© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 259/15 Zulässigkeit direkter Zurückweisung von Flüchtlingen an EU-Binnengrenzen der Bundesrepublik Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 2 Zulässigkeit direkter Zurückweisung von Flüchtlingen an EU-Binnengrenzen der Bundesrepublik Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 259/15 Abschluss der Arbeit: 30. Oktober 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zurückweisung bei versuchter Einreise ohne Asylbegehren 4 2.1. Zwingende Zurückweisung nach nationalem Recht 4 2.2. Ermessenszurückweisung nach nationalem Recht 4 2.3. Schengener Grenzkodex 5 2.3.1. Einreiseverweigerung 5 2.3.2. Ausnahme von der Einreiseverweigerung aus humanitären Gründen 6 2.4. Zurückweisungsverbote und -hindernisse 6 2.4.1. Besonderer Schutz von Minderjährigen 6 2.4.2. Entsprechende Geltung von Abschiebungsverboten 7 2.4.3. Asylbegehren 7 3. Zurückweisung bei versuchter Einreise mit Asylbegehren 8 3.1. Zulässigkeit der Einreiseverweigerung 8 3.2. Absehen von Einreiseverweigerung 9 3.2.1. (Un)Zuständigkeit der Bundesrepublik nach der Dublin III-Verordnung 10 3.2.2. Anordnung des Bundesministeriums des Innern 12 4. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 4 1. Einleitung Gefragt wird, unter welchen Voraussetzungen eine Zurückweisung von Flüchtlingen an EU- Binnengrenzen mit geltendem Recht vereinbar ist. Welche rechtlichen Grundlagen Anwendung finden, richtet sich danach, ob der an der Grenze befindliche Ausländer Asyl begehrt (hierzu 3.) oder nicht (hierzu 2.). 2. Zurückweisung bei versuchter Einreise ohne Asylbegehren Grundsätzlich ist die Zurückweisung von Ausländern, die über den Landweg in die Bundesrepublik einreisen wollen, in § 15 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. Dieser unterscheidet zwischen zwingenden Zurückweisungsgründen (§ 15 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 AufenthG) und der Zurückweisung nach Ermessen (§ 15 Abs. 2 AufenthG). 2.1. Zwingende Zurückweisung nach nationalem Recht Zwingend ist ein Ausländer zurückzuweisen, der unerlaubt einreisen will (§ 15 Abs. 1 AufenthG). Die Einreise ist unerlaubt, wenn der Ausländer – keinen erforderlichen Pass(ersatz) (§ 14 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 AufenthG) oder Aufenthaltstitel (§ 14 Abs. 1 Nr. 2, § 4 AufenthG) besitzt, – zwar ein Visum als Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 AufenthG besitzt, dieses aber durch Drohung, Bestechung oder Kollusion erwirkt oder durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen wurde und deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen oder annulliert wird (§ 14 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG), oder – nicht einreisen darf, weil ihm gegenüber ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG ausgesprochen wurde. 2.2. Ermessenszurückweisung nach nationalem Recht Nach § 15 Abs. 2 AufenthG kann ein Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden, wenn – ein Ausweisungsinteresse besteht (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 54 AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung1), – der begründete Verdacht besteht, dass der Aufenthalt nicht dem angegebenen Zweck dient (§ 15 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG), 1 Vgl. BGBl I 2015, 1386 (1393, 1399). Das noch bis 31. Dezember 2015 geltende dreistufige Ausweisungsrecht kennt den Begriff des Ausweisungsinteresses nicht, sondern unterscheidet zwischen zwingender Ausweisung (§ 53), Ausweisung im Regelfall (§ 54) und Ermessensausweisung (§ 55). Nach dem zum 1. Januar 2016 in Kraft tretenden § 54 AufenthG liegt ein Ausweisungsinteresse insbesondere bei im Einzelnen genauer definierten, durch den Ausländer begangenen Straftaten vor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 5 – er nur über ein Schengen-Visum verfügt oder für einen kurzfristigen Aufenthalt von der Visumpflicht befreit ist und beabsichtigt, entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Erwerbstätigkeit auszuüben (§ 15 Abs. 2 Nr. 2a AufenthG) oder – er die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex nicht erfüllt (§ 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG). 