© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 259/19 Schulpflicht und Gestaltung des Schulwesens Zulässigkeit der Verpflichtung von Schülern zu gesellschaftlichem oder sozialem Engagement Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Zum anderen befasst sich der Sachstand mit der Gesetzgebungskompetenz für die Ausgestaltung des Schulwesens und mit der Frage, ob eine Verpflichtung zu sozialem oder gesellschaftlichem Engagement für Schüler zulässig ist. 2. Schulpflicht Die Schulpflicht bestimmt die Pflicht von Kindern und Jugendlichen zum Besuch einer öffentlichen Schule oder einer Privatschule, die eine öffentliche Schule nach Art. 7 Abs. 4 S. 2 GG ersetzt (sog. Ersatzschule).1 Alle Bundesländer sehen eine Schulpflicht in ihren jeweiligen Schulgesetzen vor.2 Die Ausgestaltung der Schulpflicht unterscheidet sich im Einzelnen. In einem Großteil der Länder ist die Schulpflicht auch in der Verfassung festgeschrieben.3 Die Schulpflicht erstreckt sich neben der Teilnahme am Unterricht auch auf andere von der Schule für verbindlich erklärte Veranstaltungen.4 Abzugrenzen ist die Schulpflicht von der Unterrichtsteilnahmepflicht, die an weiterführenden Schulen gilt, für die keine Schulpflicht mehr besteht.5 Nach Art. 7 Abs. 1 GG hat der Staat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen. Die Vorschrift begründet nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne, sondern darüber hinaus einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag.6 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert die landesrechtliche Schulpflicht diesen staatlichen Auftrag.7 In Bezug auf die Grundschulpflicht hat das Gericht dazu ausgeführt: „Die Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags und ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich . Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen, sondern auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralisti- 1 Handschell, Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, 2012, S. 199. 2 Handschell, Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, 2012, S. 97. 3 Siehe etwa Art. 14 Abs. 1 Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 8 Abs. 2 Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen. 4 Böhm, Grundriß des Schulrechts in Deutschland, 1995, S. 10; vgl. etwa zur Teilnahme an einem Theaterprojekt BVerfG NJW 123, 111. 5 Thiel, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 11. 6 BVerfGE 93, 1 (21). 7 BVerfG NJW 2009, 3151 (3152). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/19 Seite 4 schen Gesellschaft sollen teilhaben können. [...] Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden , gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind.“8 Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung9 ist die Schulpflicht nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert. Ob sich das Bestehen der Schulpflicht neben der landesrechtlichen Festlegung auch aus dem Grundgesetz ableiten lässt, ist daher umstritten. Nach einer Ansicht ergibt sich aus dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG auch eine allgemeine Schulpflicht.10 Sie sei Teil der Verantwortung des Staates für das Schulwesen und eine der wenigen Grundpflichten, die das Grundgesetz statuiere.11 Die Gegenansicht geht davon aus, dass aus Art. 7 Abs. 1 GG keine Schulpflicht abgeleitet werden könne.12 Aus der Pflicht des Staates zur Aufsicht über das Schulwesen und zur Bereitstellung eines hinreichend ausgebauten Schulwesens ergebe sich keine Pflicht des Bürgers, dieses in Anspruch zu nehmen.13 Der parlamentarische Rat habe eine Schulpflicht in zahlreichen Landesverfassungen vorgefunden und deshalb auf eine Verankerung im Grundgesetz verzichtet.14 Vertreter dieser Ansicht betonen, dass die Länder die Schulpflicht auch abschaffen könnten.15 3. Gesetzgebungskompetenz für das Schulwesen Die Gesetzgebungskompetenz für das Schulwesen steht mangels anderweitiger Zuweisung gemäß Art. 70 Abs. 1 GG ausschließlich den Ländern zu.16 Die Kompetenz für das Schulwesen umfasst Befugnisse im Bereich der Schulorganisation sowie bei der Festsetzung und Ausgestaltung von 8 BVerfG NVwZ 2003, 1113 (1113). 