© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 256/20 Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 256/20 Seite 2 Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 256/20 Abschluss der Arbeit: 4. November 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 256/20 Seite 3 1. Ergebnis Der „Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (BT-Drs. 19/23944, im Folgenden: GE) verbessert die Rechtsgrundlagen für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Kritikpunkte bleiben allerdings: – So genannte Standardmaßnahmen, also konkrete Ermächtigungen für bestimmte Maßnahmen, werden nicht eingeführt. Stattdessen benennt der GE nur Regelbeispiele für Maßnahmen. – Einige Formulierungen des GE entsprechen der Normenklarheit und -bestimmtheit nur bedingt. Das gilt etwa für die Unterscheidung von „schwerwiegenden“, „stark einschränkenden “ und „einfachen Schutzmaßnahmen“. – Regelungen zur Berichtspflicht der Bundesregierung, Evaluierung und Befristung der Maßnahmen sind nicht vorgesehen. – Die Beteiligungsmöglichkeiten des Bundestages am Erlass der Rechtsgrundlagen wurden nicht verbessert. 2. Verfahrensstand Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben am 3.11.2020 den GE vorgelegt. Er soll am 6.11.2020 in erster Lesung beraten werden. Der GE bedarf der Zustimmung des Bundesrates. Wenn diese in der nächsten regulären Sitzung des Bundesrates am 27.11.2020 erteilt wird und die Ausfertigung und Verkündung durch den Bundespräsidenten zügig erfolgt, könnte das Gesetz (gemäß Art. 8 GE mit einer Ausnahme) Anfang Dezember 2020 in Kraft treten. Als Grundlage der bis dahin angeordneten Beschränkungsmaßnahmen kann es daher nicht dienen. 3. Inhalt des Gesetzentwurfs 3.1. Überblick über die vorgesehenen Änderungen Der GE enthält im Wesentlichen Änderungen des Infektionsschutzgesetzes und darüber hinaus einer Verordnung und weiterer Gesetze (s. im Einzelnen BT-Drs. 19/23944, S. 18 f.). In dem GE heißt es, die bisher maßgeblich auf der Grundlage der §§ 28 ff., 32 IfSG getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie hätten teilweise zu erheblichen Eingriffen in Grundrechte geführt. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Parlamentsvorbehalts zu entsprechen, sei eine gesetzliche Präzisierung im Hinblick auf Dauer, Reichweite und Intensität der Bekämpfungsmaßnahmen angezeigt (BT-Drs. 19/23944, S. 2, 18). Das trifft zu. Zuletzt hat der Bayerische VGH in einem Eilbeschluss festgestellt: Bei den angegriffenen Beschränkungsmaßnahmen handele es sich um intensive und mittlerweile lange andauernde Grundrechtseingriffe. Dafür reiche die Verordnungsermächtigung der §§ 28, 32 IfSG möglicherweise nicht mehr aus (Bayerischer VGH, Beschluss vom 29.10.2020, Az.: 20 NE 20.2360). In dem GE heißt es weiter, der Gesetzgeber nehme nun die Abwägung zwischen den Beschränkungsmaßnahmen und den betroffenen grundrechtlichen Schutzgütern vor und regele somit die wesentlichen Entscheidungen (BT-Drs. 19/23944, S. 2, 18). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 256/20 Seite 4 3.2. Bewertung des Gesetzentwurfs im Einzelnen 3.2.1. Konkretisierung Kritisiert wurde bisher, dass die äußerst intensiven und breit wirkenden Grundrechtseingriffe im Rahmen der Corona-Pandemie auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG gestützt werden. Gefordert wurde deshalb die Schaffung von konkreten Ermächtigungsgrundlagen für besonders eingriffsintensive und streuweite Maßnahmen, welche qualifizierte Tatbestandsvoraussetzungen und differenzierte Rechtsfolgen vorsehen (sog. Standardmaßnahmen). In § 28a Abs. 1 GE werden anstelle der geforderten Standardmaßnahmen Regelbeispiele genannt. Es wird eine Vielzahl von Maßnahmen aufgeführt, die auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können, unter anderem Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum (Nr. 1) sowie die Anordnung eines Abstandsgebotes im öffentlichen Raum (Nr. 2). Dadurch wurde jedenfalls die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage erhöht. In § 28a Abs. 2 GE ist ein abgestuftes Vorgehen, orientiert an der Überschreitung bestimmter Schwellenwerte, vorgesehen. § 28a Abs. 2 GE sieht vor, dass je nach Höhe der Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen entweder „einfache“, „stark einschränkende“ oder „schwerwiegende“ Schutzmaßnahmen in Betracht kommen. Die Verwendung dieser Begriffe ist nicht überzeugend, da sie an keiner Stelle im Gesetz definiert werden. Auch die Begründung des Gesetzentwurfs liefert keine Klärung. Unter anderem wird nicht deutlich, was der Unterschied zwischen den einzelnen Schutzmaßnahmen sein soll. Die Formulierung des § 28a Abs. 2 GE, dass bestimmte Schutzmaßnahmen „in Betracht