Grundrechte und Grundrechtecharta in Großbritannien - Ausarbeitung - © 2007 Deutscher Bundestag WD 3 - 259/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Grundrechte und Grundrechtscharta in Großbritannien Ausarbeitung WD 3 – 259/07 Abschluss der Arbeit: 6. Juli 2007 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Zusammenfassung Auch wenn die Grundrechtecharta nach dem geplanten Reformvertrag für Großbritannien formal nicht gelten soll, dürfte dort gleichwohl ein der Grundrechtecharta entsprechender Schutzstandard gelten. Zum einen überschneiden sich die Anwendungsbereiche der Grundrechtecharta und der in Großbritannien anwendbaren Europäischen Menschenrechtskonvention fast vollständig. Zum anderen beruht die Grundrechtecharta auf den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Sachverhalte mit einem entscheidungserheblichen unterschiedlichen Schutzstandard auf britischer und auf europarechtlicher Ebene dürften daher eher akademisch-theoretischer Natur sein. In prozessualer Hinsicht ist britischen Gerichten die Berufung auf die Grundrechtecharta – auch im Hinblick auf Vorabentscheidungsersuchen – jedoch verwehrt. Auch der EuGH dürfte seine Entscheidungen bei Vorabvorlagen britischer Gerichte wohl nicht auf die Grundrechtecharta stützen können, wohl aber auf die letztlich deckungsgleichen , auch in Großbritannien geltenden „in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze“1. Allerdings ist der Kommission bzw. den Mitgliedstaaten theoretisch die Möglichkeit eröffnet, gegen Großbritannien ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Grundrechtecharta einzuleiten. Alles in allem dürfte der Ausschluss der Grundrechtecharta für Großbritannien im Ergebnis eher eine diplomatische als eine relevante rechtliche Wirkung haben. 2. Ausgangssituation Der Europäische Rat hat eine Regierungskonferenz mandatiert, auf Grundlage des Verfassungsentwurfs vom 29. Oktober 2004 und der Ergebnisse der Ratssitzung vom 21. bis 22. Juni 2007 einen Reformvertrag auszuarbeiten. Die – rechtlich nicht bindenden – Vorgaben des Rates sind in seinem Übermittlungsvermerk vom 23. Juni 20072 zusammengefasst. Auf S. 25 des Übermittlungsvermerks ist für die künftige Fassung des EU-Vertrags in dessen Art. 6 eine Verweisung auf die Grundrechtecharta vorgesehen . Nach dem in Fußnote 19 des Übermittlungsvermerks enthaltenen Protokoll („Großbritannien-Protokoll“) soll dieser Verweis für Großbritannien nur eingeschränkt gelten. 1 Sechste Erwägung des „Großbritannien-Protokolls“, Übermittlungsvermerk der Kommission vom 23. Juni 2007, 11177/07 (in der Fassung des Korrigendums COR 1 REV 1 vom 26. Juni 2007), S. 25, Fn. 19. 2 11177/07 in der Fassung des Korrigendums COR 1 REV 1 vom 26. Juni 2007. - 4 - 3. Politischer Hintergrund des „Großbritannien-Protokolls“ Presseberichten zufolge stehen hinter dem „Großbritannien-Protokoll“ folgende politische Erwägungen: a) Die britische Regierung befürchte, durch die Grundrechtecharta beim Arbeitsrecht an Einfluss zu verlieren (Welt am Sonntag vom 24. Juni 2007; Guardian vom 26. Juni 2007). b) Die britische Regierung sehe die Gefahr, die Grundrechtecharta könne zur Rechtsgrundlage für die britische Sozialgesetzgebung werden (Financial Times Deutschland vom 25. Juni 2007, S. 27; Guardian, vom 26. Juni 2007). c) Großbritannien habe keine (geschriebene) Verfassung und wolle eine solche über die Grundrechtecharta auch nicht aufgezwungen bekommen (Spiegel online vom 23. Juni 2007). d) Die britische Regierung wolle nicht, dass der EuGH sich in nationale Gerichtsverfahren („British litigation“) einmische (Guardian vom 23. Juni 2007). Die oben unter a) und b) aufgeführten Gründe werden in der öffentlichen Diskussion häufig genannt, tatsächlich dürften aber die Gründe c) und d) die für die britische Regierung wichtigeren sein. 4. Rechtliche