© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 251/17 Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in Europa Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 2 Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in Europa Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 251/17 Abschluss der Arbeit: 19. Dezember 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 3 1. Einleitung Der vorliegende Sachstand thematisiert Erfahrungen, die mit Minderheitsregierungen in ausgewählten Staaten Europas gemacht wurden. Eingegangen wird dabei auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Bildung und die Arbeit von Minderheitsregierungen. Dargestellt werden auch die politischen Erfahrungen, die mit der Bildung von Minderheitsregierungen gemacht wurden. Für diesen Sachstand wurden Informationen aus folgenden Ländern berücksichtigt: Schweden, Norwegen, Dänemark, Portugal, Spanien, Tschechische Republik, Vereinigtes Königreich, Niederlande, Belgien, Österreich und Italien. 2. Verfahren der Regierungsbildung Bei der Regierungsbildung lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden. In den meisten thematisierten Ländern wird die Regierung durch das Staatsoberhaupt eingesetzt. Im Anschluss daran besteht eine unterschiedlich abgestufte Rückkoppelung an das Parlament. So sehen einige Länder anschließende Vertrauensabstimmungen vor (z.B. Italien, Tschechische Republik, Belgien). In einigen Ländern wird das Regierungsprogramm zur Abstimmung gestellt (z.B. Portugal). Andere Staaten, vor allem die skandinavischen Länder, stützen sich auf das Prinzip des negativen Parlamentarismus . Danach ist eine Regierung solange im Amt, bis ihr die Mehrheit im Parlament die Unterstützung verweigert. In nur zwei der genannten Länder (Spanien und Schweden) finden Wahlen für die Regierungsbildung statt. In Spanien ist das Verfahren vergleichbar mit dem deutschen. Im ersten Wahlgang benötigt ein Kandidat die absolute, in einem zweiten Wahlgang dann die relative Mehrheit. Schweden verfährt bei der Wahl des Regierungschefs nach dem Prinzip des negativen Parlamentarismus . Ein Regierungschef kommt ins Amt, wenn er vom Parlamentspräsidenten vorgeschlagen wird und die Mehrheit der Abgeordneten nicht gegen ihn votiert. 3. Kompetenzen einer Minderheitsregierung Alle thematisierten Länder unterscheiden verfassungsrechtlich nicht zwischen Mehrheits- und Minderheitsregierungen. Lediglich in Italien sind die Kompetenzen einer geschäftsführenden Regierung auf aktuelle Angelegenheiten beschränkt. Minderheitsregierungen haben dieselben Kompetenzen. Unterschiede ergeben sich jedoch auf der politischen Ebene aufgrund der fehlenden Parlamentsmehrheit. 4. Haushaltswirtschaft In allen thematisierten Ländern bestehen keine besonderen Regelungen für eine Minderheitsregierung betreffend die Haushaltswirtschaft. In der Regel wird der Haushalt vom Parlament mit Mehrheit beschlossen. In Schweden besteht ein Verfahren, das die Arbeit einer Minderheitsregierung zumindest begünstigen kann. Das Haushaltsverfahren folgt einem komplexen zweistufigen Verfahren. Die Ablehnung eines Haushaltsvorschlags der Regierung ist nur zulässig, wenn ein alternativer Entwurf eingebracht wird. Eine rein destruktive Blockade ist somit nicht möglich. Die Regierung kann jedoch gezwungen werden, mit einem Haushalt der Opposition zu arbeiten. Eine solche Situation führte im Jahr 2014 zu einer Regierungskrise. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 4 5. Besondere Gesetzgebungsverfahren Besondere Gesetzgebungsverfahren für den Fall einer fehlenden parlamentarischen Mehrheit, wie etwa den Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG, kennen die thematisierten Verfassungssysteme nicht. Lediglich Schweden sieht für komplexe Gesetzgebungsvorhaben ein sog. Konsensverfahren vor. Dabei wird dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren die Arbeit einer Kommission vorgeschaltet , die den Sachverhalt untersucht und ihre Ergebnisse publiziert. Danach können sämtliche privaten und öffentlichen Einrichtungen Stellungnahmen zu den Ergebnissen abgeben. Erst hieran schließt sich sodann das eigentliche Gesetzgebungsverfahren an. So zustande gekommene Gesetzentwürfe der Regierung finden in der Regel Zustimmung im Parlament. 