9 Art. 145 S. 1 und 2 WRV besagten: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre.“ 10 Stern, in: derselbe, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 431 m.w.N; Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 87. EL März 2019, Art. 7 Rn. 54; Bolde, Die staatliche Veranstaltung Schule, 2009, S. 69; so wohl auch Thiel, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 11 ff. 11 Stern, in: derselbe, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 431. 12 Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 156 Rn. 47; Handschell , Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, 2012, S. 180; Thurn/Reimer, Homeschooling als Option?, in: NVwZ 2008, 718 (721); Beaucamp, Dürfte ein Bundesland die Schulpflicht abschaffen, DVBl. 2009, 220. 13 Handschell, Die Schulpflicht vor dem Grundgesetz, 2012, S. 180. 14 Thurn/Reimer, Homeschooling als Option?, in: NVwZ 2008, 718 (721). 15 Beaucamp, Dürfte ein Bundesland die Schulpflicht abschaffen, DVBl. 2009, 220; Thurn/Reimer, Homeschooling als Option?, in: NVwZ 2008, 718 (721). 16 BVerfGE 6, 309 (354 f.); Uhle, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 87. EL März 2019, Art. 70 Rn. 115. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/19 Seite 5 Unterrichtsinhalten und Erziehungszielen.17 Zur Kompetenz der Länder gehören somit sowohl die Regelung der Schulpflicht als auch die inhaltliche Ausgestaltung der mit dem Schulbesuch verbundenen Verpflichtungen.18 Den Schulverwaltungen wird in Bezug auf die Gestaltung des Unterrichts ein didaktisch-pädagogischer Beurteilungsspielraum eingeräumt.19 4. Zulässigkeit einer Verpflichtung zu gesellschaftlichem oder sozialem Engagement in der Schule Fraglich ist, ob eine Verpflichtung von Schülern zu gesellschaftlichem oder sozialem Engagement verfassungsrechtlich zulässig ist. Beispiele für eine solche Verpflichtung existieren bereits: Zahlreiche Schulen sehen ein „Sozialpraktikum“ in einer bestimmten Klassenstufe vor.20 Die Schüler sind dabei verpflichtet, für einige Tage oder wenige Wochen ein Praktikum in einer sozialen Einrichtung zu absolvieren. Die verfassungsrechtliche Beurteilung einer solchen Regelung hängt von der konkreten Ausgestaltung ab. Verpflichtungen für Schüler greifen zum einen in deren allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG ein, zum anderen in das elterliche Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 GG. Die Grundrechte von Schülern und deren Eltern werden durch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG begrenzt.21 Wie jeder Grundrechtseingriff müsste die Verpflichtung verhältnismäßig sein, also einem legitimen Zweck dienen, zum Erreichen dieses Zwecks geeignet und erforderlich sowie angemessen sein.22 Als legitimer Zweck eines für Schüler verpflichtenden gesellschaftlichen oder sozialen Engagements kommt die Förderung bestimmter Erziehungsziele in Betracht. Der Staat ist bei der Gestaltung des Schulwesens nicht auf die reine Wissensvermittlung beschränkt, sondern kann eigene Erziehungsziele verfolgen und insbesondere darauf abzielen, die Schüler zu selbstverantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft heranzubilden.23 Zahlreiche Länder haben Erziehungsziele in ihrer Verfassung oder ihren Schulgesetzen verankert. So benennt die Verfassung Sachsens in Art. 101 Abs. 1 unter anderem die Erziehung zu „sittlichem und politischem Verantwortungsbewusstsein “ und zu „sozialem Handeln“. Eine Verpflichtung zu gesellschaftlichem oder sozialem Engagement dürfte geeignet sein, der Förderung solcher Erziehungsziele zu dienen. 17 BVerfGE 52, 223 (236); Thiel, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 7 Rn. 1. 