2.3. Schengener Grenzkodex Die nationalen Zurückweisungsregelungen werden durch den gemeinschaftsrechtlich bedingten Anwendungsvorrang des Schengener Grenzkodex – SGK (Verordnung (EG) Nr. 562/2006) überlagert 2. 2.3.1. Einreiseverweigerung Die Einreiseverweigerung ist in Art. 13 SGK geregelt. Danach wird einem Drittstaatsangehörigen3, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 SGK erfüllt und der nicht zu dem in Art. 5 Abs. 4 SGK genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Nach Art. 5 Abs. 1 SGK muss der die Einreise begehrende Drittstaatsangehörige – im Besitz von im Einzelnen näher beschriebenen, zu Einreise und Aufenthalt berechtigenden Dokumenten sein (Art. 5 Abs. 1 a) und b) SGK), den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen und über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen (Art. 5 Abs. 1 c) SGK). – Der Drittstaatsangehörige darf nicht zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein (Art. 5 Abs. 1 d) SGK) und – darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen (Art. 5 Abs. 1 e) SGK). Erfüllt ein Drittstaatsangehöriger die genannten Voraussetzungen nicht, ist seine Einreise grundsätzlich – entgegen dem Ermessen einräumenden § 15 Abs. 2 AufenthG – zwingend zu verweigern4. 2 Winkelmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 15 AufenthG Rn. 9; Dollinger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck‘scher Online Kommentar Ausländerrecht, Stand 1. September 2014, § 15 AufenthG Rn. 17; Hailbronner zufolge „ergänzt“ der unmittelbar anwendbare Schengener Grenzkodex die Regeln des § 15 AufenthG, vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 1, 58. Aktualisierung Juni 2008, § 15 AufenthG Rn. 6. 3 Drittstaatsangehöriger im Sinne des SGK ist jede Person, die nicht Unionsbürger oder Bürger der Länder Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz ist (vgl. Art. 2 Nr. 6 SGK); letztgenannte Länder sind dem Schengen Abkommen beigetreten, vgl. Tiedemann, Flüchtlingsrecht 2015, S. 19. 4 Winkelmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 15 AufenthG Rn. 9; Dollinger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck‘scher Online Kommentar Ausländerrecht, Stand 1. September 2014, § 15 AufenthG Rn. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 6 2.3.2. Ausnahme von der Einreiseverweigerung aus humanitären Gründen Der SGK selbst sieht jedoch Ausnahmen vom Gebot der zwingenden Einreiseverweigerung vor: Soweit die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 4 SGK vorliegen, ergeht die Einreiseverweigerung nicht als gebundene Entscheidung, sondern steht im Ermessen der nationalen Behörden5. Insbesondere nach Art. 5 Abs. 4 c)6 SGK kann ein Mitgliedstaat Drittstaatsangehörigen, die eine oder mehrere Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 SGK nicht erfüllen, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestatten. In diese Abwägung sind insbesondere die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und die Grundrechte mit einzubeziehen. Zwar gewähren weder die EMRK7 noch die Grundrechte8 einen unmittelbaren Einreiseanspruch. Soweit jedoch durch die Einreiseverweigerung etwa familiäre Belange betroffen sind (z.B. weil sich Familienangehörige bereits im Mitgliedstaat befinden), sind staatliche Stellen nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet, bei der Entscheidung über ein Aufenthalts- oder Einreisebegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen9. 2.4. Zurückweisungsverbote und -hindernisse 2.4.1. Besonderer Schutz von Minderjährigen Besonderheiten dürften sich für die Zurückweisung unbegleiteter Minderjähriger ergeben. Zwar bestimmt § 80 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, dass die mangelnde Handlungsfähigkeit eines Minderjährigen seiner Zurückweisung nicht entgegensteht. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Norm wird jedoch weitgehend bezweifelt10. Insoweit wird vertreten, dass die Zurückweisung eines unbegleiteten Minderjährigen unter 16 Jahren, der nicht durch einen gesetzlichen Vertreter vertreten 5 Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 2015, juris Rn. 14. 