© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 255/18 Zur Fiktion der Nichteinreise nach § 13 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz und zum Flughafenverfahren nach § 18a Asylgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 255/18 Seite 2 Zur Fiktion der Nichteinreise nach § 13 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz und zum Flughafenverfahren nach § 18a Asylgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 255/18 Abschluss der Arbeit: 12. Juli 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 255/18 Seite 3 1. Fragestellung Am 5. Juli 2018 vereinbarte der Koalitionsausschuss, für Asylsuchende, die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt haben, an der deutsch-österreichischen Grenze ein Transitverfahren durchzuführen.1 In der Vereinbarung wird dazu festgestellt: „Wie beim bestehenden Flughafenverfahren reisen die Personen rechtlich nicht nach Deutschland ein.“ Vor diesem Hintergrund wird um eine Einschätzung hinsichtlich des Transitverfahrens und der Nichteinreisefiktion gebeten. Da über die Ausgestaltung der geplanten Transitverfahren noch keine Kenntnisse vorliegen, beschränkt sich der Sachstand darauf, zunächst einen grundsätzlichen Überblick über das Rechtsinstitut der Nichteinreisefiktion zu geben, das in § 13 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG)2 vorgesehen ist. Darüber hinaus wird auf das sogenannte Flughafenverfahren nach § 18a Asylgesetz (AsylG)3 eingegangen, das für bestimmte Asylsuchende, die auf dem Luftweg einreisen wollen, die Durchführung des Asylverfahrens im Transitbereich des Flughafens und damit vor der (rechtlichen) Einreise vorsieht. Die spezifisch unionsrechtliche Perspektive in Bezug auf die Fragestellung ist Gegenstand einer gesonderten Bearbeitung.4 2. Einreise nach § 13 AufenthG § 13 AufenthG regelt die Modalitäten der Einreise nach Deutschland. Gemäß § 13 Abs. 1 AufenthG ist Ausländern die Einreise grundsätzlich nur an den zugelassenen Grenzübergangsstellen gestattet. § 13 Abs. 2 S. 1 AufenthG bestimmt: „An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat.“ Danach liegt rechtlich regelmäßig noch keine Einreise vor, wenn lediglich die Staatsgrenze überschritten wurde, vielmehr muss auch die Grenzübergangsstelle passiert worden sein.5 Die Vorschrift bezweckt, dass eine Zurückweisung – die gemäß § 15 AufenthG vor der Einreise erfolgen muss – auch dann noch möglich ist, wenn die Grenzübergangsstelle ins Inland verlagert6 wurde.7 Darüber hinaus bestimmt § 13 Abs. 2. S. 2 AufenthG: 1 Koalitionsausschuss, Ordnung und Steuerung in der Migrationspolitik, 5. Juli 2018, https://www.cdu.de/system /tdf/media/dokumente/koalitionsausschuss-180705_0.pdf?file=1&type=field_collection_item&id=15483 (Stand: 12. Juli 2018). 2 Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. März 2018 (BGBl. I S. 342). 3 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780). 4 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, PE 6 - 3000 - 111/18. 5 Dollinger, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 13 AufenthG Rn. 4. 6 Anstelle etwa einer gemeinsamen Kontrollstelle auf fremdem Staatsgebiet oder einer Kontrollstelle direkt an der Grenzlinie. 7 Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 13 AufenthG Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 255/18 Seite 4 „Lassen die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung (§ 15 dieses Gesetzes, §§ 18, 18a des Asylgesetzes) oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren, so liegt keine Einreise im Sinne des Satzes 1 vor, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt.“ Es liegt danach also noch keine Einreise vor, wenn der Ausländer unter Kontrolle der Grenzbehörde die Grenzübergangsstelle nur vorübergehend im Rahmen der Entscheidung über eine Zurückweisung passiert. In beiden Fällen (§ 13 Abs. 2 S. 1 und 2 AufenthG) wird also rechtlich fingiert, dass der Ausländer noch nicht eingereist sei, obwohl er tatsächlich bereits die physische Grenze passiert hat.8 Diese Konstruktion wird als Fiktion der Nichteinreise9 bzw. Nichteinreisefiktion10 bezeichnet. In Bezug auf die Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird dieses Grenzregime jedoch durch die vorrangigen unionsrechtlichen Vorschriften des Schengener Grenzkodex (SGK)11 überlagert.12 In Art. 1 Abs. 1 regelt der Schengener Grenzkodex, dass in Bezug auf Personen, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten, keine Grenzkontrollen stattfinden. Dementsprechend dürfen nach Art. 22 SGK die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Der Grenzübertritt erfolgt damit gerade nicht (mehr) an Grenzübergangsstellen im Sinne von § 13 Abs. 1 AufenthG. Bestehen keine Grenzübergangsstellen, so ist gemäß § 13 Abs. 2 S. 3 „ein Ausländer eingereist, wenn er die Grenze überschritten hat.“ Die Möglichkeit der Fiktion der Nichteinreise nach § 13 Abs. 2 S. 1 und 2 AufenthG ist somit in diesen Fällen verschlossen. Der Schengener Grenzkodex erlaubt die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Kapitel II Titel III SGK. In diesem Fall bestimmt sich die dann vorzunehmende Grenzkontrolle nach den Regelungen des Schengener Grenzkodex für die Außengrenzen, Art. 32 SGK. Soweit es dafür der Wiedereinrichtung von Grenzübergangsstellen bedarf, sind diese 8 Vgl. Westphal, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 13 AufenthG Rn. 10 ff. 9 So Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 13 Rn. 15. 10 So Westphal, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 13 AufenthG Rn. 10. 11 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex). 12 Vgl. nur Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 13 AufenthG Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 255/18 Seite 5 nach § 61 Bundespolizeigesetz (BPolG)13 einzurichten.14 Über die Zulassung von Grenzübergangsstellen entscheidet gemäß § 61 Abs. 1 BPolG das Bundesministerium des Innern im Benehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen und gibt die Entscheidungen im Bundesanzeiger bekannt. Die Grenzkontrolle wiederum obliegt der Bundespolizei, soweit nicht ein Land im Einvernehmen mit dem Bund (§ 2 Abs. 1 BPolG) oder der Zoll grenzpolizeiliche Aufgaben nach Maßgabe von §§ 66, 68 BPolG wahrnimmt. In Deutschland wurden im September 2015 Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich vorübergehend wiedereingeführt und seitdem kontinuierlich verlängert. Die Verlängerung der Kontrollen für weitere sechs Monate nach dem 12. Mai 2018 wurde im April 2018 der EU-Kommission mitgeteilt .15 3. Flughafenverfahren nach § 18a AsylG § 18a AsylG regelt das sogenannte Flughafenverfahren als besonderes Asylverfahren. Gemäß § 18a Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG ist bei Ausländern aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten und Ausländern ohne gültigen Pass oder Passersatz, die über einen Flughafen einreisen wollen und bei der Grenzbehörde um Asyl nachsuchen, das Asylverfahren bereits vor der Einreise nach Deutschland durchzuführen, soweit die Unterbringung auf dem Flughafengelände während des Verfahrens möglich oder lediglich wegen einer erforderlichen stationären Krankenhausbehandlung nicht möglich ist. Rechtlich ist dies möglich, da die Einreise i.S.d. § 13 Abs. 2 S. 1 AufenthG an einer Flughafen- Grenzübergangsstelle erst erfolgt ist, wenn der Ausländer die Kontrollstationen der Grenzbehörden (Bundespolizei und Zoll) passiert hat.16 Solange der Ausländer sich noch im Transitbereich eines Flughafens aufhält, ist er somit rechtlich nicht nach Deutschland eingereist,17 obwohl er sich faktisch auf deutschem Staatsgebiet befindet.18 13 Bundespolizeigesetz vom 19. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2978, 2979), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 5. Mai 2017 (BGBl. I S. 1066). 14 Vgl. Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 13 AufenthG Rn. 6. 