Deutscher Bundestag Zulässigkeit einer Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 254/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 254/12 Seite 2 Zulässigkeit einer Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 254/12 Abschluss der Arbeit: 30. August 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 254/12 Seite 3 1. Einleitung Mit Urteil vom 9. November 2011 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Fünf-Prozent- Sperrklausel im Europawahlgesetz (EuWG)1 wegen Verstoßes gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien für verfassungswidrig und nichtig erklärt.2 Gefragt wird, ob die Einführung einer Drei-Prozent-Sperrklausel als „milderes Mittel“ mit den Maßgaben dieses Urteils vereinbar wäre. 2. Meinungsstand im Schrifttum Im Schrifttum finden sich zahlreiche Besprechungen des Urteils.3 Zu den praktischen Folgen des Urteils für das weitere Schicksal von Sperrklauseln im Europawahlrecht, insbesondere zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine niedrigere Sperrklausel zulässig wäre, sind den Beiträgen allerdings keine eindeutigen Äußerungen zu entnehmen. Diese Frage wird allenfalls am Rande gestreift. Kritische Stimmen geben zu bedenken, dass nicht erst die Funktionsunfähigkeit des Parlaments, sondern bereits eine Funktionsbeeinträchtigung Sperrklauseln rechtfertigen könne, und halten die bisherige Sperrklausel insoweit für angemessen.4 Derartige Urteilskritik hilft für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung jedoch nicht weiter, da geklärt werden soll, ob auf der Basis des gegenwärtigen Urteils die Einführung einer niedrigeren Sperrklausel zulässig wäre. Soweit Schlussfolgerungen aus dem Urteil selbst gezogen werden, erschöpfen sich diese weitgehend in der Feststellung, dass eine veränderte Parlamentswirklichkeit eine Wiedereinführung 1 Europawahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. März 1994 (BGBl. I S. 423, 555), das zuletzt durch Artikel 2 G. vom 17. März 2008 (BGBl. I S. 394) geändert worden ist. 2 BVerfG, Urteil vom 09.11.2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10. 3 von Arnim, Was aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur 5-Prozent-Klausel bei Europawahlen folgt, DÖV 2012, 224; Ehlers, Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mittels einer Sperrklausel im deutschen Wahlrecht, ZG 2012, 188; Eilert, Anmerkung zu einem Urteil des BVerfG vom 09.11.2011 (2 BvC 4/10, 6/10, 8/10; DVBl. 2011, 1540-1545) – Zur Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl, DVBl. 2012, 234; Hillgruber, Wahlprüfungsbeschwerde - Fünf-Prozent-Sperrklausel - Starre Wahllisten - Wahlrechtsgleichheit - Chancengleichheit - Zähl- und Erfolgswert von Stimmen - Europawahl - Funktionsfähigkeit des Europaparlaments, JA 2012, 316; Holste, Aus für die 5-%-Hürde bei Europawahlen, Recht und Politik 2011, 204; Lembcke/Peuker/Seifarth, Wandel der Wahlrechtsrealitäten - Zur Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 7 EuWG, DVBl. 2012, 401; Morlok, Chancengleichheit ernstgenommen - Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fünf-Prozent-Klausel bei der Europawahl, JZ 2012, 76; Morlok/Kühr, Wahlrechtliche Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, JuS 2012, 385; Roßner, Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, NVwZ 2012, 22; Sachs, Staatsorganisationsrecht: 5%- Sperrklausel im Europawahlrecht, JuS 2012, 477; Schönberger, Das Bundesverfassungsgericht und die Fünf- Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, JZ 2012, 80. 4 Vgl. Schönberger, Das Bundesverfassungsgericht und die Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, JZ 2012, 80; Hillgruber, Wahlprüfungsbeschwerde - Fünf-Prozent-Sperrklausel - Starre Wahllisten - Wahlrechtsgleichheit - Chancengleichheit - Zähl- und Erfolgswert von Stimmen - Europawahl - Funktionsfähigkeit des Europaparlaments, JA 2012, 316; deutliche Urteilskritik auch bei Ehlers, Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mittels einer Sperrklausel im deutschen Wahlrecht, ZG 2012, 188. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 254/12 Seite 4 von Sperrklauseln ermöglichen könnte.5 Das Urteil beziehe sich nur auf die gegebenen Verhältnisse .6 Bei veränderten Umständen müsse daher auch die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit neu bedacht werden, gegebenenfalls auch mit einem anderen Ergebnis.7 Diese Überlegungen zielen auf eine mögliche künftige Veränderung der Aufgaben und Funktionen des Europäischen Parlaments und sind daher momentan hypothetisch. Auch der Hinweis auf die Möglichkeit, europarechtlich eine für die mitgliedstaatliche Wahlrechtsausgestaltung verbindliche Fünf-Prozent-Sperrklausel einzuführen, die dann nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes zu messen wäre, gibt zur Beantwortung der Frage, ob nach eben diesem Maßstab eine niedrigere Zugangshürde grundgesetzkonform wäre, nichts her. Eine nach der Höhe der Zugangshürde differenzierte Betrachtung findet sich bei keinem der zitierten Autoren. Ausdrücklich geht auf diese Frage nur eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages ein.8 Darin wird festgestellt, dass sich das BVerfG in den maßgeblichen Urteilen nicht zu der jeweiligen Höhe von Sperrklauseln geäußert, sondern vielmehr kategorisch mit dem Vorliegen oder Nichtvorliegen „zwingender Gründe“ für eine Sperrklausel argumentiert habe. Ob das BVerfG bei einer deutlich niedrigeren Quote mildere Maßstäbe anlegen würde, lasse sich nicht prognostizieren . Daraus zieht der Verfasser den Schluss, dass der Bundesgesetzgeber im Falle einer künftigen Wiedereinführung einer niedrigeren Sperrklausel im Gesetzgebungsverfahren ausführlich darlegen müsste, dass eine Sperrklausel in gewisser Höhe zwingende Voraussetzung für die Aufgabenerfüllung des Europäischen Parlaments sei. Nur wenn dies plausibel gelinge, könne eine niedrigere Sperrklausel vor dem BVerfG Bestand haben. 3. Anhaltspunkte in der Entscheidung des BVerfG Damit bleibt gleichwohl die Frage offen, ob das BVerfG unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Parlamentswirklichkeit im Europäischen Parlament derartige zwingende Gründe für eine niedrigere Sperrklausel (etwa eine Drei-Prozent-Sperrklausel) anerkennen würde. Zu der Frage, ob eine niedrigere Sperrklausel gerechtfertigt sein könnte, verhält sich das Urteil ausdrücklich nicht. Einzelne Passagen des Urteils legen allerdings nahe, dass das BVerfG Sperrklauseln bei der gegenwärtigen Aufgaben- und Funktionswirklichkeit des Europäischen Parlaments für generell ausgeschlossen hält. 5 Vgl. Roßner, Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, NVwZ 2012, 22; Ehlers, Sicherung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments mittels einer Sperrklausel im deutschen Wahlrecht , ZG 2012, 188. 6 Vgl. Eilert, Anmerkung zu einem Urteil des BVerfG vom 09.11.2011 (2 BvC 4/10, 6/10, 8/10; DVBl. 2011, 1540- 1545) – Zur Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl, DVBl. 2012, 234. 7 Vgl. Morlok, Chancengleichheit ernstgenommen - Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fünf- Prozent-Klausel bei der Europawahl, JZ 2012, 76. 8 Vgl. , Wahlen zum Europäischen Parlament: Fünf-Prozent-Sperrklausel, Einführung von Direktwahlkreisen und Verhältniswahlrecht, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (WD 3 – 399/11), 2012. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 254/12 Seite 5 So heißt es in Ziffer 96 des Urteils: „Durch die europäischen Verträge sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, fehlt.“9 In Ziffer 118 des Urteils führt das Gericht aus, dass auf europäischer Ebene eine mit der Bundestagswahl vergleichbare Interessenlage, die es rechtfertige, das mit der Verhältniswahl verbundene Anliegen weitestgehender Repräsentation der Wählerschaft im Parlament „in gewissem Umfang“ zurückzustellen, nicht bestehe.10 Vier Sätze später heißt es nochmals, dass es daher „an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen“, fehle. Diese Ausführungen lassen sich eher im Sinne eines gänzlichen Verbots von Sperrklauseln deuten . Zwingend ist ein solches Verständnis allerdings nicht. 4. Fazit Im Schrifttum wird die Frage nach der Zulässigkeit einer niedrigeren Sperrklausel auf der Basis des aktuellen Urteils des BVerfG nicht diskutiert. Lediglich eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes geht der Frage nach und verweist darauf, dass es maßgeblich darauf ankommen werde, ob – unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Aufgaben und Funktionen des Europäischen Parlaments – zwingende Gründe für eine niedrigere Sperrklausel dargelegt werden könnten . Einige Passagen des Urteils deuten jedoch an, dass eine solche Darlegung nicht gelingen könnte, da das BVerfG – unter den gegebenen Umständen – jedwede Zugangshürde zum Europäischen Parlament für einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Wahl- und Chancengleichheit zu halten scheint. 9 BVerfG, Urteil vom 09.11.2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Juris-Ziffer 96, Hervorhebungen d. Verf. 10 BVerfG, Urteil vom 09.11.2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Juris-Ziffer 118, Hervorhebungen d. Verf.