6 Art. 5 Abs. 4 a) und b) SGK betreffen Ausnahmen der zwingenden Einreiseverweigerung in Fällen, in denen die Drittstaatsangehörigen über im Einzelnen näher beschriebene, zur Einreise berechtigende Dokumente verfügen. 7 St. Rspr. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR, vgl. nur Urteil vom 15. November 1996, NVwZ 1997, 1093 (1093); siehe auch Hofmann, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck‘scher Online Kommentar Ausländerrecht , Stand 1. August 2015, Art. 8 EMRK Vorbemerkung. 8 Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 2 Rn. 235a mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 9 Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 2015, juris Rn. 17: Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt einwanderungspolitische Belange etwa dann zurück, wenn „die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik stattfinden kann“. 10 Vgl. nur Samel, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 80 AufenthG Rn. 7; Dollinger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beckscher Online Kommentar Ausländerrecht, 8. Edition 1. September 2014, § 15 AufenthG Rn. 21; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 2, 47. Aktualisierung 2006, § 80 AufenthG Rn. 18; Westphal, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz, Kommentar, 1. Auflage 2010, § 15 AufenthG Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 7 ist, Art. 1 GG verletze11. Jedenfalls habe die Grenzpolizei im Hinblick auf den grundrechtlichen Kinderschutz (Art. 6 Abs. 2, Art. 1 Abs. 1 GG) bei der Zurückweisung von Minderjährigen zu gewährleisten, dass bei ihrer Ankunft im Zielstaat eine angemessene Aufnahme und Betreuung sichergestellt sei12. 2.4.2. Entsprechende Geltung von Abschiebungsverboten Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sind die in § 60 Abs. 1 bis 3, 5 und 7 bis 9 AufenthG normierten Abschiebungsverbote auf die Zurückweisung entsprechend anzuwenden. Die hier genannten Abschiebungsverbote beziehen sich allesamt auf spezifische Gefahren, die dem Ausländer in dem Staat drohen, in den seine Abschiebung erfolgen soll. Die Zurückweisung nach § 15 AufenthG erfolgt regelmäßig in den Staat, aus dem der Ausländer unmittelbar einzureisen versucht13. Die Bundesrepublik ist mit Ausnahme der Schweiz nur von Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgeben. Für Ausländer, die ohne Asylbegehren über den Landweg nach Deutschland einreisen wollen, dürften die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 AufenthG führenden Gefahren damit regelmäßig nicht gegeben sein14. 2.4.3. Asylbegehren Das Asylbegehren eines Ausländers stellt nach § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG insoweit ein Zurückweisungshindernis dar, als ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nicht zurückgewiesen werden darf, solange ihm der Aufenthalt im Bundesgebiet nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes gestattet ist. Ähnlich formuliert der SGK einen Anwendungsvorrang der asylrechtlichen Bestimmungen: Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 2 SGK bleibt die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz von den Bestimmungen des SGK zur Einreiseverweigerung unberührt. 11 Westphal, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz, Kommentar, 1. Auflage 2010, § 15 AufenthG Rn. 16; anders Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 2, 47. Aktualisierung 2006, § 80 AufenthG Rn. 19 ff. 12 Dollinger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck‘scher Online Kommentar Ausländerrecht, 8. Edition 1. September 2014, § 15 AufenthG Rn. 21; für die nach Vertreterbestellung erfolgende Zurückweisung Westphal, in: Huber (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz, Kommentar, 1. Auflage 2010, § 15 AufenthG Rn. 17. 13 Winkelmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 15 AufenthG Rn. 37; Dollinger, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck‘scher Online Kommentar Ausländerrecht, 8. Edition 1. September 2014, § 15 AufenthG Rn. 3. 