15 Vgl. bundesregierung.de, Verlängerung der Grenzkontrollen, 13. April 2018, https://www.bundesregierung.de/Content /DE/Artikel/2018/04/2018-04-13-binnengrenzkontrollen.html; derstandard.de, Grenzkontrollen: Keine Einwände der EU-Kommission für Verlängerung, 7. Mai 2018 https://www.derstandard.de/story/2000079333077/grenzkontrollen -keine-einwaende-der-eu-kommission-fuer-verlaengerung (Stand: 12. Juli 2018). 16 Bundesministerium des Innern, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009, 13.2.5; Haderlein, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 18 AsylG Rn. 18. 17 Bundesministerium des Innern, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009, 13.2.5. 18 Haderlein, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 18 AsylG Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 255/18 Seite 6 Das Bundesverfassungsgericht hat das Flughafenverfahren als verfassungsmäßig beurteilt.19 Die Unterbringung im Transitbereich des Flughafens stelle weder eine Freiheitsbeschränkung, noch eine Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 104 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dar.20 Jeder Staat sei berechtigt, den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und für Ausländer die Kriterien festzulegen , die zum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigten. Aus diesen Gründen stellten rechtliche und tatsächliche Hindernisse für das freie Überschreiten der Staatsgrenze keine Beschränkung der durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützten körperlichen Bewegungsfreiheit dar. Der Umstand, dass sich die Betroffenen bei ihrer Ankunft auf einem Flughafen schon auf deutschem Staatsgebiet befinden würden, ändere nichts daran, dass über die Gewährung der Einreise erst noch zu entscheiden sei.21 Zudem ergebe sich für Asylsuchende am Flughafen die tatsächliche Begrenzung ihrer Bewegungsfreiheit aus ihrer Absicht, in Deutschland um Schutz nachzusuchen und das hierfür vorgesehene Verfahren zu durchlaufen. Zwar könne den Betroffenen in dieser Lage eine Rückkehr in den Staat, der sie möglicherweise verfolge, nicht zugemutet werden. Die hieraus folgende Einschränkung der Bewegungsfreiheit sei jedoch nicht Folge einer der deutschen Staatsgewalt zurechenbaren Maßnahme.22 Im Hinblick auf den gerichtlichen Rechtsschutz und das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG fordert das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung Vorkehrungen dafür, „daß die Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes nicht durch die obwaltenden Umstände (insbesondere Abgeschlossensein des asylsuchenden Ausländers im Transitbereich, besonders kurze Fristen, Sprachunkundigkeit) unzumutbar erschwert oder gar vereitelt wird“.23 Durch organisatorische Maßnahmen sei sicherzustellen, dass der Asylbewerber in die Lage versetzt werde, gerichtlichen Rechtsschutz wahrzunehmen, insbesondere durch die Bereitstellung kostenloser asylrechtskundiger und unabhängiger Beratung.24 *** 19 BVerfGE 94, 166 ff. Siehe dazu bereits den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Grundgesetzkonformität der Einrichtung von sog. Transitzonen an deutschen Landgrenzen, 2015, WD 3 - 3000 - 274/15. 20 BVerfGE 94, 166 (198 f.). 21 BVerfGE 94, 166 (199). 22 BVerfGE 94, 166 (199). Siehe hierzu auch die Kritik bei Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996, DVBl 1996, 825 (837). Nach der Auffassung von Lübbe-Wolff folge die faktische Beschränkung der Aufenthaltsmöglichkeit des Asylsuchenden auf den eng umgrenzten Raum der vorgesehenen Unterbringungsstätte nicht allein aus den der deutschen Staatsgewalt nicht zurechenbaren Randbedingungen, sondern erst aus der Kombination dieser Randbedingungen mit der sehr wohl der deutschen Staatsgewalt zurechenbaren Flughafenregelung. Art. 16a GG verbiete es, die verfassungsrechtliche Relevanz von Freiheitsbeschränkungen des Asylsuchenden unter Verweis auf den Bewegungsspielraum zu verneinen, der dem Asylsuchenden mit der theoretischen Möglichkeit einer Rückkehr in den Verfolgerstaat verbleibe. 23 BVerfGE 94, 166 (206), (Hervorhebungen nicht im Original). 24 BVerfGE 94, 166 (206 f.).