© 2014 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 244/14 Verdachtsunabhängige Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 2 Verdachtsunabhängige Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 244/14 Abschluss der Arbeit: 7. November 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Verdachtsunabhängige Maßnahmen der Bundespolizei nach § 22 Abs. 1a BPolG 4 3. Verhältnis zu anderen Vorschriften 6 4. Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 1a BPolG 7 4.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 8 4.2. Materielle Verfassungsmäßigkeit 9 4.2.1. Bestimmtheitsgebot 9 4.2.2. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Freiheitsgrundrechte 12 4.2.2.1. Legitimes Ziel 12 4.2.2.2. Geeignetheit 12 4.2.2.3. Erforderlichkeit 13 4.2.2.4. Angemessenheit 13 4.2.3. Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 4 1. Fragestellung Gefragt wird, ob § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz (BPolG) mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Außerdem soll erörtert werden, inwieweit nach dieser Vorschrift zulässige Maßnahmen der Bundespolizei im Falle ihrer Streichung auf andere Vorschriften, vor allem auf § 23 BPolG, gestützt werden könnten. 2. Verdachtsunabhängige Maßnahmen der Bundespolizei nach § 22 Abs. 1a BPolG Die fraglichen Ermächtigungsgrundlagen lauten: „§ 22 Befragung und Auskunftspflicht […] (1a) Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet kann die Bundespolizei in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes (§ 3), soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, daß diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden, sowie in einer dem Luftverkehr dienenden Anlage oder Einrichtung eines Verkehrsflughafens (§ 4) mit grenzüberschreitendem Verkehr jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, daß mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen. (2) Die befragte Person ist verpflichtet, Namen, Vornamen, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben, soweit dies zur Erfüllung der Aufgaben der Bundespolizei erforderlich ist. Eine weitergehende Auskunftspflicht besteht nur für die nach den §§ 17 und 18 Verantwortlichen und unter den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 für die dort bezeichneten Personen sowie für die Personen, für die gesetzliche Handlungspflichten bestehen , soweit die Auskunft zur Abwehr einer Gefahr erforderlich ist. […]“ Zweck der Norm ist die Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreisen im Sinne des § 14 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz.1 Insbesondere soll die damit einhergehende Schleusungskriminalität unterbunden werden.2 Zu diesem Zweck räumt § 22 Abs. 1a BPolG bestimmte Befugnisse ein, die räumlich in zwei Verkehrsmitteln bzw. Verkehrsinfrastrukturen wahrgenommen werden können: zum einen in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes und zum anderen in dem Luftverkehr dienenden Anlagen oder Einrichtungen eines Verkehrsflughafens mit grenzüberschreitendem Verkehr. 1 Vgl. Hoppe/Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, BPolG, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 30. 2 Vgl. Gnüchtel, Fahndung im Grenzgebiet, auf dem Gebiet der Bahnanlagen sowie auf Verkehrsflughäfen, NVwZ 2013, 980 (981). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 5 Während im Luftverkehrsbereich keine weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen aufgestellt werden, bestehen die Befugnisse zu Maßnahmen in Zügen nur, wenn auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass die Züge zur unerlaubten Einreise genutzt werden. Eine konkrete Gefahr ist nicht erforderlich. Bei den Begriffen „Lageerkenntnisse“ und „grenzpolizeiliche Erfahrung“ handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung zugänglich sind.3 Liegen die örtlichen und im Fall von Zügen die zusätzlichen sachlichen Voraussetzungen vor, räumt § 22 Abs. 1a BPolG der Bundespolizei auf der Rechtsfolgenseite die Befugnis ein, jede Person kurzzeitig anzuhalten, zu befragen und zu verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen. Im Falle einer Befragung ist die befragte Person nach § 22 Abs. 2 S. 1 BPolG verpflichtet , Namen, Vornamen, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben, soweit dies zur Erfüllung der Aufgaben der Bundespolizei erforderlich ist. Weitergehende Auskunftspflichten bestehen nach § 22 Abs. 2 S. 2 BPolG nur für Verhaltens- oder Zustandsstörer (§§ 17, 18 BPolG) bzw. für Nichtstörer im Falle des polizeilichen Notstands (§ 20 BPolG)) sowie für Personen, für die gesetzliche Handlungspflichten bestehen, soweit die Auskunft zur Abwehr einer konkreten Gefahr erforderlich ist.4 Die Kontrolle der Ausweispapiere beschränkt sich auf mitgeführte Papiere. Da entgegen landläufiger Vorstellung weder für Deutsche noch für Ausländer eine allgemeine Pflicht zur Mitführung von Ausweispapieren besteht, sind die Kontrollmöglichkeiten insoweit von vornherein begrenzt.5 Zu weiteren Maßnahmen wie etwa das Festhalten und die Mitnahme zur Dienststelle zur Identitätsfeststellung oder die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen ermächtigt § 22 Abs. 1a BPolG nicht. Diese sind nur nach Maßgabe anderweitiger Befugnisnormen (v.a. § 23 Abs. 3 BPolG und § 24 BPolG), d.h. bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen zulässig. Die Ausübung der Befugnisse nach § 22 Abs. 1a BPolG hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen (§ 16 Abs. 1 BPolG). Das danach eröffnete Auswahlermessen der handelnden Beamten wird durch die verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbote (insbesondere des Art. 3 Abs. 3 GG) begrenzt.6 Das „Ob“ und „Wie“ der Ausübung ist ferner durch den verfassungsrechtlich verankerten und in § 15 BPolG einfachgesetzlich konkretisierten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt: Danach ist von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt (§ 15 Abs. 1 BPolG). Die gewählte Maßnahme darf außerdem nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (§ 15 Abs. 2 BPolG). Schließlich ist eine Maßnahme nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann (§ 15 Abs. 3 BPolG). 