6. Politische Erfahrungen In fast allen genannten Ländern bestehen unterschiedliche Erfahrungen mit Minderheitsregierungen . Dabei lassen sich drei Abstufungen feststellen, die im Folgenden behandelt werden: – Länder mit langjährigen Erfahrungen mit Minderheitsregierungen, – Länder mit Minderheitsregierungen als Ausnahme, – Länder ohne Erfahrungen mit Minderheitsregierungen. 6.1. Skandinavien: Langjährige Erfahrungen mit Minderheitsregierungen Länder mit langjährigen Erfahrungen mit Minderheitsregierungen sind insbesondere in Skandinavien zu finden (Dänemark, Norwegen, Schweden). Hier stellt die Bildung von Minderheitsregierungen eher den Regelfall dar. Die Regierungen werden mittlerweile zumeist als Koalitionen gebildet und bestehen regulär über eine gesamte Wahlperiode. Die Regierungskoalition wird in der Regel von nicht an der Regierung beteiligten Fraktionen oder einzelnen Abgeordneten toleriert. Gesetzgebungsvorhaben stützen sich dann meistens auf eine solche Mehrheit. In einzelnen Fällen wird zwar auch mit wechselnden Mehrheiten gearbeitet, dies stellt aber eher die Ausnahme dar. Begünstigt wird die Bildung von Minderheitsregierungen durch das Prinzip des sog. negativen Parlamentarismus, das in allen benannten skandinavischen Ländern praktiziert wird. Dieses beruht dem Grundgedanken nach darauf, dass eine Regierung solange im Amt bleiben kann, bis eine Mehrheit im Parlament dies nicht mehr akzeptiert. Es stellt gewissermaßen die Umkehrung des deutschen Ansatzes dar, nach dem eine Bundesregierung sich in der Regel auf eine sie tragende Mehrheit stützt (vgl. Art. 68 GG). In Dänemark kann das Parlament zudem Misstrauensvoten gegen einzelne Minister aussprechen, ohne die Regierung insgesamt zu stürzen.1 1 Vgl. Oscar W. Gabriel/Sabine Kropp: Die EU-Staaten im Vergleich: Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Wiesbaden 2008, S. 168. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 5 6.1.1. Stabilisierende Merkmale Als stabilisierende Merkmale für Minderheitsregierungen in Skandinavien werden genannt:2 – Pragmatische, konsensorientierte politische Kultur (in Schweden gilt der Kompromiss als hohe politische Leistung und Kunst) – seit dem 19. Jahrhundert stabile parlamentarische Entwicklung – Bevölkerung hat vergleichsweise hohes Vertrauen in politische Institutionen – Bevölkerung hat vergleichsweise großes politisches Interesse und ist gut informiert – Politische Partizipation ist vergleichsweise hoch (hohe Wählerbeteiligung, nationale Referenden). Die Parlamente haben eine vergleichsweise überschaubare Größe (169 Mitglieder im norwegischen Parlament, 349 in Schweden, 169 in Dänemark). Die Abgeordneten in Schweden und Norwegen sitzen im Plenum nicht nach Fraktionen zusammen, sondern nach Regionen.3 6.1.2. Praktische Umsetzung In Schweden können Minderheitsregierungen in der Regel auf die Unterstützung einzelner Fraktionen und Abgeordneter rechnen. Dies wird über teils detaillierte Tolerierungsvereinbarungen ermöglicht, die fast an die Praxis von Mehrheitsregierungen herankommen. Beispielsweise schloss die regierende sozialdemokratische Partei 2002 mit den Linken und den Grünen eine Vereinbarung, die sogar ein Koordinierungsgremium im Finanzministerium für alle drei Fraktionen etablierte. In Dänemark kommen die meisten der verabschiedeten Gesetze und Anträge zwar von der Minderheitsregierung , doch können auch solche der Opposition Mehrheiten finden. Das bekannteste Beispiel hierfür ist in den 80er Jahren die Mehrheit von vier Oppositionsfraktionen, zu denen auch die Sozialdemokraten gehörten, die eine sogenannte „alternative Mehrheit zur Sicherheitspolitik “ organisierten und die Regierung verpflichteten, Vorbehalte zur Sicherheitsstrategie der NATO einzulegen. In den 80er Jahren wurden in Dänemark rund 100 Gesetze mit der Mehrheit der Opposition beschlossen, ohne dass die Regierung zurücktrat. Seit 2001 gilt das dänische Parteiensystem mit neun Fraktionen im Parlament als „hoch fragmentiert“.4 Die Abstimmungen der Fraktionen erfolgen zwar nun meistens einheitlich, es kommt aber immer wieder vor, dass einzelne Parlamentarier ausscheren. 2 Ebd., S. 66 ff. 3 Vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/minderheitsregierungen-in-schweden-normal-in-deutschlandschwierig -100.html. 4 Vgl. Oscar W. Gabriel/Sabine Kropp: Die EU-Staaten im Vergleich: Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Wiesbaden 2008, S. 373. Für die Parlamentswahlen gilt eine Zwei-Prozent-Hürde. Derzeit sitzen neun Fraktionen Folketing. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 6 6.2. Minderheitsregierungen als Ausnahme Die zweite und zahlenmäßig überwiegende Gruppe von Ländern hat Erfahrungen mit Minderheitsregierungen , sieht eine solche Regierungsbildung jedoch eher als Ausnahme an (Spanien, Portugal, Niederlande, Belgien, UK, Österreich, Tschechische Republik). Die meisten dieser Minderheitsregierungen bestanden nicht über eine gesamte Wahlperiode. Sie stützten sich zumeist auf Tolerierungsmodelle , in denen sie durch gesamte Fraktionen oder einzelne Angeordnete unterstützt wurden. In Großbritannien handelte die Conservative Party 2017 eine Vereinbarung („confidence and supply agreement“) mit der nordirischen DUP aus. Neben finanziellen Zusagen für Nordirland in einer getrennten Vereinbarung wurde festgelegt, dass die DUP die Konservativen in allen Vertrauensanträgen , allen Finanzvorlagen einschließlich des Budgets, in Fragen des Brexit und der nationalen Sicherheit unterstützt. Alle anderen Vorhaben und Gesetze sind von Fall zu Fall zu verhandeln . Zwischen Labour und Conservatives wurde zudem eine Pairing-Vereinbarung getroffen. In Portugal wurde 2015 zunächst eine Minderheitsregierung gebildet, die mit ihrem Regierungsprogramm jedoch keine Mehrheit fand. Daraufhin wurde ein Sozialist zum Regierungschef ernannt, der nur mit den Sozialisten eine (Minderheits-) Regierung bildet, die zum ersten Mal in der Verfassungsgeschichte durch eine linke Mehrheit gestützt wird, die das Regierungsprogramm passieren ließ. Auch der Haushalt wurde schon drei Mal verabschiedet. Vor jedem größeren Gesetzesvorhaben verhandelt die Regierung mit den Fraktionen neu. 6.3. Italien: governo tecnico Als dritte Kategorie kommen Länder in Betracht, die bisher keine Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gemacht haben. Zu diesen zählt etwa Italien. Schwierige Mehrheitsverhältnisse werden hier zumeist über Neuwahlen aufgelöst. Daneben besteht in Italien das Modell einer sog. technischen Regierung (governo tecnico). Diese besteht meistens aus parteilosen Fachleuten, die von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen werden. Eingesetzt werden technische Regierungen vor allem zur Auflösung von Staatskrisen. Bisher hatten sie keinen Bestand über eine vollständige Wahlperiode. Einer internationalen Vergleichsstudie in 15 europäischen Demokratien zufolge waren von 1945 bis 1999 rund 23 Prozent der Regierungen in der Europäischen Union Minderheitsregierungen.5 Derzeit gibt es sie in sechs Ländern. 6 7. Sozial- und politikwissenschaftliche Bewertung In der Sozial- und Politikwissenschaft gibt es divergierende Perspektiven auf die Praxis von Minderheitsregierungen. Ein eher negatives Bild gibt es aus den Niederlanden: „Eine Regierung, 5 Thomas Saalfeld: Koalitionsstabilität in 15 europäischen Demokratien von 1945 bis 1999: Transaktionskosten und Koalitionsmanagement, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 38 (1) 2007, S. 180-206. 6 Hierzu gehören Großbritannien, Spanien, Portugal, Dänemark, Norwegen und Schweden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 251/17 Seite 7 die mit einem klaren Kurs regiert und auf einem mehrheitlich unterstützten Programm basiert, ist einer wankelmütigen Regierung vorzuziehen, die stets schauen muss, wohin sie getrieben wird. Um die Lebensdauer einer solchen Regierung muss man ständig fürchten. Die Chance, dass aus einer Minderheitsregierung ein Drama wird, ist größer als dass es ein Märchen zu sein scheint.“7 Zu einem eher positiven Fazit kommt eine deutsche Politikwissenschaftlerin, die Minderheitsregierungen dann für stabil hält, wenn Regierung und tolerierende Kräfte eine komplementäre Interessenlage verbindet: „Aus der der Sicht der Regierungspartei(en) bieten Minderheitskabinette den Vorteil, dass der Gewinn an Ämtern nicht aufgeteilt werden muss; Tolerierungsfraktionen wiederum sparen sich die Kosten des Regierens, die innerhalb einer Legislaturperiode in beinahe allen europäischen Demokratien in einer rückläufigen Zustimmung der Wähler zur Regierungspolitik bestehen.“8 *** 7 Bert van den Braak: Minderheidsregeering: Sprookje of drama (Minderheitsregierung: Märchen oder Drama?), in: Parlement en politiek 2017. https://www.parlement.com/id/vkemjo2crltk/minderheidskabinet_sprookje_of_dra (Übersetzung der Autorin). 8 Oscar W. Gabriel/Sabine Kropp: Die EU-Staaten im Vergleich: Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Wiesbaden 2008, S. 522.