14 Die insoweit vorliegende Einordnung dieser Staaten als sichere Drittstaaten wird im Folgenden, im Zusammenhang mit bei der Einreise begehrtem Asyl relevant (unten 3.1.). Diese Frage des Vorliegens von Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 AufenthG könnte im Hinblick darauf, dass nach neuerer Rechtsprechung des EGMR und Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 EU-Grundrechtscharta verstoßende Behandlung auch in EU-Mitgliedstaaten möglich sein kann (vgl. hierzu unten, 3.2.1.), in Zukunft anders zu bewerten sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 8 3. Zurückweisung bei versuchter Einreise mit Asylbegehren Ob dem Ausländer, der an einer Binnengrenze in die Bundesrepublik einreisen will und um Asyl nachsucht15, der Aufenthalt im Bundesgebiet nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes gestattet ist (vgl. § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG), richtet sich insbesondere nach § 18 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG). Danach ist ein Ausländer, der bei einer Grenzbehörde um Asyl nachsucht, grundsätzlich unverzüglich an die zuständige oder nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten (§ 18 Abs. 1 AsylVfG). Von diesem Grundsatz sind jedoch zahlreiche Ausnahmen vorgesehen. 3.1. Zulässigkeit der Einreiseverweigerung Nach § 18 Abs. 2 AsylVfG ist dem Ausländer trotz Asylbegehrens die Einreise zu verweigern, wenn er – aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) einreist (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG), – Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird (§ 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG) oder – er (unter näher beschriebenen Voraussetzungen) eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet (§ 18 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG). Maßgebliche Rechtsvorschrift der Europäischen Gemeinschaft im Sinne des § 14 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG ist die unmittelbar zur Anwendung kommende Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Dublin III-Verordnung16. Zum Verhältnis der genannten Ausschlussgründe wird vertreten, dass der in § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG genannte, auf der allgemeinen Verfolgungssicherheit beruhende Zurückweisungsgrund der Herkunft aus einem sicheren Drittstaat Vorrang vor den anderen Ausschlussgründen habe17. 15 Der Begriff der Asylnachsuche umfasst nach § 13 Abs. 1 AsylVfG die Nachsuche um Schutz durch die Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a GG, § 2 AsylVfG), die Zuerkennung der Eigenschaft als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) (Art. 1 A GFK, Art. 9 ff. Richtlinie 2011/95/EU, § 3 AsylVfG) oder als international subsidiär Schutzberechtigter (vgl. Art. 15 ff. Richtlinie 2011/95/EU, § 4 AsylVfG). 16 Vgl. zu Hintergrund und Vorgängerregelungen Tiedemann, Flüchtlingsrecht 2015, S. 112 Fn. 2. Zu Neuregelungen in der Dublin III-VO Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014, 5 ff. 17 Winkelmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 18 AsylVfG Rn. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 9 Da die Bundesrepublik nur von sicheren Drittstaaten umgeben sei, sei somit grundsätzlich jeder auf dem Landweg einreisende asylsuchende Ausländer zurückzuweisen18. Die mit § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG gemeinten Zuständigkeitsregelungen der EU dürften der Zurückweisung in einen sicheren Drittstaat nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG jedoch jedenfalls dann vorgehen, wenn dieser sichere Drittstaat auch Mitgliedstaat im Sinne der Zuständigkeitsregelung der EU ist19. Im Zusammenhang mit Art. 16a GG hat das Bundesverfassungsgericht insoweit entschieden , dass Drittstaatenregelungen im Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG hinter völkerrechtlichen Vereinbarungen im Sinne von Art. 16a Abs. 5 GG zurücktreten20 und mithin auch bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat zu prüfen ist, ob die Bundesrepublik vorrangig für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist21. 