3 Vgl. Hoppe/Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, BPolG, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 34. 4 Vgl. Wehr, BPolG, 1. Aufl. 2013, § 22 Rn. 14. 5 Vgl. Hoppe/Peilert, in: Heesen/Hönle/Peilert/Martens, BPolG, 5. Aufl. 2012, § 22 Rn. 37. 6 Vgl. Wehr, BPolG, 1. Aufl. 2013, § 22 Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 6 Gesetzliche Beschränkungen der Häufigkeit von Befragungen auf der Grundlage von § 22 Abs. 1 a BPolG bestehen nicht. Die Häufigkeit ist grundsätzlich abhängig von den Lageerkenntnissen. Klarzustellen ist allerdings, dass es sich bei diesen lageabhängigen Befragungen nicht um „Ersatzgrenzkontrollen “ handelt. Diese wären mit Art. 20 Schengener Grenzkodex7 unvereinbar, wonach die Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrolle überschritten werden dürfen. 3. Verhältnis zu anderen Vorschriften Wenn die Befugnisnorm des § 22 Abs. 1a BPolG gestrichen würde, wären die dargestellten verdachtsunabhängigen Maßnahmen zunächst nicht mehr zulässig. Es gibt allerdings Überlappungsbereiche mit anderen Vorschriften des BPolG. So sind Befragungen auch nach § 22 Abs. 1 BPolG zulässig. Danach kann eine Person befragt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben für die Erfüllung einer bestimmten der Bundespolizei obliegenden Aufgabe machen kann. Zum Zwecke der Befragung kann die Person angehalten werden. Auf Verlangen hat die Person mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung auszuhändigen. Im Unterschied zu Absatz 1a der Norm ist der Anwendungsbereich des Absatzes 1 nicht beschränkt auf die Verhinderung unerlaubter Einreise , sondern bezieht sich auf sämtliche Aufgaben der Bundespolizei (§§ 1 bis 7 BPolG). Adressat der Maßnahmen nach § 22 Abs. 1 BPolG kann jede Person sein, von denen tatsachenbasiert angenommen werden kann, dass sie sachdienliche Angaben für die Erfüllung der präventivpolizeilichen Aufgaben der Bundespolizei machen kann.8 Ebenso wie bei § 22 Abs. 1a BPolG ist auch für eine Befragung nach § 22 Abs. 1 BPolG weder eine Polizeipflichtigkeit als Handlungs- oder Zustandsstörer noch eine konkrete Gefahr erforderlich. Befragungen sind daher auch als Gefahrerforschungseingriff bzw. zur Klärung eines bestehenden Gefahrenverdachts zulässig.9 Überlappungen mit § 22 Abs. 1a BPolG bestehen insoweit, als Befragungen auf der Grundlage des § 22 Abs. 1 BPolG auch in den in § 22 Abs. 1a BPolG genannten Örtlichkeiten des Eisenbahn- bzw. Luftverkehrs stattfinden könnten. Da der Grenzschutz zu den Aufgaben der Bundespolizei gehört, könnten diese Befragungen auch zum Zweck der Verhinderung unerlaubter Einreise durchgeführt werden. Im Unterschied zu § 22 Abs. 1a BPolG muss für Befragungen nach § 22 Abs. 1 BPolG aber eine schlüssig auf Tatsachen gestützte Annahme bestehen, dass die Person sachdienliche Angaben machen kann. Dieses Erfordernis besteht für Befragungen nach § 22 Abs. 1a BPolG nicht. Ferner bestehen Überlappungen mit § 23 BPolG, der zahlreiche Tatbestände zur Identitätsfeststellung enthält. Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem der Tatbestand des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG relevant. Danach kann die Bundespolizei zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet die Identität einer Person unter anderem im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern feststellen. Dieselbe Befugnis besteht auch zur Verhütung 7 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 105 vom 13. April 2006. 8 Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 22 Rn. 9 f. 9 Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 22 Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 7 von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BPolG. Hierbei handelt es sich um bestimmte grenzbezogene Vergehen. Tatbestandlich ist die Befugnisnorm sachlich weiter als § 22 Abs. 1a BPolG, weil sie weder eine konkrete Gefahr noch vorliegende Lageerkenntnisse oder entsprechende grenzpolizeiliche Erfahrungen erfordert.10 Die Befugnis wird tatbestandlich nur durch die gesetzliche Zweckbestimmung begrenzt.11 In räumlicher Hinsicht ist sie jedoch enger als § 22 Abs. 1a BPolG, weil sie auf einen dreißig Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze beschränkt ist. Die Befragungen aufgrund von § 22 Abs. 1a BPolG dürfen auch außerhalb der im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG geltenden räumlichen Begrenzung von 30 Kilometern durchgeführt werden.12 Auf der anderen Seite ist § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG nicht auf bestimmte Verkehrsmittel beschränkt, sondern im gesamten grenznahen Raum anwendbar, unter anderem auch in den dort verkehrenden Zügen. Auf der Rechtsfolgenseite ist § 23 BPolG weiter als § 22 Abs. 1a BPolG. § 23 Abs. 3 S. 1 BPolG erlaubt generalklauselartig das Treffen der zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen. Ähnlich wie nach § 22 Abs. 1a BPolG kann die Bundespolizei gemäß § 23 Abs. 3 S. 2 BPolG den Betroffenen anhalten, ihn nach seinen Personalien befragen und verlangen, dass er Ausweispapiere zur Prüfung aushändigt. Darüber hinaus kann nach § 23 Abs. 3 S. 4 BPolG der Betroffene festgehalten und zur Dienststelle mitgenommen werden, wenn seine Identität oder seine Berechtigung zum Grenzübertritt auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Unter den Voraussetzungen des Satzes 4 können der Betroffene sowie die von ihm mitgeführten Sachen außerdem nach Gegenständen, die der Identitätsfeststellung dienen, durchsucht werden. Neben diesen Unterschieden in Tatbestand und Rechtsfolge unterscheiden sich § 22 BPolG und § 23 BPolG durch eine andere Zielsetzung: Befragungen nach § 22 BPolG dienen in erster Linie der Gewinnung polizeilich relevanter Informationen zur Aufgabenbewältigung, während Maßnahmen nach § 23 BPolG in erster Linie der Identifizierung einer unbekannten Person dienen.13 4. Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 1a BPolG Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wird im Schrifttum aus verschiedenen Gründen kontrovers diskutiert, insbesondere im Hinblick auf grundrechtliche bzw. rechtsstaatliche Aspekte.14 Im Folgenden wird ein Überblick über die wesentlichen Fragen gegeben. 10 Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 23 Rn. 18. 11 Vgl. Wehr, BPolG, 1. Aufl. 2013, § 23 Rn. 6. 12 Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 22 Rn. 23. 13 Vgl. Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 22 Rn. 7. 14 Vgl. Lisken, „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität“?, NVwZ 1998, 22 ff.; Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen , ZRP 2002, 393 ff.; Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 377; Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 16 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 8 4.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Zunächst müsste sich der Bund für die Regelung des § 22 Abs. 1a BPolG auf eine Gesetzgebungskompetenz stützen können. Für das Recht der allgemeinen Gefahrenabwehr sind nach Art. 70 Abs. 1 GG, der Grundregel für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, die Länder zuständig, da das Grundgesetz dem Bund keine Kompetenz für die allgemeine Gefahrenabwehr verleiht (sog. Polizeihoheit der Länder). Bundeskompetenzen bestehen aber für bestimmte sonderpolizeiliche Aufgaben. Zum Teil handelt es sich dabei um ausdrückliche Gesetzgebungskompetenzen (wie etwa im Fall des Grenzschutzes ), zum Teil um ungeschriebene Annexkompetenzen (wie etwa im Fall der Bahnpolizei aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG oder der Luftpolizei aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG15). Vorliegend kommt der Kompetenztitel des Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 5 GG in Betracht, der den Zoll- und Grenzschutz zum Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes erklärt. Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung haben nach Art. 71 GG die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu durch Bundesgesetz ermächtigt werden. Grenzschutz ist der Schutz der Bundesgrenzen gegen Grenzverletzungen. Dies ist angesichts der Regelung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 GG freilich von vornherein beschränkt auf die nichtmilitärische Grenzsicherung. Dem entspricht die einfachgesetzliche Legaldefinition des Grenzschutzes als der „grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebietes“ (§ 2 Abs. 1 BPolG). § 2 Abs. 2 BPolG listet als Bestandteile der Aufgabe Grenzschutz auf: erstens die polizeiliche Überwachung der Grenzen, zweitens die polizeiliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs und drittens im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern und von der seewärtigen Begrenzung an bis zu einer Tiefe von 50 Kilometern die Abwehr von Gefahren, die die Sicherheit der Grenze beeinträchtigen. Die Befugnisnorm des § 22 Abs. 1a BPolG geht insoweit über diese Aufgabenumschreibung hinaus, als sie nicht auf das Grenzgebiet beschränkt ist, sondern ohne räumliche Begrenzung Maßnahmen in Zügen erlaubt, von denen auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass sie zur unerlaubten Einreise genutzt werden (s.o.). Diese einfachgesetzliche Diskrepanz ist jedoch unerheblich. Die Befugnisnorm impliziert das Bestehen der Aufgabe. § 22 Abs. 1a BPolG ist insoweit die gegenüber § 2 Abs. 2 BPolG speziellere Regelung. Entscheidend ist, ob der verfassungsrechtliche Grenzschutzbegriff die räumliche Ausdehnung der Aufgabenwahrnehmung trägt. Das Bundesverfassungsgericht hat 1998 anlässlich der Übertragung bahnpolizeilicher Aufgaben auf den damaligen Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) ausgeführt, dass die Aufgabe Grenzschutz im Sinne von Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG und Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG „nicht nur die Überwachung der unmittelbaren Bundesgrenzen, sondern auch die Kontrolle des anliegenden Hinterlandes sowie des grenzüberschreitenden Verkehrs auf den Flughäfen 15 Vgl. Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Ergänzungslieferung 2014 (Kommentierung 58. Ergänzungslieferung 2010), Art. 73 Rn. 135 und 144. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 9 und Grenzbahnhöfen“ umfasse.16 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, inwieweit grenzpolizeiliche Maßnahmen in Eisenbahnen jenseits des „anliegenden Hinterlandes“ und außerhalb von Grenzbahnhöfen umfasst sind. Hierüber hatte das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Beschluss nicht zu entscheiden. Maßnahmen, die die Verhinderung von Grenzverletzungen bezwecken, sind aber auch außerhalb eines wie auch immer bemessenen Hinterlandstreifens und auch außerhalb von Grenzbahnhöfen oder Flughäfen denkbar. Insbesondere, wenn es um Informationsgewinnung geht, die Erkenntnisse für die grenzpolizeiliche Aufgabenwahrnehmung liefern soll, kann diese unabhängig von dem Ort ihrer Durchführung einen grenzpolizeilichen Zweck verfolgen. Es spricht daher einiges dafür, die Gesetzgebungskompetenz für den Grenzschutz als nicht räumlich , sondern funktionell beschränkt anzusehen.17 Maßnahmen, die ihrer Zweckrichtung nach dem Schutz der Grenze dienen, sind von der Gesetzgebungskompetenz umfasst, unabhängig von dem Ort ihrer Durchführung. Hierzu zählt dann auch die Kontrolle von Einreisevorschriften im Landesinneren.18 Nach diesem funktionell und nicht räumlich verstandenen Grenzschutz erscheint § 22 Abs. 1a BPolG aus kompetenzrechtlicher Sicht unproblematisch, da Zweck der Norm nach ihrem Wortlaut die „Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet“ ist. Dies ist von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Grenzschutzrecht gedeckt. 