© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 254/20 Elektronische Abstimmungen bei parteiinternen Wahlen per De-Mail Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 2 Elektronische Abstimmungen bei parteiinternen Wahlen per De-Mail Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 254/20 Abschluss der Arbeit: 30. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 3 1. Ergebnis Nach gegenwärtiger Lage des einfachen Rechts ist es unzulässig, elektronische Abstimmungen bei parteiinternen Wahlen durchzuführen. Gemäß dem Verfassungsrecht gilt für parteiinterne Wahlen der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl in abgeschwächter Form. Danach müssen alle wesentlichen Schritte einer Wahl öffentlich überprüfbar sein. Der Gesetzgeber hat bei der Konkretisierung des Öffentlichkeitsgrundsatzes Spielraum. Er kann unter bestimmten Voraussetzungen ein elektronisches Wahlverfahren vorsehen. In Betracht hierfür kommt die De-Mail. 2. Unzulässigkeit elektronischer Abstimmungen nach einfachem Recht Elektronische Abstimmungen werden überwiegend für unzulässig gehalten; vereinzelte Stimmen sprechen sich allerdings bereits nach jetziger Rechtslage für die Zulässigkeit aus.1 Für die Unzulässigkeit spricht u.a.: Würden sie durchgeführt, bräche man plötzlich mit der langjährigen Tradition konventioneller Abstimmungen. Zudem ändert sich die Rechtslage. Voraussichtlich in der nächsten Woche wird ein Gesetz verkündet, das eine Änderung des Bundeswahlgesetzes vorsieht. Dem Änderungsgesetz zufolge wird in § 52 BWahlG ein neuer Absatz 4 eingefügt. Das BMI wird darin ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen zu treffen, die es den Parteien unter bestimmten Umständen ermöglichen, von entgegenstehenden Bestimmungen näher bezeichneter Gesetze und Verordnungen abzuweichen; unter anderem (Nr. 3) „um die Wahrnehmung des Vorschlagsrechts, des Vorstellungsrechts und der sonstigen Mitgliederrechte mit Ausnahme der Schlussabstimmung über einen Wahlvorschlag ausschließlich oder zusätzlich im Wege elektronischer Kommunikation ermöglichen zu können, […]“ (Hervorhebung nur hier). Hierzu heißt es im Bericht des federführenden Innenausschusses: „Die elektronische Durchführung der Schlussabstimmung ist bei innerparteilichen Wahlen aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.“2 Dies ist eine eindeutige Aussage zur Rechtslage, die auch im Gesetzestext Niederschlag gefunden hat („mit Ausnahme der Schlussabstimmung“). Es ist zu erwarten, dass die Gerichte zu dem Schluss kommen, der Bundestag halte elektronische Abstimmungen für unzulässig. 3. Zulässigkeit elektronischer Abstimmungen nach dem Grundgesetz 3.1. Juristische Betrachtung Die Zulässigkeit solcher Abstimmungen richtet sich in erster Linie nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG. Demgemäß muss die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen. Danach gelten die wesentlichen Grundsätze, die Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG für staatliche Wahlen festlegt , auch für parteiinterne Wahlen. Dass die Geltung auf das Wesentliche beschränkt ist (bzw., 1 Hierzu ausführlich Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Online-Parteitagen und elektronischen Abstimmungen, WD 3 - 3000 - 249/20, vom 28. Oktober 2020. 2 BT-Drs. 19/23197, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 4 dass die Grundsätze nur in abgeschwächter Form gelten), erklärt sich daraus, dass Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG nur von der Entsprechung demokratischer Grundsätze spricht.3 Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ist von grundlegender Bedeutung für die verfassungsrechtliche Beurteilung der elektronischen Abstimmungen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in seiner Wahlcomputer-Entscheidung 2009 ausführlich Stellung genommen.4 Im Kern hat das Gericht ausgeführt, der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, 2 GG gebiete, „dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen. Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssen die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnisse überprüft werden können.