18 Für eine beispielhafte Aufzählung von Regelungsbereichen siehe Stern, in: derselbe, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 437. 19 Stern, in: derselbe, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 436. 20 Siehe etwa https://www.thomaeum.de/unterricht/mittelstufe/sozialpraktikum.html oder https://theresienschule .de/allgemeines/sozialpraktikum/ (Stand: 14 November 2019). 21 Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 41. Edition Stand: 15. November 2018, Art. 7 Rn. 31; Brosius- Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2013, Art. 6 Rn. 171. 22 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 87. EL März 2019, Art. 20 VII Rn. 117. 23 BVerfGE 47, 46 (72). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 259/19 Seite 6 Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn kein milderes Mittel ersichtlich ist, dass in gleicher Weise geeignet ist, den Zweck der Maßnahme zu fördern. Gegen eine Verpflichtung zu gesellschaftlichem oder sozialem Engagement könnte eingewandt werden, dass etwa die Förderung von freiwilligem Engagement ein weniger belastender Eingriff wäre. Dem könnte aber entgegnet werden, dass nur durch eine Verpflichtung sichergestellt wäre, dass alle Schüler einen Einblick in gesellschaftliches oder soziales Engagement erhalten. Vergleichbar dürfte eine solche Verpflichtung mit dem Praktikum zur Berufsorientierung sein, dass in allen Bundesländern zumindest für bestimmte Schultypen verpflichtend ist.24 Allerdings könnte eine Verpflichtung auch Unwillen gegenüber sozialem oder gesellschaftlichem Engagement hervorrufen und damit zu einem gegenteiligen Effekt als dem gewünschten führen. Letztlich steht dem Staat bei der Entscheidung , ob er eine Maßnahme für erforderlich hält, ein Beurteilungsspielraum zu.25 Die Verpflichtung müsste auch angemessen sein. Eine Maßnahme ist angemessen, wenn sie sich nach einer Abwägung der der gegenüberstehenden Interessen als zumutbar erweist.26 Relevant für eine Bewertung der Angemessenheit dürfte etwa sein, ob die Schüler die Einrichtung, in der sie sich betätigen, nach eigenen Interesse wählen dürfen, ob und in welcher Weise eine Bewertung des Engagements erfolgt und ob das Erfüllen der Verpflichtung Voraussetzung für die Versetzung in die nächste Klassenstufe ist. Insbesondere dürfte der zeitliche und inhaltliche Umfang der Verpflichtung maßgeblich sein. Entscheidend wäre zum einen, dass die Verpflichtung nicht das Erreichen anderer Unterrichts- bzw. Erziehungsziele gefährdet, weil die Schüler nicht mehr genügend Zeit für sonstige Schulverpflichtungen haben. Zum anderen darf die Verpflichtung nicht einen solchen zeitlichen und inhaltlichen Umfang einnehmen, dass sie den Charakter einer allgemeinen Dienstpflicht bekommt. Eine solche Dienstpflicht könnte nach herrschender Meinung wegen eines Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 2 GG nicht ohne Verfassungsänderung eingeführt werden .27 Ein Praktikum, das nur wenige Wochen andauert, wie es etwa beim bereits erwähnten Praktikum zur Berufsorientierung der Fall ist, dürfte in dieser Hinsicht unproblematisch sein. *** 24 Für eine Übersicht über die entsprechenden Regelungen siehe Initiative Schule und Arbeitswelt, Gesetzliche Regelung betrieblicher Praktika in der Sekundarstufe I an allgemeinbildenden Schulen im Rahmen der Arbeitswelt - und Berufsorientierung, 2014, S. 7 ff., abrufbar unter https://schule.dgb.de/++co++56435350-ae01-11e4- b58a-52540023ef1a (Stand: 15. November 2019). 25 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 87. EL März 2019, Art. 20 VII Rn. 116. 26 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 87. EL März 2019, Art. 20 VII Rn. 117. 27 Siehe dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einzelfragen zur rechtlichen Möglichkeit der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, WD 3 - 3000 - 258/19.