4.2. Materielle Verfassungsmäßigkeit Zu prüfen ist, ob § 22 Abs. 1a BPolG materiell verfassungsgemäß ist. Die Verfassungsmäßigkeit von verdachtsunabhängigen Personenkontrollen im Allgemeinen ist in der Literatur umstritten. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen im Hinblick auf die Bestimmtheit (dazu 4.2.1) und die Verhältnismäßigkeit (dazu 4.2.2).19 Zudem fördere die Vorschrift verfassungswidrige Ungleichbehandlungen (dazu 4.2.3).20 4.2.1. Bestimmtheitsgebot Nach dem aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten abzuleitenden Bestimmtheitsgebot müssen grundrechtsbeschränkende Gesetze hinreichend konkrete Maßgaben für das Verwaltungshandeln aufstellen, um dieses nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen, den Bürgern Klarheit 16 BVerfGE 97, 198 (214). 17 So Drewes/Malmberg/Walter, BPolG, 4. Aufl. 2010, § 2 Rn. 73; Wahlen, Maritime Sicherheit im Bundesstaat, 2012, S. 59; ähnlich Ronellenfitsch, Der Bundesgrenzschutz als Bahn- und Flugplatzpolizei, VerwArch 1999, 139 (161); Papier, Polizeiliche Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, DVBl. 1992, 1 (3); Winkeler, Von der Grenzpolizei zur multifunktionalen Polizei des Bundes?, 2005, S. 43; Gade/Kieler, Polizei und Föderalismus, 2008, S. 25. 18 Vgl. Martínez Soria, Verdachtsunabhängige Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz, NVwZ 1999, 270 (271). 19 Vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 377. 20 So Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 24 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 10 über mögliche belastende Maßnahmen zu verschaffen und eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle anhand eindeutiger Maßstäbe zu ermöglichen.21 Mit steigender Grundrechtsrelevanz einer Maßnahme steigen die Anforderungen an die gesetzliche Konkretisierung: Je intensiver der Eingriff ist, desto bestimmter müssen die zu ihm ermächtigenden Befugnisnormen sein.22 Unter Beachtung dieser Grundsätze darf der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden, deren nähere Konkretisierung dann der Rechtsprechung obliegt. In der Literatur wird vertreten, dass § 22 Abs. 1a BPolG diesen Anforderungen nicht gerecht werde.23 Die Tatbestandsmerkmale „Lageerkenntnisse“ und „grenzpolizeiliche Erfahrung“ seien zu unbestimmt.24 Der Bürger sei darauf angewiesen, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme der Bundespolizei im Nachhinein verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen, und könne vorher nicht erkennen, ob der Tatbestand der Eingriffsnorm erfüllt sei, und dementsprechend auch sein Verhalten nicht danach ausrichten.25 Die Eingriffsvoraussetzungen müssten aber auf tatbestandlicher Ebene so normiert sein, dass jeder Bürger den Grund für das Eingreifen und dessen Ausmaß erkennen könne.26 Zudem sei das Tatbestandsmerkmal „grenzpolizeiliche Erfahrung“ einer gerichtlichen Überprüfung nach objektiven rechtlichen Kriterien nicht zugänglich.27 Andere Stimmen halten die durch das Bestimmtheitsgebot an die Norm gestellten Anforderungen für erfüllt. Die Tatbestandsmerkmale „Lageerkenntnisse“ und „grenzpolizeiliche Erfahrung“ berechtigten die Bundespolizei zu einer Prognose, die vollständig gerichtlich kontrollierbar sei.28 Die Rechtslage sei mit der Rechtsfigur des Gefahrenverdachts zu vergleichen, bei der ebenfalls objektive Anhaltspunkte vorliegen müssen, die bei verständiger Würdigung durch den Betrachter aus der ex-ante-Sicht einen Sachverhalt wahrscheinlich erscheinen lassen, der, wenn er tatsächlich vorläge, eine polizeiliche Gefahr darstellen würde.29 Klarzustellen ist, dass sich die unbestimmten Rechtsbegriffe zum einen nur auf Maßnahmen in Zügen beziehen. In Bezug auf Verkehrsflughäfen mit grenzüberschreitendem Verkehr gilt die Einschränkung nicht und stellt sich insoweit von vornherein nicht die Frage nach der hinreichenden Bestimmtheit. Zum anderen dienen die unbestimmten Rechtsbegriffe nur der Feststellung, ob ein 21 BVerfGE 113, 348 (375 ff.); zuletzt BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013, 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08, Rn. 126. 22 Vgl. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2011, Rn. 173. 23 Etwa Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, 393 (398). 24 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 19. 25 Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, 393 (398). 26 Lisken, „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität “?, NVwZ 1998, 22 (25). 27 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 19. 28 Martínez Soria, Verdachtsunabhängige Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz, NVwZ 1999, 270 (272). 29 Martínez Soria, Verdachtsunabhängige Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz, NVwZ 1999, 270 (272). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 11 bestimmter Zug mutmaßlich zur unerlaubten Einreise genutzt wird, nicht aber, ob eine zu befragende Person mutmaßlich unerlaubt eingereist ist. Nach dem Wortlaut des § 22 Abs. 1a BPolG müssen Lageerkenntnisse und grenzpolizeiliche Erfahrung die Annahme zulassen, dass die Züge, in denen Befragungen stattfinden sollen, „zur unerlaubten Einreise genutzt werden“. Damit knüpfen die subjektiven Lageerkenntnisse und Erfahrungen an objektive Tatsachen an. Diese objektive Beschränkung der Norm folgt letztlich auch schon aus ihrer Zielsetzung („Zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet“). Schon diese verpflichtet die Polizei dazu, nur bei entsprechenden tatsachenbasierten Erkenntnissen Maßnahmen aufgrund der Vorschrift durchzuführen, ohne dass es entscheidend auf die Erwähnung der Begriffe der „Lageerkenntnisse“ und „grenzpolizeilichen Erfahrung“ im Gesetzestext ankommt.30 Die Lage erscheint in der Tat vergleichbar mit der Rechtsfigur des Gefahrenverdachts, allerdings nicht bezogen auf eine zu befragende Person, sondern lediglich im Hinblick auf die Identifikation einer tauglichen Bahnstrecke: Tatsachen müssen die Annahme rechtfertigen, dass ein Zug bevorzugt zur unerlaubten Einreise genutzt wird. Ob objektive Momente darauf hindeuten, dass eine bestimmte Bahnstrecke zur unerlaubten Einreise genutzt wird, ist gerichtlich überprüfbar. Entsprechend ist in der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a BPolG beispielsweise geprüft worden, ob die Bundespolizei schlüssig und nachvollziehbar darlegt hat, dass eine Bahnstrecke Teil einer Route ist, die von Schleuserbanden bevorzugt zur unerlaubten Einreise genutzt wird.31 Ein solcher Tatsachenvortrag wird regelmäßig eine Unterfütterung mit Tatsachenabgaben erfordern, beispielsweise mit Zahlen. Ob die Annahme, eine Bahnstrecke werde zur unerlaubten Einreise genutzt, aufgrund hinreichender Tatsachengrundlage berechtigt ist, erscheint ausreichend gerichtlich überprüfbar. Können keine Tatsachen vorgetragen werden, die eine solche Annahme stützen, wird man die tatbestandlichen Voraussetzungen für Maßnahmen in Zügen verneinen müssen. Diese gerichtliche Überprüfbarkeit spricht für eine ausreichende Bestimmtheit der Norm. Dies wird außerdem gestützt durch die vergleichsweise niedrige Eingriffsintensität der Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a BPolG, die nach den oben erwähnten Grundsätzen geringere Anforderungen an die Bestimmtheit zulässt. Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots erscheinen insoweit gewahrt.32 30 So zu einer Parallelvorschrift im Bayerischen Polizeirecht BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, NVwZ 2003, 1375 (1377). 31 So etwa VG Köln, Urteil vom 13. Juni 2013, 20 K 4683/12 – juris. 32 Ähnlich im Hinblick auf das Gebot der Normenklarheit auch VG Koblenz, Urteil vom 28. Februar 2012, Az. 5 K 1026/11.KO, BeckRS 2012, 48841 (dieses Urteil wurde allerdings nach einer übereinstimmenden Erledigungserklärung durch das OVG Rheinland-Pfalz deklaratorisch für wirkungslos erklärt, vgl. näher Wagner, Allegorie des „racial profiling“, DÖV 2013, 113 [114]); ähnlich im Hinblick auf eine Parallelvorschrift des Bayerischen Polizeirechts BayVerfGH, Entscheidung vom 7. Februar 2006, Vf. 69-VI-04. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 12 4.2.2. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Freiheitsgrundrechte Indem § 22 Abs. 1a BPolG unter den genannten Voraussetzungen erlaubt, jede Person kurzzeitig anzuhalten, zu befragen, die Aushändigung mitgeführter Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zu verlangen sowie mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen, greift die Vorschrift in den Schutzbereich des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein.33 § 22 Abs. 2 BPolG statuiert die Verpflichtung befragter Personen, soweit erforderlich, bestimmte Angaben zu ihrer Identität zu machen und greift damit ebenfalls in die Schutzbereiche dieser Grundrechte ein. Nicht jeder Eingriff in ein Grundrecht stellt allerdings eine Grundrechtsverletzung dar, denn Grundrechtseingriffe können verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Sowohl das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als auch das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit können durch Gesetz eingeschränkt werden. Bei der Bestimmung der Schranken der berührten Grundrechte ist der Gesetzgeber allerdings nicht frei. Insbesondere muss er dem im Rechtsstaatsprinzip sowie in den Grundrechten wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. ein legitimes Ziel verfolgen und zur Erreichung dieses Ziels geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen vorsehen.34 4.2.2.1. Legitimes Ziel Der Gesetzgeber hat bei der Festlegung des legitimen Ziels einen weiten Gestaltungsspielraum.35 § 22 Abs. 1a BPolG bezweckt die Verhinderung der unerlaubten Einreise, insbesondere in Gestalt organisierter Schleuserkriminalität.36 Dieses Ziel wird auch von den Gegnern der Vorschrift als legitim anerkannt.37 Mit der Verfolgung dieser Zielsetzung hat der Gesetzgeber daher seinen Gestaltungsspielraum nicht überschritten. 4.2.2.2. Geeignetheit Die verdachtsunabhängigen Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a BPolG müssten zudem geeignet sein, das legitime Ziel zu erreichen. Geeignet ist eine Maßnahme, wenn anzunehmen ist, dass sie den erstrebten Erfolg herbeiführt, wobei die Möglichkeit bzw. die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Zweckerreichung für die Geeignetheit einer Maßnahme ausreichend ist.38 In der Literatur wird 33 Vgl. Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz , Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 17 f. 34 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Ergänzungslieferung 2014 (Kommentierung 48. Ergänzungslieferung 2006), Art. 20 Rn. 110. 35 Vgl. Sachs, in: Sachs, GG, Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 20 Rn. 149. 