“ Der Gesetzgeber habe aber bei der Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze einen Entscheidungsspielraum . Er müsse entscheiden, ob und inwieweit Abweichungen von einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen gerechtfertigt seien. Der Gesetzgeber sei nicht gehindert, bei Wahlen elektronische Wahlgeräte einzusetzen, wenn die verfassungsrechtlich gebotene Möglichkeit einer zuverlässigen Richtigkeitskontrolle gesichert sei. Im Einzelnen hat das Gericht ausgeführt: Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebiete, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterlägen. Die Notwendigkeit einer solchen Kontrolle ergebe sich nicht zuletzt im Hinblick auf die Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit elektronischer Wahlgeräte. Die große Breitenwirkung möglicher Fehler an den Wahlgeräten oder gezielter Wahlfälschungen gebiete besondere Vorkehrungen zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl. Der Kontrolle der Wahlhandlung und der Ermittlung des Wahlergebnisses komme eine besondere Bedeutung zu. Der Wähler selbst müsse – auch ohne nähere computertechnische Kenntnisse – nachvollziehen können, ob seine abgegebene Stimme als Grundlage für die Auszählung unverfälscht erfasst werde. Die gleiche Nachvollziehbarkeit müsse auch für die Wahlorgane gegeben sein. Daraus folge, dass die Stimmen nach der Abgabe nicht ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt werden dürften. Werde das Wahlergebnis durch rechnergesteuerte Verarbeitung der in einem elektronischen Speicher abgelegten Stimmen ermittelt, so genüge es nicht, wenn anhand eines zusammenfassenden Papierausdrucks oder einer elektronischen Anzeige lediglich das Ergebnis des im Wahlgerät durchgeführten Rechenprozesses zur Kenntnis genommen werden könne. Auf diese Weise könnten Wähler und Wahlorgane nur prüfen, ob das Wahlgerät so viele Stimmen verarbeitet habe, wie Wähler zur Bedienung des Wahlgerätes bei der Wahl zugelassen worden seien. Es sei in diesem Fall nicht ohne weiteres erkennbar, ob es zu Programmierfehlern in der Software oder zu zielgerichteten Wahlfälschungen durch Manipulation der Software oder der Wahlgeräte gekommen sei. 3 Vgl. Michl, Der demokratische Rechtsstaat in Krisenzeiten, JuS 2020, 643 (646); Roßner/Gierling, Sind virtuelle Parteitage und Kandidatenaufstellungen undemokratisch?, Legal Tribune Online, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-parteitag-kommunalwahl-kandidatenaufstellung-wahlen-demokratie -vereinsrecht/. Vgl. zur eingeschränkten Wirkung außerhalb parlamentarischer Wahlen Dietlein, in: Stern, Staatsrecht, Band IV/2, 1. Auflage 2011, S. 185. 4 BVerfGE 123, S. 39. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 5 Denkbar seien Wahlgeräte, bei denen die Stimmen neben der elektronischen Speicherung auch anderweitig erfasst würden, beispielsweise solche Geräte, die zusätzlich zur elektronischen Erfassung ein für den Wähler sichtbares Papierprotokoll ausdruckten, dass vor der endgültigen Stimmabgabe überprüft werden könne und anschließend zur Ermöglichung der Nachprüfbarkeit aufbewahrt werden könne. Eine weitere Möglichkeit sei beispielsweise ein System, bei dem ein Stimmzettel ausgefüllt wird und die getroffene Entscheidung gleichzeitig oder nachträglich elektronisch erfasst werde. Das Gericht betonte, dass es die Frage, ob es noch andere geeignete technische Möglichkeiten gebe, offen lasse. Neben dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl müsste ein elektronisches Wahlverfahren auch die Geheimhaltung des Wahlvorgangs ermöglichen.5 Dies könnte – ähnlich wie bei der Briefwahl – problematisch sein, wenn die Wahl nicht im öffentlichen Raum stattfindet. Zudem könnte auch durch Hacker-Angriffe die Geheimhaltung gefährdet sein. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem betont, dass dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze ein Entscheidungsspielraum zustehe, innerhalb dessen er entscheiden müsse, „ob und inwieweit Abweichungen von einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit ihm verfolgten staatspolitischen Ziele gerechtfertigt sind [...].“6 So könne der Gesetzgeber in begrenztem Umfang Ausnahmen vom Grundsatz der Öffentlichkeit zulassen, um anderen verfassungsrechtlichen Belangen, insbesondere den anderen Wahlrechtsgrundsätzen, Geltung zu verschaffen. Als Beispiel führt das Gericht an, dass sich bei der Briefwahl eine Beschränkung der öffentlichen Kontrolle der Stimmabgabe mit dem Ziel begründen lasse, eine möglichst umfangreiche Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen. In seinen Entscheidungen zur Briefwahl hat das Gericht dargelegt, dass zur Förderung der Allgemeinheit der Wahl auch Abweichungen vom Grundsatz der Geheimheit der Wahl möglich seien.7 Danach ist die entscheidende Frage, ob inzwischen elektronische Wahlverfahren zur Verfügung stehen, die eine zuverlässige Richtigkeitskontrolle im Sinn des Bundesverfassungsgerichts sichern. Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass die Entscheidung des Gerichts vor über zehn Jahren getroffen worden ist. Seitdem haben sich die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation grundlegend geändert. Außerdem fällt ins Gewicht, dass es bei parteiinternen Wahlen im Vergleich zu staatlichen Wahlen nur wenige Wahlberechtigte gibt. Das erleichtert die Wahlorganisation sehr erheblich. 3.2. Informationstechnische Betrachtung Aus informationstechnischer Sicht wird zu der Frage nach der Verfügbarkeit wie folgt Stellung genommen: Den technischen Anforderungen an Wahlgeräte könnte mit den aktuellen Möglichkeiten der Informationstechnik aus technischer Perspektive sehr wahrscheinlich entsprochen werden. Derzeit sind aber keine zugelassenen Geräte bekannt bzw. verfügbar. Dies ist vermutlich 5 Vgl. BVerfGE 99, S. 1 (13). 6 BVerfGE 123, S. 39 (71). 7 BVerfGE 21, S. 200; 59, S. 119. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 6 auf den Umstand zurückzuführen, dass eine Zulassung solcher Geräte derzeit aufgrund der fehlenden Verfassungskonformität der Bundeswahlgeräteverordnung (BWahlGV) kaum möglich sein dürfte. Parallel kommt eine Realisierung in Form eines elektronischen Abstimmsystems zur Durchführung von Fernabstimmungen in Betracht. Auch hier sind marktfertige Lösungen in hinreichend anforderungskonformer oder gar zertifizierter Form derzeit nicht verfügbar. Beide Lösungen haben zumindest unter Beachtung eines sehr hohen Sicherheitsniveaus für ihre Umsetzung demnach eine eher mittel- bis langfristige Perspektive (Konzeption, Projektierung, Entwicklung, Realisierung, Zulassung bzw. Zertifizierung, Abnahme, Einführung). Einigkeit besteht allerdings in der Frage zur Gültigkeit von Briefwahlen. Da eine Durchführung von Briefwahlen nach rechtlicher Sicht bis hin zu Schlussabstimmungen zulässig wäre, elektronische Wahlcomputer/-systeme jedoch nicht, sollte die folgende Option als elektronische Analogie genauer betrachtet werden: Einen Lösungsweg böte die rechtssichere E-Mail „De-Mail“ in Verbindung mit einer eingeschalteten Option zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sowie mit einer über einen Hashwert gesicherten Eingangsbestätigung zur Prüfung der unverfälschten Zustellung. Damit stünde eine gemeinsame Plattform unter einem einheitlichen technischen Standard zur Durchführung von elektronischen Abstimmungen und ggf. Wahlen zur Verfügung. Alle Teilnehmer benötigen in diesem Fall einen Personalausweis (nPA) zur Authentifizierung sowie ein entsprechendes De-Mail-Konto samt Zugangsdaten. Auf Empfängerseite wird ebenfalls mindestens ein De-Mail-Konto benötigt. Mit einer Anwendung von E-Mail-Systemen dürften die meisten Anwender gut vertraut sein. Abstimmungen könnten dann über einfache PDF-Dokumente oder sogar im Text einer De-Mail realisiert werden. Für Wahlen wären unter Einhaltung der Geheimhaltung noch weitere organisatorische oder technische Maßnahmen zu treffen. So könnte eine Wahl beispielsweise über notariell unterstützte spezifische Wahl-Postfächer erfolgen oder aber unter Einsatz besonders vertrauenswürdiger Wahlhelfer beim Empfänger-Postfach. 4. Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers Wenn der Gesetzgeber sich die Ansicht zu eigen macht, dass die De-Mail den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügt, steht ihrem Einsatz verfassungsrechtlich nichts entgegen. Der Einsatz wäre vom bestehenden Spielraum des Gesetzgebers gedeckt. Sollte der Gesetzgeber von der Sicherheit der De-Mail nicht uneingeschränkt überzeugt sein, könnte er seinen Gestaltungsspielraum erweitern. Zu diesem Zweck könnte er das Grundgesetz ändern und beispielsweise in Art. 21 Abs. 1 als 4. Satz einfügen: „Für parteiinterne Wahlen können Abweichungen von den Wahlrechtsgrundsätzen zugelassen werden.“ Dies verstieße nicht gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, die hier in Gestalt des Demokratieprinzips einschlägig ist. In jedem Fall dürfte eine Gesetzesänderung erforderlich sein, um die elektronische Abstimmung zu ermöglichen, weil ihr die Aussage des § 52 Abs. 4 Nr. 3 BWahlG demnächst entgegensteht. Die darin enthaltene Ausnahme für die Schlussabstimmung müsste gestrichen werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Gesetzgeber selbst die Abstimmung per De-Mail im Parteien- und Wahlrecht zulässt. Dafür spricht, dass er in diesem Fall nicht von der Ermächtigung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 254/20 Seite 7 durch die Exekutive abhängig ist. Die Exekutive kann von der Ermächtigung Gebrauch machen, muss das aber nicht. ***