3.2. Absehen von Einreiseverweigerung Soweit man einen Vorrang des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG annimmt, ergibt sich die Unzulässigkeit der Zurückweisung des Ausländers bei völker- oder unionsrechtlich vereinbarter Zuständigkeit der Bundesrepublik für das Asylverfahren jedenfalls aus § 18 Abs. 4 AsylVfG. Dieser sieht für die Einreise aus einem sicheren Drittstaat22 insgesamt vor, dass von der Einreiseverweigerung abzusehen ist, – soweit die Bundesrepublik auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG) oder – das Bundesministerium des Innern es aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik angeordnet hat (§ 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG). In diesen Fällen darf die Einreise aus dem sicheren Drittstaat nicht verweigert werden23. 18 Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band. 3, 65. Aktualisierung August 2009, § 18 AsylVfG Rn. 23. „Für eine Einreise auf dem Landweg ist insoweit ausreichend, dass der Ausländer nur über irgendeinen sicheren Drittstaat die Bundesrepublik erreicht haben kann“. Vgl. auch Aust/Malzahn, Aufstand gegen Merkel?, Welt am Sonntag vom 25. Oktober 2015, Seite 4. 19 So noch für Dublin II-VO Bruns, in: Hofmann/Hoffmann (Hrsg.), Handkommentar Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, § 18 AsylVfG Rn. 14, 21: „Vorrang der europarechtlichen Bestimmungen gegenüber der Drittstaatenregelung“. 20 BVerfGE 94, 49 (86). 21 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2003 – 2 BvR 1880/00 – juris Rn. 16 f. 22 Wenn die Einreise in die Bundesrepublik über den Landweg erfolgt, ist das immer der Fall. 23 BT-Drucks 12/4450, S. 19. Siehe auch Senge, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, Kommentar, 176. Ergänzungslieferung Juli 2009, § 18 AsylVfG Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 10 3.2.1. (Un)Zuständigkeit der Bundesrepublik nach der Dublin III-Verordnung Für die Zulässigkeit der Einreiseverweigerung muss also nach § 14 Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG insbesondere geprüft werden, ob die Bundesrepublik nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung (DublinVO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist24. Danach ist grundsätzlich der Mitgliedstaat zuständig, – dessen Grenzen der Asylsuchende aus einem Drittland kommend illegal überschritten hat (Art. 13 Abs. 1 DublinVO); soweit seit diesem Übertritt 12 Monate vergangen sind, ist der Staat zuständig, – in dem sich der Asylsuchende zuvor mindestens 5 Monate illegal aufgehalten hat (Art. 13 Abs. 2 DublinVO). Daneben gibt es die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 DublinVO (Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde). Sie dürfte für die vorliegende Konstellation keine Anwendung finden. Sie tritt nur dann ein, wenn sich der nach den grundsätzlichen Regeln zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 DublinVO). Bei der vorliegenden Konstellation der Zurückweisung von Ausländern an den EU- Binnengrenzen Deutschlands ist offensichtlich, aus welchem Mitgliedstaat der Ausländer die Einreise begehrt. Nach den Regelzuständigkeiten ergibt sich also, dass die Bundesrepublik für Asylverfahren von Ausländern, die über die Landesgrenze Einreise begehren, nicht zuständig und mithin die Verweigerung der Einreise nach § 18 Abs. 2 Nr. 1, 2, Abs. 4 Nr. 1 AsylVfG grundsätzlich zulässig ist. Ausnahmen können sich abweichend von diesen Regelzuständigkeiten aus Sonderzuständigkeitsbestimmungen der DublinVO ergeben. Insoweit gilt für – unbegleitete Minderjährige25, dass grundsätzlich der Staat für das Verfahren zuständig ist, in dem sich ein Angehöriger rechtmäßig aufhält (Art. 8 Abs. 1 DublinVO) und soweit keine Angehörigen vorhanden sind die Zuständigkeit beim Staat der Antragstellung liegt (Art. 8 Abs. 4 DublinVO); – Asylbegehrende, die Familienangehörige haben, die bereits Begünstigte internationalen Schutzes sind, dass grundsätzlich der Staat zuständig ist, in dem der Familienangehörige anerkannt wurde (Art. 9 DublinVO) und für – Asylbegehrende, bei deren Familienangehörigen bereits ein Verfahren anhängig ist, dass grundsätzlich der Staat zuständig ist, in dem das Verfahren anhängig ist (Art. 10 DublinVO). 24 Winkelmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 18 AsylVfG Rn. 31. Vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 3, 65. Aktualisierung 2009, § 18 AsylVfG Rn. 26. 