36 BT-Drs. 13/11159, S. 1. 37 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 19. 38 Sachs, in: Sachs, GG, Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 20 Rn. 150. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 13 die Geeignetheit der Maßnahmen zum Teil bestritten.39 Argumentiert wird, dass keine Verpflichtung bestehe, einen Personalausweis mit sich zu führen und die Polizeibeamten aufgrund des § 22 Abs. 1a BPolG nicht das Recht hätten, eine befragte Person auf Grund fehlender Papiere zur Dienststelle mitzunehmen, um dort die Personalien festzustellen.40 Im Mittelpunkt der Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a und Abs. 2 BPolG steht allerdings gar nicht die Identitätsfeststellung, sondern die Sammlung von sachdienlichen Informationen. Die Erhebung von Personalien dient primär der Zuordnung erhaltener Informationen zu einer Person. Eine Identitätsfeststellung ist nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 23 BPolG zulässig. Die in § 22 Abs. 1a BPolG enthaltenen Maßnahmen, die vor allem dem Erkenntnisgewinn dienen, erscheinen zur Zielerreichung geeignet. Seinen Gestaltungsspielraum, der ihm auch im Rahmen der Geeignetheit zukommt, dürfte der Gesetzgeber mit den Maßnahme nach § 22 Abs. 1a BPolG jedenfalls nicht überschritten haben.41 4.2.2.3. Erforderlichkeit Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn kein milderes – gleich effektives – Mittel zur Erreichung des Zwecks vorhanden ist, wobei dem Gesetzgeber auch in diesem Fall ein Einschätzungsspielraum zukommt.42 Ein milderes Mittel ist im vorliegenden Regelungszusammenhang nicht ersichtlich,43 zumal eine Überschreitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums nur dann anzunehmen ist, wenn eindeutig feststeht, dass ein milderes aber gleich effektives Mittel zur Verfügung steht.44 Daher dürfte die Erforderlichkeit zu bejahen sein. 4.2.2.4. Angemessenheit Zudem darf das Mittel nicht außer Verhältnis zum Zweck stehen. Die Maßnahme muss nach einer Gesamtabwägung aller relevanten Umstände angemessen (Zweck-Mittel Relation) und für den Betroffenen daher zumutbar sein.45 39 Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, 393 (398 f.). 40 Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, 393 (399). 41 Im Ergebnis auch Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, Band 3, 3. Auflage 2013, § 69 Rn. 198. 42 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Ergänzungslieferung 2014 (Kommentierung 48. Ergänzungslieferung 2006), Art. 20 Rn. 113 ff. 43 Möllers, Polizeikontrolle ohne Gefahrenverdacht, Ratio und rechtliche Grenzen der neuen Vorsorgebefugnisse, NVwZ 2000, 382 (385). 44 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Allgemeine Lehren der Grundrechte, Band III/2, 1994, § 84, S. 782. 45 Sachs, in: Sachs, GG, Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 20 Rn. 154. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 14 Von einem Teil der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass verdachtsunabhängige bzw. lageabhängige Kontrollen zu weitreichend und daher unverhältnismäßig seien.46 Insbesondere weil der Bürger – außer der Tatsache, dass er sich an einem bestimmten Ort aufhält – keine Ursache für eine Kontrolle setze, fehle es am erforderlichen Zurechnungszusammenhang und sei die Maßnahme infolgedessen nicht mehr angemessen.47 Der Bürger müsse ohne tauglichen Grund ein Stück seiner Privatheit aufgeben.48 Der Gesetzgeber verzichte auf klassische polizeirechtliche Eingriffsschwellen wie Gefahr oder Störereigenschaft, und mache letztlich das Reisen an sich, also die Ausübung der allgemeinen Handlungsfreiheit selbst, zum Eingriffskriterium.49 Auch stehe der „Ertrag“ anlassunabhängiger Kontrollmaßnahmen allgemein in keinem angemessenen Verhältnis zu den Einbußen an Rechtstaatlichkeit.50 Nach dieser Ansicht ist der Eingriff in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie in das Recht auf informationelle Selbstbestimmungsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG unangemessen und damit verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Nach der überwiegenden Ansicht sind verdachtsunabhängige Kontrollen mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip hingegen vereinbar.51 Die Bekämpfung der organisierten ebenso wie der nicht organisierten grenzüberschreitenden Kriminalität sei ein in hohem Maße verfassungslegitimes Ziel, das auch durch die staatliche Schutzpflicht geboten sei.52 Zwar knüpfe eine polizei- und ordnungsrechtliche Maßnahme traditionell an bestimmte Tatbestandsmerkmale , wie z. B. die Gefahr oder die Störereigenschaft an. Dies bedeute aber nicht zugleich, 46 Lisken, „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität “?, NVwZ 1998, 22 (25); Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 377 ff.; Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkon-trollen, ZRP 2002, 393 (398 f.); Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 19 ff. 47 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 377 ff. 48 Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, 393 (399). 49 Lisken, „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität “?, NVwZ 1998, 22 (25). 50 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 381. 51 BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, Az. Vf. 7-VII-00 u.a., NVwZ 2003, 1375 ff.; Würtenberger, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Band 3, 3. Auflage 2013, § 69 Rn. 198; Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Auflage 2006, S. 214 Rn. 81; Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Auflage 2008, S. 245 f.; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, 7. Auflage 2012, S. 228 f.; Möllers, Polizeikontrolle ohne Gefahrenverdacht, Ratio und rechtliche Grenzen der neuen Vorsorgebefugnisse , NVwZ 2000, 382 (385); Walter, Verdachts- und ereignisunabhängige Polizeikontrollen, Kriminalistik 1999, 290 (293). 