© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 246/20 Verfahren zur Triage vor dem Bundesverfassungsgericht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 246/20 Seite 2 Verfahren zur Triage vor dem Bundesverfassungsgericht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 246/20 Abschluss der Arbeit: 15. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 246/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich zunächst mit den Hintergründen des Verfahrens zur sogenannten Triage vor dem Bundesverfassungsgericht. Anschließend wird dargestellt, welche Voraussetzungen dafür bestehen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufträgt, in Bezug auf eine bisher nicht gesetzlich geregelte Materie tätig zu werden. 2. Verfahren zur Triage vor dem Bundesverfassungsgericht Zurzeit ist vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde anhängig, die dagegen gerichtet ist, dass der Gesetzgeber es bisher unterlassen hat, Vorgaben für die Durchführung einer sogenannten Triage zu erlassen, zu der es im Rahmen der Covid-19-Pandemie aufgrund von Kapazitätsengpässen kommen könne.1 Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um Personen, die unter Behinderungen oder bestimmten Vorerkrankungen leiden und daher in Bezug auf Covid-19- Erkrankungen nach der Definition des Robert Koch-Instituts zu der Risikogruppe gehören, bei der mit einem schweren Krankheitsverlauf zu rechnen sei. Die Beschwerdeführer machen die Befürchtung geltend, im Falle knapper Behandlungsressourcen schlechtere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben oder von einer lebensrettenden Behandlung gänzlich ausgeschlossen zu werden. Aus den bisherigen Empfehlungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften gehe hervor, dass die Behinderungen oder Erkrankungen der Beschwerdeführer die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung verschlechterten. Die Erfolgsaussichten seien entscheidend für die Frage der Zuteilung der medizinischen Ressourcen. Die Beschwerdeführer machen geltend, unter anderem in ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen zu sein. Es drohe auch eine verbotene Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Der Gesetzgeber müsse seine Schutzpflichten bezüglich dieser Grundrechte wahrnehmen . Zusammen mit der Verfassungsbeschwerde wurde von den Beschwerdeführern auch ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Dieser war darauf gerichtet, dass die Bundesregierung vorläufig ein Gremium einsetzen solle, das die Triage verbindlich regle. Der Antrag wurde durch das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 16. Juli 2020 abgelehnt. Das Gericht führte zunächst aus, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens offen seien. Die Verfassungsbeschwerde sei nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet. Sie werfe die Frage auf, ob und wann ein Handeln des Gesetzgebers in Erfüllung einer Schutzpflicht gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten sei und wie weit der Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers reiche, wenn es um konkrete medizinische Priorisierungsentscheidungen gehe. Sei der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so müsse eine Abwägung vorgenommen werden zwischen den Folgen, die einträten, wenn die begehrte einstweilige Anordnung nicht erginge, die 1 Siehe zum Folgenden den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Juli 2020, 1 BvR 1541/20, Anlage 1 sowie die Pressemitteilung des Gerichts vom 14. August 2020, Anlage 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 246/20 Seite 4 Hauptsache aber später Erfolg habe, mit den Folgen, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung erginge, die Hauptsache aber erfolglos bliebe. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass den Antragstellern kein irreversibler Schaden drohe, wenn ihr Antrag im Eilverfahren keinen Erfolg habe. Das derzeitige Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten ließen es aktuell nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass es in Bezug auf die Covid-19-Pandemie zu einer Triage-Situation komme. Zudem sei der Antrag auf Einsetzung eines Gremiums zur vorläufigen Regelung der Triage nicht geeignet, die Situation der Beschwerdeführer wesentlich zu verbessern, denn ein solches Gremium habe nicht die Kompetenz, die verbindlichen Regelungen zu treffen, auf die es den Beschwerdeführern gerade ankomme. Stelle sich hingegen später im Hauptsacheverfahren heraus, dass eine gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich nicht geboten sei, so griffe eine einstweilige Anordnung außerordentlich in die Aufgabenverteilung zwischen den Staatsgewalten ein und erzeuge zudem organisatorischen und monetären Aufwand. Damit überwögen nach derzeitigen Erkenntnissen die den Beschwerdeführern drohenden Nachteile nicht derart, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung gerechtfertigt sei. 3. Auf ein Handeln des Gesetzgebers gerichtete Verfassungsbeschwerde Mit der Verfassungsbeschwerde kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) jedermann geltend machen, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Der angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt kann dabei grundsätzlich auch in einem Unterlassen bestehen.2 Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, die auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers gerichtet ist, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings grundsätzlich, dass das Grundgesetz einen ausdrücklichen Auftrag an den Gesetzgeber richtet, der den Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen umgrenzt.3 Solche ausdrücklichen Gesetzgebungsaufträge stellen beispielsweise Art. 6 Abs. 5 GG (Auftrag zur Gleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder), Art. 33 Abs. 5 GG (Auftrag zur Regelung und Fortentwicklung des Rechts des öffentlichen Dienstes) und Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG (Auftrag zur Regelung der Freiheitsentziehung ) dar.4 Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wird eine Schutzpflicht des Staates abgeleitet.5 Ein ausdrücklicher Auftrag an den Gesetzgeber lässt sich dem Grundgesetz in Bezug auf dieses Grundrecht jedoch nicht entnehmen.6 In Bezug auf 2 Grünewald, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 9. Edition Stand: 1. Januar 2020, § 90 BVerfGG Rn. 66 ff. 3 BVerfGE 11, 255 (261); 56, 54 (70 f.). 