25 Vgl. zu diesen Neuregelungen grundlegend Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung , ZAR 2014, 5 (6 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 11 Unabhängig von diesen Zuständigkeitsregelungen kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er für die Prüfung nicht zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 DublinVO). Die Zulassung der Einreise trotz Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates wäre nach diesem Selbsteintrittsrecht26 also nicht rechtswidrig. Die Dublin III-Verordnung regelt weiterhin erstmals das Problem „systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ im an sich zuständigen Mitgliedstaat27: „Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikel 4 der EU-Grundrechtecharta28 mit sich bringen“, so prüft der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 DublinVO). Kann keine Überstellung vorgenommen werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 DublinVO). Hintergrund dieser Regelung sind internationale29 und nationale30 Gerichtsentscheidungen, die die Zurückführung von Asylsuchenden in das eigentlich für das Verfahren zuständige Land aus Gründen systemischer Mängel als unzulässig untersagt haben31. Ob sich hieraus auch eine Verpflichtung der Bundesrepublik ergeben könnte, an der Binnengrenze unmittelbar Asylsuchende einreisen zu lassen, wenn offensichtlich ist, dass sie in dem angrenzenden Staat der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sind, war noch nicht Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen32. 26 Zum Selbsteintrittsrecht Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014, 5 (9 ff.). 27 Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014, 5 (8). 28 Dieser ist identisch mit Art. 3 EMRK (Folterverbot), vgl. Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014, 5 (8). 29 Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – NVwZ 2012, 417 (420 f.); EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – juris Rn. 33; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, NVwZ 2011, 413: Rückführung nach Griechenland als Verstoß gegen Art. 3 EMRK; EGMR, Urteil vom 4. November 2014, NVwZ 2015, 127: Rückführung nach Italien als Verstoß gegen Art. 3 EMRK. 30 Vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014, NVwZ 2014, 1039 und Beschluss vom 6. Juni 2014, NVwZ 2014, 1677. 31 Vgl. für eine aktuelle Rechtsprechungsübersicht Tiedemann, Rückführung von Asylbewerbern nach Italien, NVwZ 2015, 121 ff. 32 Problematisch erscheint hieran, dass sich Mitgliedstaaten durch faktische Untätigkeit aus ihrer Verantwortung befreien könnten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 Seite 12 3.2.2. Anordnung des Bundesministeriums des Innern Die in § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylVfG vorgesehene Möglichkeit der Anordnung der Einreise durch das Bundesministerium des Innern kann im Einzelfall ergehen33, sich aber auch auf eine Gruppe von Asylbewerbern beziehen34. Humanitäre Gründe können sich daraus ergeben, dass wegen der persönlichen Situation eines Asylbewerbers (Notwendigkeit ärztlicher Versorgung, Transportunfähigkeit ) eine sofortige Zurückweisung ausscheidet35. Die Anordnung ist als politische Entscheidung grundsätzlich nicht überprüfbar36. 4. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Zurückweisung von Flüchtlingen an den EU-Binnengrenzen der Bundesrepublik grundsätzlich mit geltendem Recht vereinbar sein kann, sich aber unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls eine Verpflichtung der Bundesrepublik ergeben kann, die Einreise (asylbegehrender) Flüchtlinge zuzulassen. (Ende der Bearbeitung) 33 Auch durch entsprechendes Ersuchen des Erlasses einer entsprechenden Anordnung durch Bundespolizeiamt oder Grenzschutzbehörde, vgl. Bruns, in: Hofmann/Hoffmann (Hrsg.), Handkommentar Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, § 18 AsylVfG Rn. 22. 34 Senge, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg), Strafrechtliche Nebengesetze, 176. Ergänzungslieferung Juli 2009, § 18 AsylVfG Rn. 9. 35 Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 3, 65. Aktualisierung August 2009, § 18 AsylVfG Rn. 42. 36 Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Band 3, 65. Aktualisierung August 2009, § 18 AsylVfG Rn. 43.