© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 259/20 Versammlungsfreiheit unter den Bedingungen der Corona-Pandemie Einschränkungen aus Infektionsschutzgründen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 2 Versammlungsfreiheit unter den Bedingungen der Corona-Pandemie Einschränkungen aus Infektionsschutzgründen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 259/20 Abschluss der Arbeit: 12. November 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 3 1. Ergebnis Die Frage nach den Möglichkeiten präventiver Einschränkung von Versammlungen (etwa durch ein Verbot bzw. die Anordnung von Auflagen für ihre Durchführung) aus Infektionsschutzgründen berührt den Grundsatz, dass hierfür aufgrund der herausragenden Bedeutung der in Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleisteten Versammlungsfreiheit der Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit gilt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die Versammlungsbehörden stets eine auf eine konkrete Gefahrenprognose gestützte Abwägung der Versammlungsfreiheit mit anderen Rechtsgütern im Einzelfall vorzunehmen (siehe unter 2.). Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Eilverfahren gegen Versammlungseinschränkungen unter den Bedingungen der Corona-Pandemie betont (siehe unter 3.). Einschränkungen des Versammlungsrechts aus Infektionsschutzgründen durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber müssen in jedem Fall Raum für Einzelfallentscheidungen belassen. 2. Allgemeine Grundsätze zur Versammlungsfreiheit und ihrer Einschränkbarkeit Nach Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Versammlungsfreiheit ist als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend.1 Sie gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.2 Es ist unerheblich , ob das Anliegen der Versammlung als nützlich und wertvoll eingeschätzt wird oder missbilligt wird.3 Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt , gewährleistet das Grundrecht zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung.4 Versammlungen müssen nicht erlaubt, aber regelmäßig angemeldet werden (vgl. § 14 Versammlungsgesetz – VersG5). Die Versammlungsfreiheit gilt nicht schrankenlos; vielmehr können Versammlungen unter freiem Himmel gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Es gilt der Maßstab strikter Verhältnismäßigkeit.6 Bei der dafür vorzunehmenden Abwägung sind der Versammlungsfreiheit gleichwertige Rechtsgüter, wie etwa insbesondere Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gegenüberzustellen. Einschränkungen können präventiv in Form von Auflagen oder Verboten (vgl. § 15 Abs. 1 VersG), während der Versammlung durch Auflösung (vgl. § 15 Abs. 3 VersG) erfolgen. Verbote und Auflösungen dürfen jedoch nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei 1 BVerfGE 128, 226 (250). 2 BVerfGE 69, 315, Ls. 1. 3 Vgl. BVerfGE 104, 92 (112). 4 BVerfGE 69, 315 (343); BVerfGE 128, 226 (250 f.). 5 Versammlungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789), das zuletzt durch Artikel 150 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. 6 Vgl. BVerfGE 69, 315 (349); BVerfGE 128, 226 (259). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 4 einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen .7 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt ein Versammlungsverbot als ultima ratio zudem voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist.8 Die Versammlungsbehörden sollen bei ihren Ordnungsmaßnahmen kooperativ-einvernehmliche Lösungen mit den Versammlungsveranstaltern anstreben. Aber auch Auflagen können einem Verbot gleichkommen, wenn etwa wegen auferlegten Änderungen von Ort oder Zeitpunkt der Versammlungszweck nicht mehr erreicht werden kann.9 Auflagen können nicht nur behördlich verfügt, sondern ggf. auch durch die Gerichte selbst im Eilrechtsschutz angeordnet werden. Bei Missachtung der Auflagen während der Versammlung steht das Instrument der Auflösung zur Verfügung. Die Gefahrenprognose der Versammlungsbehörde zur Begründung von beschränkenden Maßnahmen muss in jedem Fall auf konkreten Anhaltspunkten und Tatsachen beruhen; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen genügen nicht.10 Wird ein Versammlungsverbot auf die fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit zur Sicherstellung der Ordnung gestützt, so müssen dafür konkrete Tatsachen bezeichnet werden, die die behördliche oder gerichtliche Annahme mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als richtig erscheinen lassen.11 Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen können unter Umständen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisationskreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.12 3. Die Versammlungsfreiheit unter den Bedingungen der Corona-Pandemie Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben alle Bundesländer gestützt auf §§ 28, 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG)13 im Frühjahr 2020 Rechtsverordnungen erlassen, die die Versammlungsfreiheit erheblich einschränkten. Die Regelungen beinhalteten – meist implizit als Unterfall der allgemeinen Ausgangs- bzw. Kontaktbeschränkungen – zunächst pauschale Versammlungsverbote. Dabei waren meist Ausnahmegenehmigungstatbestände vorgesehen. Behördliche Untersagungen von Versammlungen, die auf die Rechtsverordnungen gestützt wurden, wurden anfangs durch die Gerichte mehrfach bestätigt.14 7 BVerfGE 69, 315 (354). 8 BVerfGE 69, 315 (353). 9 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand: 15. August 2020, Art. 8 Rn. 54. 10 Vgl. BVerfGE 69, 315 (353 f.). 11 Vgl. BVerfG-K, NJW 2000, 3052 f. 12 BVerfG-K NJW 2010, 141 (142). 13 Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385) geändert worden ist. 14 So etwa VGH Mannheim, Beschluss vom 15. April 2020, Az. VGH 1 S 1078/20; VGH Kassel, Beschluss vom 1. April 2020, Az. 2 B 925/20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 5 Das Bundesverfassungsgericht hingegen äußerte sich nach anfänglicher Zurückhaltung vor allem in zwei Beschlüssen im April 2020 grundlegend und gab den Anträgen gegen behördliche Versammlungsverbote in beiden Fällen statt.15 Es ließ dabei aber die Frage offen, ob die pauschalen Versammlungsverbote mit Erlaubnisvorbehalt in den Rechtsverordnungen der Länder als solche verhältnismäßig waren. Stattdessen stellte das Gericht darauf ab, dass die Behörden es unterlassen hätten, mildere Mittel zu einem Verbot zu prüfen. Lediglich pauschale Erwägungen, die jeder Versammlung entgegengehalten werden könnten, reichten nicht aus.16 Stattdessen sei Art. 8 GG durch eine Einzelfallbetrachtung in Ausübung des immer bestehenden Ermessens Rechnung zu tragen. Diese Grundsätze wurden vom Bundesverfassungsgericht auch in jüngerer Zeit bestätigt.17 Es hob auf die oben dargestellten Maßstäbe zur Versammlungsfreiheit ab (siehe 2.). Insbesondere seien Einschränkungen nur unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Die pauschalen Versammlungsverbote mit Erlaubnisvorbehalt in den Rechtsverordnungen der Länder wurden mittlerweile fast überall aufgehoben und durch allgemeine Vorgaben ersetzt: Unter anderem müssen Veranstalter ein Hygienekonzept erstellen, Versammlungsteilnehmer einen sog. Mund-Nase-Schutz tragen und das allgemeine Abstandsgebot beachten.18 Manche Rechtsverordnungen sehen differenzierte Vorgaben für Versammlungen je nach Teilnehmerzahl und stationärer bzw. sich fortbewegender Versammlung vor. So ist nach § 7 Abs. 1 Achte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung 19 in der Regel von einer Beschränkung der von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß auszugehen, wenn die Versammlung nicht mehr als 200 Teilnehmer hat und ortsfest stattfindet. In Schleswig- Holstein gilt für Versammlungen eine Obergrenze für die Teilnehmerzahl, wobei Ausnahmegenehmigungen erteilt werden können.20 In Sachsen sind Versammlungen ab dem 13. November 2020 ausschließlich ortsfest und mit höchstens 1.000 Teilnehmern zulässig.21 Auch hier ist eine Ausnahmegenehmigung möglich. Auch die Verwaltungsgerichte sind dazu übergegangen, der Versammlungsfreiheit wieder stärker Geltung zu verschaffen. Dabei wurde mit Hinweis auf die oben genannten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom April 2020 mehrfach Eilrechtsschutz gegen behördliche Verfügungen 15 Beschluss vom 15. April 2020, Az. 1 BvR 828/20, NJW 2020, 1426; Beschluss vom 17. April 2020, Az. 1 BvQ 37/20, NVwZ 2020, 711. 16 Beschluss vom 17. April 2020, Az. 1 BvQ 37/20, NVwZ 2020, 711 (712). 