4 Lechner/Zuck, in: dieselben, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2019, Einleitung Rn. 264. 5 Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 43. Edition Stand: 15. Mai 2020, Art. 2 GG Rn. 74; ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe etwa BVerfGE 39, 1 (36 ff., 42). 6 Vgl. BVerfG NJW 1987, 2287 (2287). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 246/20 Seite 5 derartige Konstellationen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum notwendigen Schutz gegen Fluglärm ausgeführt: „Bislang sind aber derartige [gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers gerichtete] Verfassungsbeschwerden nur ausnahmsweise und nur dann als zulässig angesehen worden, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen bestimmt [...]. Diese Voraussetzung liegt ersichtlich nicht vor. Vielmehr läuft das Vorbringen der Beschwerdeführer auf den Vorwurf hinaus, der Gesetzgeber habe es unterlassen, solchen Handlungs- und Schutzpflichten nachzukommen, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen herleitbar sind. Daß der Staatsbürger auch in solchen Fällen unmittelbar das Bundesverfassungsgericht mit einer gegen gesetzgeberisches Unterlassen gerichteten Verfassungsbeschwerde anrufen kann, läßt sich jedenfalls nicht ohne weiteres annehmen. Denn gerade hier hängt die Entscheidung, ob und mit welchem Inhalt ein Gesetz zu erlassen ist, von mannigfaltigen wirtschaftlichen, politischen und haushaltsrechtlichen Gegebenheiten ab, die sich richterlicher Nachprüfung im allgemeinen entziehen [...].“7 Im Jahr 1987 nahm das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde, die darauf gerichtet war, den Gesetzgeber zur Einleitung von Gesetzgebungsmaßnahmen zur Bekämpfung von Aids zu verpflichten, wegen mangelnder Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung an.8 Zur Begründung führte das Gericht aus, dass es sich bei dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit „nicht um einen konkreten, nach Inhalt und Umfang bestimmten Handlungsauftrag zur Bekämpfung der Krankheit Aids an den Gesetzgeber [handle], wie er auf einem anderen Gebiet Art. 6 V GG zu entnehmen war, wo das Grundgesetz ausdrücklich eine Gleichstellung unehelicher Kinder durch die Gesetzgebung verlangt hatte“.9 Das Gericht betonte, dass in Fällen wie diesem die Entscheidung, ob und mit welchem Inhalt ein Gesetz zu erlassen sei, insbesondere von gesundheitspolitischen Erwägungen abhänge, die sich einer richterlichen Entscheidung entzögen. Das Gericht wies zudem darauf hin, dass es wegen einer Verletzung einer Schutzpflicht durch Unterlassen nur dann eingreifen könne, wenn staatliche Organe bisher gänzlich untätig geblieben oder die bisherigen Maßnahmen evident unzureichend seien. Diese Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Prüfung sei geboten, weil es eine hoch komplexe Frage sei, auf welche Weise eine staatliche Schutz- und Handlungspflicht, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den Grundrechten abgeleitet werde, durch gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen sei: „Gerade die Diskussion über den richtigen Weg der Aids-Bekämpfung zeigt, daß auch hier je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität sowie der Bewertung der Eignung, Effizienz und Angemessenheit der denkbaren Mittel 7 BVerfGE 56, 54 (70 f.), Hervorhebung nur hier. 8 BVerfG NJW 1987, 2287. 9 BVerfG NJW 1987, 2287 (2287). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 246/20 Seite 6 und Wege verschiedene Lösungen möglich sind. Die Entscheidung über diese Maßnahmen, die häufig Kompromisse erfordert, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des durch Wahlen legitimierten Gesetzgebers. Diesem gebühren überdies angemessene Erfahrungs- und Anpassungsspielräume, zumal es derzeit keine sicheren Erkenntnisse darüber gibt, wie die Ausbreitung der Krankheit Aids unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Mittel am wirksamsten gestoppt werden kann. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes ist nicht erkennbar, daß Gesetzgeber oder Bundesregierung etwaige aus den Grundrechten zu entnehmende Schutzgebote verletzt hätten, wenn sie nach dem derzeitigen – auch internationalen – Stand der Diskussion vorrangig die Aufklärung der Bevölkerung über die Möglichkeit betreiben wollen, die Ansteckung mit Aids zu vermeiden.“10 Soweit ersichtlich, hatte bisher keine Verfassungsbeschwerde, mit der der Gesetzgeber verpflichtet werden sollte, eine Materie gesetzlich zu regeln, Erfolg.11 *** 10 BVerfG NJW 1987, 2287 (2287), Hervorhebung nur hier. 11 Ein Beispiel, in dem das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet hat, war ein Verfahren zu den Grundrechten von Strafgefangenen (BVerfGE 33, 1). Das Gericht entschied, dass diese nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden könnten und gab dem Gesetzgeber unter Setzung einer Frist auf, entsprechend tätig zu werden. Allerdings hatte sich in diesem Verfahren die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil gewandt und war nicht auf ein Handeln des Gesetzgebers gerichtet.