kommen“, ist rechtstechnisch ungewöhnlich. Es handelt sich nicht um eine Einschränkung, sondern um eine reine Beschreibung. Laut § 28a Abs. 2 S. 1 GE sollen die Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an Schwellenwerten ausgerichtet werden, soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind. Es fällt auf, dass es sich um eine sog. Soll-Vorschrift handelt, so dass Ausnahmen möglich sind. § 28a Abs. 2 S. 6 und S. 7 GE sehen vor, dass bei einer bundesweiten bzw. landesweiten Überschreitung des Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen bundesweit bzw. landesweit einheitliche schwerwiegende Maßnahmen anzustreben sind. Es wird nicht deutlich, durch wen die einheitlichen schwerwiegenden Maßnahmen anzustreben sind. Zudem haben die Regelungen einen rein appellativen Charakter. Die Regelung, dass bei einer bundesweiten Überschreitung des Schwellenwertes bundesweit einheitliche schwerwiegende Schutzmaßnahmen anzustreben sind, ist darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit deshalb problematisch, weil die Infektionen ungleichmäßig über das Bundesgebiet verteilt sein können. So könnte der Fall eintreten, dass in einigen Ländern sehr niedrige und in anderen Ländern sehr hohe Infektionszahlen vorliegen. Das könnte dazu führen, dass der Schwellenwert bundesweit überschritten wird. In der Konsequenz wären schwerwiegende Schutzmaßnahmen auch in Ländern mit sehr niedrigen Infektionszahlen anzustreben. 3.2.2. Befristung Gefordert wurde auch, zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Befristungen einzuführen. Dies wurde einerseits in Bezug auf die in § 28 IfSG aufgeführten Einzelmaßnahmen, andererseits in Bezug auf die Verordnungsermächtigung in § 32 IfSG für sinnvoll gehalten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 256/20 Seite 5 § 28a Abs. 1 GE sieht vor, dass die auf Grundlage der Generalklausel zu ergreifenden notwendigen Schutzmaßnahmen für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag insbesondere auch die genannten Regelbeispiele sein können. Jedoch ist die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht auf einen bestimmten Zeitraum befristet. Stattdessen hebt der Bundestag die Feststellung wieder auf, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr vorliegen (§ 5 Abs. 1 S. 2 IfSG). Es ist nicht klar, was folgt, wenn die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite aufgehoben wird. Nach der Formulierung des § 28a Abs. 1 GE ist denkbar, dass die in den Regelbeispielen genannten Maßnahmen nicht länger angeordnet werden dürfen. Unklar ist, welche Maßnahmen in diesem Fall noch auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Eine Befristung von Einzelmaßnahmen oder der Verordnungsermächtigung nach § 32 IfSG sieht der Gesetzentwurf nicht vor. 3.2.3. Beteiligung des Bundestages an Rechtsverordnungen Kritisiert wurde die weitgehende Verordnungsermächtigung an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in § 5 Abs. 2 IfSG. In § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 IfSG wurde das BMG dazu ermächtigt, in weitem Umfang Ausnahmen von Gesetzesvorschriften zuzulassen. Es wurde festgestellt, dass jedenfalls dies wohl nicht mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Rechtsverordnungen vereinbar ist. Nach dem Gesetzentwurf soll der besonders problematische § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 IfSG ersatzlos aufgehoben werden (Art. 1 Nr. 4 GE). Dies ist zu begrüßen. Eine Beteiligung des Bundestages an den Rechtsverordnungen des BMG ist weiterhin nicht vorgesehen . 3.2.4. Unterrichtung durch die Bundesregierung und Evaluierung Es wurde schließlich empfohlen, eine Pflicht zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und eine Evaluierung der Maßnahmen vorzusehen. Dem wurde nicht Rechnung getragen. 3.2.5. Weitere Anmerkungen Im Übrigen ist bei der Durchsicht des Gesetzentwurfes Folgendes aufgefallen: Nach § 36 Abs. 8 S. 1 GE wird die Bundesregierung, sofern der Deutsche Bundestag nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat, ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates festzulegen, dass Personen, bei denen ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht und die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen oder eingereist sind, verpflichtet sind, der zuständigen Behörde ihre personenbezogenen Angaben und Aufenthaltsorte bis zu zehn Tage vor und nach der Einreise und das für die Einreise genutzte Reisemittel mitzuteilen . § 36 Abs. 9 S. 4 GE sieht vor, dass die erhobenen Daten spätestens 14 Tage nach der Einreise zu löschen sind. Hierbei wird keine Löschungspflicht für diejenigen Einreisewilligen normiert, die letztendlich nicht eingereist sind. ***