Auswirkung des „Großbritannien-Protokolls“ im Verhältnis Mitgliedstaat und Bürger Art. 1 Abs. 1 des „Großbritannien-Protokolls“ lautet wie folgt: Durch die Charta wird die Befugnis eines Gerichts des Vereinigten Königreichs nicht in der Weise ausgedehnt, dass ein Gericht des Vereinigten Königreichs feststellen könnte, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften , die Praktiken oder das Handeln des Vereinigten Königreichs nicht mit den in der Charta enthaltenen Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen. 4.1. Verringertes materielles Schutzniveau in Großbritannien? Der materielle Grundrechtsstandard Großbritanniens dürfte durch Art. 1 Abs. 1 des „Großbritannien-Protokolls“ grundsätzlich nicht hinter dem europäischen Niveau zurückfallen . Dies ergibt sich zu weiten Teilen schon aus der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention in britisches Recht3 mit Wirkung zum 2. Oktober 3 Human Rights Act 1998, Statute book [1998] chapter 42. - 5 - 2000. Nach Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta darf der Schutzbereich der Charta zwar über den Schutzbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention hinausgehen . Dies wirkt sich jedoch nach der Auflistung4 des Präsidiums des Grundrechtekonvents nur im Randbereich vor allem der folgenden Charta-Artikel marginal aus: - Art. 9 – Ehe und Familie (Ausweitung auf weitere Formen der Eheschließung) - Art. 12 – Versammlungsfreiheit (Anwendung auch auf Union) - Art. 14 – Recht auf Bildung (Ausweitung auf Zugang zur Ausbildung) - Art. 47 – Recht auf wirksamen Rechtsbehelf (Ausweitung) - Art. 50 – ne bis in idem (Ausweitung auf Union / Mitgliedstaaten) Für diesen verbleibenden Randbereich dürfte Folgendes gelten: Die sechste Erwägung des „Großbritannien-Protokolls“ hält fest, „dass die Charta die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze bekräftigt und diese Rechte besser sichtbar macht, aber keine neuen Rechte oder Grundsätze schafft“ [Hervorhebung durch Verfasser ]. Ferner soll die Regierungskonferenz folgende Erklärung vereinbaren: Die Charta der Grundrechte, die rechtsverbindlich ist, bekräftigt die Grundrechte, die durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden und die sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben .5 Damit soll die Grundrechtecharta das Schutzniveau einzelner Mitgliedstaaten nicht heben , sondern lediglich das gemeinsame Schutzniveau in einem Dokument ausdrücken. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass bei der Auslegung der auf gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten beruhenden Grundrechte nach Art. 52 Abs. 4 der Charta im Einzelfall „divergierende Traditionen“6 zu Tage treten. D. h., es wäre im Ergebnis theoretisch denkbar, dass außerhalb des Anwendungsbereichs der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Chartagrundrecht nach autonomer europäischer Auslegung einen höheren Schutzstandard gewährt, als ein entsprechendes nationales (britisches) Grundrecht. 4 Borowsky in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., 2006, Art. 52 Rn. 31f. 5 Fußnote 17 des Übermittlungsvermerkes des Rates 11177/07 vom 23. Juni 2007 in der Fassung des Korrigendums COR 1 REV 1 vom 26. Juni 2007; Hervorhebung durch Verfasser. 