17 Beschluss vom 30. August 2020, Az. 1 BvQ 94/20, NVwZ 2020, 1508. 18 Vgl. etwa § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 2, § 5 Abs. 2 SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung Berlin vom 23. Juni 2020 (GVBl. S. 562), die zuletzt durch Verordnung vom 3. November 2020 (GVBl. S. 854) geändert worden ist. 19 Verordnung vom 30. Oktober 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 616, S. 1). 20 § 6 Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 1. November 2020. 21 § 9 Verordnung zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 vom 10. November 2020. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 6 gewährt.22 Als Beispiel mag hier die Begründung von Entscheidungen zu einer mit 22.500 Teilnehmern angemeldeten Großdemonstration gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie im Berliner Tiergarten am 29. August 2020 dienen. Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin verwies in seinem Beschluss vom 28. August 202023 darauf, dass Versammlungen nicht aufgrund von nicht näher begründeten Zweifeln an der Einhaltung dieser infektionsschutzrechtlichen Vorgaben verboten werden dürften. Aus der kritischen Haltung der Teilnehmer gegenüber Corona- Maßnahmen allein lasse sich keine mangelnde Bereitschaft zur Befolgung von Auflagen ableiten. Der Veranstalter habe seine Befolgungsbereitschaft beteuert und selbst konkrete Vorschläge zur Eindämmung des Infektionsrisikos und zur Einwirkung auf die Versammlungsteilnehmer etwa durch Ordner und Deeskalations-Teams gemacht. Der Ausdruck verschiedener Meinungen zum Umgang mit dem Corona-Virus sei durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gerade gewährleistet . Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller, der seinen Protest gegen die Corona- Maßnahmen mit großer Reichweite ausdrücken wolle, selbst ein Interesse daran habe, auf der Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln zu bestehen und insoweit auf die Versammlungsteilnehmer einzuwirken. Im weiteren Verfahrensgang schloss sich das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg der Argumentation des VG Berlin weitgehend an.24 Es sei darzulegen gewesen, dass die Infektionsgefahren nur mittels Durchsetzung des vorbeugenden Verbots zu verhindern gewesen wären. Sonst bliebe die Möglichkeit der Auflösung unberührt. Gegenüber dem behördlichen Argument, die Auflösung selbst sei ein das Infektionsrisiko erhöhender Faktor, wandte das OVG ein, der wesentliche Unterschied zur Durchsetzung des vorbeugend verfügten Verbots erschließe sich nicht. Denn die Verbotsverfügung sei so kurz vor Beginn der Versammlung erlassen worden, dass die zur Teilnahme entschlossenen Personen in jedem Fall anreisen würden. Das OVG sprach auch die Möglichkeit einer zahlenmäßigen Obergrenze für Versammlungen durch Rechtsverordnung an. Es schloss aus dem Fehlen einer solchen Obergrenze, dass der Verordnungsgeber bei der Durchführung von Versammlungen eine Infektionsgefahr in einem gewissen Umfang in Kauf nehme.25 Demnach scheint das Gericht davon auszugehen, dass noch ungenutzte Spielräume des Berliner Verordnungsgebers zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit bestehen. Jedenfalls dürfte es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber unumgänglich sein, gleichzeitig die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen und damit eine Einzelfallentscheidung zu ermöglichen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hielt in seinem Beschluss vom 11. September 202026 die einer Versammlung auferlegte Ortsverlegung vom Münchner Odeonsplatz auf die Theresienwiese zur Gewährleistung ihrer infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit für rechtmäßig. Eine Verlegung der Versammlung sei erforderlich, um eine wenigstens ganz überwiegende Einhaltung der 22 Siehe etwa OVG Bautzen, Beschluss vom 30. April 2020, Az. 3 B 167/20, BeckRS 2020, 7234 Rn. 10; OVG Koblenz, Beschluss vom 4. Juni 2020, Az. 7 B 10688/20.OVG, BeckRS 2020, 12284 Rn. 12 f. 23 VG Berlin, Beschluss vom 28. August 2020, Az. 1 L 296/20, COVuR 2020, 603 (605), Rn. 13 ff. 24 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. August 2020, Az. OVG 1 S 101/20, BeckRS 2020, 22113, Rn. 5 ff. 25 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. August 2020, Az. OVG 1 S 101/20, BeckRS 2020, 22113, Rn. 6. 