offenstehen. Man gehe jedoch nach erster Einschätzung der Rechtslage davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts, vertreten durch das zuständige Ressort, mangels eigener, klagbarer Rechte im Entwidmungsverfahren nicht klagebefugt sei, vgl. BT-Plen.-Prot. 16/104, S. 10700 (Anlage 18). 53 Hier wird überwiegend mit dem Grundsatz der Verwirkung gearbeitet, vgl. Kopp/Schenke (Fn. 42), § 74, Rn. 18 ff. - 19 - 5.2.2. Begründetheit einer Anfechtungsklage Darüber hinaus bestehen auch an der Begründetheit einer Anfechtungsklage Bedenken. Die Entwidmung ist unmittelbare Folge des Widerrufs der Betriebsgenehmigung54. Dieser Widerruf ist nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg rechtmäßig ergangen55. Dass die Entwidmung wegen eines plebiszitären Aktes nachträglich rechtswidrig wird, ist mangels rechtlicher Bindungswirkung eines möglichen Volksentscheids ausgeschlossen. Im Übrigen gilt der als Rechtsverordnung erlassene und alle öffentlichen Stellen bindenden Landesentwicklungsplan - Flughafenstandortentwicklung der Länder Berlin und Brandenburg56 (LEP FS), der unter „Z1“ die Schließung der Flughäfen Berlin-Tegel und Berlin-Tempelhof sowie den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld als Single-Airport Flughafen Berlin-Brandenburg International (BBI) festlegt57. Der LEP FS erachtet eine Schließung des Flughafens Tempelhof vor der Kapazitätserweiterung in Schönefeld ausdrücklich für zulässig58. 5.3. Sonstige rechtliche Möglichkeiten Weitere rechtliche Möglichkeiten sind nicht ersichtlich. Hinsichtlich einer Feststellungsklage zur Weiternutzung des Flughafens Berlin-Tempelhof hat das Bundesverwaltungsgericht Bedenken an der Zulässigkeit geäußert59. Die Klage wurde daraufhin zurückgenommen 60. Ergänzend wird auf die Stellungnahmen der Bundesregierung hingewiesen 61. 54 Nach welchen Vorgaben sich die Entwidmung vollzieht, ist umstritten. Für die Rechtslage im Fall Tempelhof können die unterschiedlichen Rechtsansichten jedoch vernachlässigt werden, da die Senatsverwaltung sowohl den Widerruf der Betriebsgenehmigung als auch die Entwidmung zum 31.10.2008 verfügt hat. Damit werden beide Maßnahmen zum gleichen Zeitpunkt wirksam. Es kann somit offen bleiben, ob eine gesonderte Entwidmung des Geländes überhaupt erforderlich war. Zu den rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten bei der Schließung von Verkehrsflughäfen vgl. Giemulla, Zu den Absichten einer Stillegung des Flughafens Berlin-Tempelhof, ZLW 48 (1999), 23 ff. 55 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.2.2007, Aktenzeichen 12 A 1.05 (juris) zu Tempelhof und OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.11.2005, Aktenzeichen 12 A 3.05 (juris) zu Tegel. 56 BVerwG, Pressemitteilung Nr. 37/2007, zum Aktenzeichen BVerwG 4 A 5.07 vom 13.6.2007, www.bundesverwaltungsgericht.de. 57 LEP FS i.d.F. 30.5.2006, Festlegung Z1, S. 8; zur raumordnerischen Festlegung des BBI siehe BVerwG, Urteil vom 16.3.2006, Aktenzeichen 4 A 1075/04 = NVwZ-Beilage 2006, Heft 8, S. 7 ff. 58 Vgl. LEP FS i.d.F. 30.5.2006, Begründung zu Z1, S. 49. 59 Klage nach § 43 VwGO, vgl. BVerwG (Fn. 56). 60 BVerwG, Beschluss vom 22.6.2007, Aktenzeichen 4 A 5.07 (juris). 61 Vgl. u.a. Sitzung vom 20.9.2006, BT-Plen.-Prot. 16/50, S. 4854 f. (Frage 14); Sitzung vom 20.6.2007, BT-Plen.-Prot. 16/104, S. 10700 (Anlage 18). Eine Stellungnahme der Bundesregierung zum Antrag auf BT-Drs. 16/4813, den Flughafen Berlin-Tempelhof offenzuhalten, steht noch aus.