6 Borowsky in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., 2006, Art. 52 Rn. 44. - 6 - Ein fiktives Beispiel könnte wie folgt aussehen: Großbritannien würde die „Richtlinie über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums“7 in einer Weise anwenden, die zwar nicht nationales Recht verletzt, aber das Recht der Betroffenen aus Art. 14 der Charta auf Zugang zur beruflichen Bildung verletzt, und zwar außerhalb des Anwendungsbereichs der Europäischen Menschenrechtskonvention 8. Ob derartige fiktive Fälle allerdings tatsächlich Realität werden (können), dürfte zweifelhaft sein. 4.2. Prozessuale Folgen Die Grundrechtecharta gilt nach Art. 51 auch für die Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union durchführen. Nach Art. 1 Abs. 1 des „Großbritannien-Protokolls“ ist die – materiellrechtlich nur theoretisch relevante – Rüge einer Charta-Verletzung vor britischen Gerichten jedoch ausgeschlossen. Dem Wortlaut nach gilt dies nur für britische Gerichte. Dem Sinn und Zweck des „Großbritannien-Protokolls“ nach dürfte es aber auch ausgeschlossen sein, dass britische Gerichte dem EuGH eine Frage betreffend die Grundrechtecharta zur Vorabentscheidung vorlegen. Auch dürfte es dem Protokoll eher widersprechen, wenn der EuGH seine Entscheidungen zu Vorabvorlagen der britischen Gerichte auf die Grundrechtecharta stützen würde. Praktisch gesehen kann der EuGH jedoch nicht gehindert werden, das Protokoll im Sinne einer Einbeziehung der Grundrechecharta auszulegen.9 4.3. Sachverhalte mit Auslandsberührung Bei theoretischer Betrachtung wirft das „Großbritannien-Protokoll“ auch bei Fällen mit Auslandsberührung Fragen auf, vor allem bei folgenden Sachverhalten: - Ein EU-Ausländer beruft sich vor einem britischen Gericht auf die in diesem Fall entscheidungserhebliche Grundrechtecharta. - Ein Brite beruft sich vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats auf die die in diesem Fall entscheidungserhebliche Grundrechtecharta. 7 Richtlinie 2004/114/EG des Rates über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst vom 13. Dezember 2004, ABl. L 375 vom 23. Dezember 2004, S. 12. 8 Zum Recht auf Bildung: Art. 2 Zusatzprotokoll vom 20. März 1952 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Sammlung der Europaratsverträge Nr. 109, in der Fassung des Protokolls Nr. 11, Sammlung der Europaratsverträge Nr. 155. 9 Vgl. auch MdB Roth in der Sitzung des Deutschen Bundestags am 4. Juli 2007, Plenarprotokoll 16/107, S. 10997: „Natürlich wird der Europäische Gerichtshof das [die Wirkungen des „Großbritannien -Protokoll“] zu heilen versuchen […]“. - 7 - - Das Gericht eines anderen Mitgliedstaats hat nach Internationalem Privatrecht britisches Recht anzuwenden, wobei die Grundrechtecharta entscheidungserheblich ist. - Ein britisches Gericht hat nach Internationalem Privatrecht das Recht eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden, wobei die Grundrechtecharta entscheidungserheblich ist. Diese Fallgestaltungen dürften wie schon oben unter 4.1 dargestellt, eher akademischtheoretischer Natur sein. 5. Rechtliche Auswirkung des „Großbritannien-Protokolls“ auf objektivrechtlicher Ebene Art. 2 des „Großbritannien-Protokolls“ lautet: Wird in einer Bestimmung der Charta auf das nationale Recht und die nationalen Praktiken Bezug genommen, so findet diese Bestimmung auf das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze in den Rechtsvorschriften oder Praktiken des Vereinigten Königreichs anerkannt sind. [Hervorhebung durch Verfasser] Diese Bestimmung spricht im Widerspruch zu Art. 1 von einer Anwendbarkeit der Grundrechtecharta auf das Vereinigte Königreich. Bei Art. 2 dürfte die objektive Anwendbarkeit der Charta auf das Vereinigte Königreich gemeint sein im Unterschied zur subjektiv-rechtlichen Anwendbarkeit. Ist die Grundrechtecharta aber im Verhältnis zur EU bzw. zu den Mitgliedstaaten anwendbar, so ist der Kommission bzw. den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EGV eröffnet. Verstößt Großbritannien objektiv gegen die Grundrechtecharta, könnte die Kommission oder ein Mitgliedstaat somit theoretisch ein Klageverfahren einleiten, ohne dass dies von einer Klagebefugnis10 abhinge. Die praktische Relevanz dürfte jedoch auch hier äußerst gering sein. 10 Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV, EGV, Kommentar, 3. Aufl., 2007, Art. 226 EGV Rn. 30.