26 BayVGH, Beschluss vom 11. September 2020, Az. 10 CS 20.2064, BeckRS 2020, 24844. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 7 infektionsschutzrechtlich erforderlichen Mindestabstände sicherzustellen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gewährte jedoch Eilrechtsschutz gegen die gleichzeitig verfügte Reduzierung der Teilnehmerzahl von 5.000 auf 1.000. Es sei nicht ersichtlich, dass dies zur Gewährleistung der infektionsschutzrechtlichen Vertretbarkeit zwingend erforderlich sei, da die Theresienwiese genügend Platz biete. Auch jüngst bestätigte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 1. November 2020 beschränkende Maßnahmen gegenüber zwei Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen („Querdenken“-Bewegung). Gegenüber der ersten Versammlung ergingen Auflagen.27 Unter anderem wurde die Teilnehmerzahl von 5.000 auf 1.000 beschränkt. Die Versammlungsbehörde dürfe bei ihrer Gefahrenprognose auch Erkenntnisse aus anderen Versammlungen der „Querdenker“ an anderen Orten in Deutschland einfließen lassen. Sie habe unter Angabe konkreter Anhaltspunkte schlüssig dargelegt, dass bezüglich des Mottos sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten bestünden. Das gegenüber der anderen Versammlung verfügte Verbot wurde aufrechterhalten , da deren Veranstalter kein Hygienekonzept vorgelegt, sondern stattdessen die Teilnehmer sogar ausdrücklich zur Missachtung von Abstandsgebot und Maskenpflicht aufgefordert hatte.28 Zuletzt gab das OVG Bautzen am 7. November 202029 dem Eilantrag gegen das Verbot der Großdemonstration von Gegnern der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie („Versammlung für die Freiheit“ – „Querdenken“-Bewegung) unter der Auflage einer begrenzten Teilnehmerzahl von 16.000 statt. Dem Antrag gegen die Ortsverlegung vom Leipziger Augustusplatz auf die Neue Messe wurde mit der Begründung stattgegeben, dass die Versammlung einen besonderen Ortsbezug aufweise und im besagten Innenstadtbereich genügend Platz sei, um die aus Infektionsschutzgründen gebotenen Mindestabstände einzuhalten. Zudem würden bei der Ortsverlegung neue Infektionsgefahren geschaffen, da die ohnehin anreisenden Teilnehmer sich überwiegend in der Innenstadt aufhalten würden. Gerade der angerissene Vergleich zwischen Entscheidungen der Gerichte in der Frühphase der Corona-Pandemie und aktuelleren Entscheidungen zeigt, dass sich weder eine restriktivere noch eine permissivere Linie auf künftige Fälle ohne weiteres übertragen lassen wird. Die Rechtslage und die tatsächlichen Verhältnisse – d.h. insbesondere die Infektionszahlen und das Ausmaß der Belastung des Gesundheitswesens – ändern sich fortwährend. Zudem hängt die Frage, ob eine Versammlung verboten werden darf oder – ggf. unter Auflagen – durchzuführen ist, von weiteren Aspekten des Einzelfalls ab. Darunter fallen etwa Versammlungsort, Teilnehmerzahl, das Vorliegen eines Hygienekonzepts und die Kooperation des Veranstalters mit der Versammlungsbehörde ebenso wie frühere Erfahrungen mit Veranstalter und zu erwartendem Teilnehmerkreis. In jedem Fall bleibt es bei der Notwendigkeit einer auf einer konkreten Gefahrenprognose basierenden Einzelfallentscheidung der zuständigen Versammlungsbehörde, welche von den unabhängigen Gerichten am Maßstab von Art. 8 GG überprüft werden kann. Eine gewisse Steuerungswirkung für die Einzelfallentscheidung der Versammlungsbehörde und ihre gerichtliche Bewertung kann von Regelungen 27 BayVGH, Beschluss vom 1. November 2020, Az. 10 CS 20.2449. 28 BayVGH, Beschluss vom 1. November 2020, Az. 10 CS 20.2450. 29 OVG Bautzen, Beschluss vom 7. November 2020, Az. 6 B 368/20. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/20 Seite 8 beispielsweise zur grundsätzlichen Obergrenze der Teilnehmerzahl ausgehen, die durch Verordnung oder Gesetz vorgeschriebenen werden (so zum Beispiel in Schleswig-Holstein). Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Obergrenze gibt es soweit ersichtlich noch keine Rechtsprechung. Einschränkungen des Versammlungsrechts aus Infektionsschutzgründen durch den Gesetz- bzw. Verordnungsgeber müssen in jedem Fall Raum für Einzelfallentscheidungen belassen. ***