52 Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Auflage 2008 S. 246. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 15 dass jede Norm ohne entsprechende Einschränkungen unverhältnismäßig sei.53 Durch die Tatbestandsmerkmale „Lageerkenntnis“ und „grenzpolizeiliche Erfahrung“ sei hinreichend gewährleistet, dass willkürliche Kontrollen verhindert werden.54 Zwar gebe es zwischen einer ereignis- und verdachtsunabhängig kontrollierten Person und der Gefahr, der die Vorsorgemaßnahme gilt, keinen vergleichbaren Zusammenhang wie er sonst im Polizeirecht zwischen Störer und konkreter Gefahr bestehe; im Bereich der Gefahrenvorsorge sei ein solcher Zurechnungszusammenhang aus verfassungsrechtlichen Gründen aber auch nicht zu fordern, da die Gefahr gleichsam anonym sei.55 Zudem stellten die aufgrund des § 22 Abs. 1a BPolG drohenden Maßnahmen eines Angehalten- und Befragtwerdens sowie der Verpflichtung, ein mitgeführtes Ausweispapier zur Prüfung auszuhändigen , nur sehr geringfügige Eingriffe in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.56 Die punktuellen Kontrollmaßnahmen seien den Betroffenen zumutbar.57 Soweit sich an die genannten Maßnahmen weitere anschließen, beruhen diese auf anderen Normen, deren Anwendungsbereich möglicherweise im Zuge der Befragung nach § 22 Abs. 1a BPolG eröffnet worden ist (etwa weil nunmehr ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer konkreten Gefahr bestehen). Schließlich seien durch die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen mit dem Schengener Durchführungsabkommen im Interesse eines Raumes ohne wahrnehmbare Binnengrenzen für die Bürger gewisse Risiken im Hinblick auf die unerlaubte Einreise und grenzüberschreitende Kriminalität in Kauf genommen worden. Es sei daher nicht unangemessen, wenn das Gesetz jeder Person die geringfügige Pflicht auferlegt, zur Minimierung der genannten Risiken in dem festgelegten Kontrollraum gegebenenfalls seine Personalien zu nennen und ein mitgeführtes Ausweispapier zur Prüfung auszuhändigen.58 53 BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, Az. Vf. 7-VII-00 u.a., NVwZ 2003, 1375 (1377 f.). 54 VG Koblenz, Urteil vom 28. Februar 2012, Az. 5 K 1026/11.KO, BeckRS 2012, 48841. Das LVerfG Mecklenburg-Vorpommern hat hervorgehoben, dass eine verdachtsunabhängige Identitätskontrolle gerade dann zulässig sei, wenn das Gesetz als Voraussetzung für die Maßnahme „Lageerkenntnisse“ oder „grenzpolizeiliche Erfahrung“ erfordere, LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 21. Oktober 1999, Az. LVerfG 2/98, DÖV 2000, 71 (75). 55 BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, Az. Vf. 7-VII-00 u.a., NVwZ 2003, 1375 (1378). 56 So zu einer Parallelvorschrift des Bayerischen Polizeirechts der BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, Az. Vf. 7-VII-00 u.a., NVwZ 2003, 1375 (1377). 57 Walter, Verdachts- und ereignisunabhängige Polizeikontrollen, Kriminalistik 1999, 290 (293). 58 So zu einer Parallelvorschrift des Bayerischen Polizeirechts der BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003, Az. Vf. 7-VII-00 u.a., NVwZ 2003, 1375 (1378). Diese Auffassung ist allerdings auch innerhalb des Verfassungsgerichtshofes nicht unumstritten. Ein Richter stellte in einem Sondervotum in einer anderen Entscheidung zu polizeilichen Durchsuchungen bei Schleierfahndungen klar, dass er verdachtsunabhängige Maßnahmen der Schleierfahndung grundsätzlich für verfassungswidrig halte, BayVerfGH, Urteil vom 7. Februar 2006, Az. Vf. 69-VI/04, BeckRS 2006, 23756. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 16 Nach dieser überwiegend vertretenen Auffassung verstößt die Vorschrift nicht gegen das Übermaßverbot und ist der mit ihr verbundene Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und in das Recht der informationellen Selbstbestimmung gerechtfertigt. 4.2.3. Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Teilweise wird vertreten, dass von § 22 Abs. 1a BPolG eine diskriminierende Wirkung ausgehe und daher ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG vorliege.59 Nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Vom Begriff der „Rasse“ müssen, um die Schutzwirkung der Norm nicht zu unterlaufen, nicht nur naturwissenschaftliche Aspekte, sondern gerade auch abzulehnende Interpretationen des Rassenbegriffs umfasst werden.60 Unter den Begriff fällt daher jede Gruppe mit auch nur vermeintlichen vererbbaren Merkmalen.61 Nach herrschender Meinung zählt zum Merkmal der Rasse danach jedenfalls auch die Hautfarbe.62 Obwohl der Wortlaut von § 22 Abs. 1a BPolG keine diskriminierenden Merkmale wie etwa die Hautfarbe enthält, wird im Schrifttum bemängelt, dass der auf die Unterbindung unerlaubter Einreise gerichtete Zweck der Norm auf Diskriminierungen geradezu angelegt sei, da die Beamten die Personen regelmäßig nur nach bestimmten phänotypischen Merkmalen aussuchen werden.63 Eine andere Beurteilung sei bei einer reinen Inaugenscheinnahme auch nicht möglich.64 § 22 Abs. 1a BPolG verstoße daher gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG.65 Diese Bedenken werden von einem Teil der Literatur aufgegriffen. Aufgrund der geringen tatbestandlichen Vorgaben bestehe für verdachtsunabhängige Maßnahmen eine erhöhte Gefahr willkürlichen und diskriminierenden Handelns.66 Es wird auch die Vermutung geäußert, dass der Normzweck eine latent ausländerfeindliche Polizeikultur begünstigen könnte67 Denn in der Tat 59 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 24 ff. 60 Vgl. Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 22. Edition 2014, Art. 3 Rn. 223; Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 71. Ergänzungslieferung 2014 (Kommentierung Grundwerk), Art. 3 Rn. 58 ff. 61 Vgl. Kischel, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 22. Edition 2014, Art. 3 Rn. 223. 62 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage 2010, Art. 3 Abs. 3 Rn. 387; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Auflage 2014, Art. 3 Rn. 122. 63 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 27. 64 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 27. 65 Cremer, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz, Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013, S. 24. 66 Ernst, Anlassunabhängige Personenkontrollen und Gefahrengebiete, NVwZ 2014, 633 (636). 67 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012, E. Rn. 364. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 17 sei die Wahrscheinlichkeit, illegal in das Bundesgebiet eingereist zu sein, bei bestimmten phänotypischen Erscheinungsbildern höher als bei anderen.68 Gleichwohl ermögliche § 22 Abs. 1a BPolG auch diskriminierungsfreie Kontrollen.69 Zur Würdigung der vorgebrachten Bedenken ist Folgendes festzuhalten: Der Wortlaut des § 22 Abs. 1a BPolG differenziert weder nach der Hautfarbe der Adressaten polizeilicher Maßnahmen noch nach einem sonstigen durch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für unzulässig erklärtes Kriterium. Vielmehr ist ausdrücklich „jede Person“, die sich in den genannten Verkehrseinrichtungen aufhält, potentieller Adressat von Befragungen nach § 22 Abs. 1a BPolG. Das sachliche Differenzierungskriterium zwischen der Gruppe, die Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a BPolG unterliegt, und der Gruppe, die solchen Maßnahmen nicht unterliegt, ist im Tatbestand der Norm also allein ihr Aufenthaltsort. Dies ist kein nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG unzulässiges Differenzierungskriterium. Zwar erstreckt sich Art. 3 Abs. 3 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch auf mittelbare Diskriminierungen: Eine solche liegt vor, wenn ein Gesetz einen sachlichen Anknüpfungspunkt verwendet, der zwar von Art. 3 Abs. 3 GG nicht unmittelbar verboten ist, der aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend nur für eine Gruppe zutrifft, deren Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG strikt verboten ist.70 Auch dies ist bei § 22 Abs. 1a BPolG aber nicht der Fall: Die genannten Verkehrseinrichtungen werden nicht typischerweise nur von Personen frequentiert, auf die ein nach Art. 3 Abs. 3 GG unzulässiges Differenzierungskriterium zutrifft. Eine andere Frage ist, wie das durch § 22 Abs. 1a BPolG auf Rechtsfolgenseite eingeräumte Ermessen ausgeübt wird. Dieses wird nach § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) zum einen begrenzt durch den Zweck der Norm: Maßnahmen nach § 22 Abs. 1a BPolG dürfen demnach nur zum Zweck der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise erfolgen, also eben nicht willkürlich. Zum anderen wird das eingeräumte Ermessen, insbesondere auch das darin enthaltene Auswahlermessen, selbstverständlich durch höherrangiges Recht begrenzt (sog. gesetzliche Grenzen des Ermessens nach § 40 VwVfG), so auch durch Art. 3 Abs. 3 GG: Die Auswahl zu befragender Personen muss diskriminierungsfrei erfolgen. Ob der einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Rahmen durch die handelnden Beamten beachtet wird, ist eine Frage des Vollzugs der Vorschrift im Einzelfall. Lediglich, wenn kein rechtmäßiger – hier insbesondere: kein diskriminierungsfreier – Vollzug möglich wäre, hätte dies Auswirkungen auf die Bewertung der Norm selbst. Dies ist hier aber nicht ersichtlich. Nach der Zwecksetzung der Norm (Unterbindung unerlaubter Einreise), die auch die Ausübung des Ermessens leitet, hat die Bundespolizei aus der Gesamtheit der möglichen Personen die Personen zur Befragung auszuwählen, die voraussichtlich relevante Angaben zu unerlaubter Einreise machen können. Dies kann die eigene unerlaubte Einreise sein, aber auch die unerlaubte Einreise anderer betreffen. Im letzteren Fall liegt auf der Hand, dass ein „fremdländisches Aussehen“ nichts mit der Wahrscheinlichkeit zu tun hat, dass eine Person sachdienliche 68 Drohla, Hautfarbe als Auswahlkriterium für verdachtsunabhängige Polizeikontrollen?, ZAR 2012, 411 (416). 69 Drohla, Hautfarbe als Auswahlkriterium für verdachtsunabhängige Polizeikontrollen?, ZAR 2012, 411 (416). 70 BVerfGE 121, 241 (254 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 244/14 Seite 18 Beobachtungen gemacht hat. Häufig werden dies zugfahrende Berufspendler oder ähnliche Personen , die regelmäßige Wahrnehmungen machen, sein. Im Hinblick auf die eigene unerlaubte Einreise ist klarzustellen, dass maßgeblich für die Frage eines Aufenthaltsrechts ist, ob es sich um Drittstaatsangehörige im Sinne des Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex) handelt. Drittstaaten in diesem Sinne sind derzeit etwa 150 Staaten, Drittstaatsangehörige dementsprechend Menschen unterschiedlichster Herkunft.71 Die Hautfarbe lässt insoweit keine Rückschlüsse auf das Aufenthaltsrecht zu und ist ein im Hinblick auf die Zweckerreichung der Norm ungeeignetes Kriterium im Rahmen des Auswahlermessens.72 Als objektiv geeignete und nachvollziehbare Auswahlkriterien werden demgegenüber beispielsweise der Zustand der Kleidung, der Rückschlüsse auf Reisestrapazen zulassende auffällige physische Zustand einer Person, Aufschriften auf mitgeführten Plastiktüten oder die Art der Verpackung mitgeführten Proviants, mangelnde Ortskenntnis bzw. Orientierung oder sichtliche Nervosität von Reisenden beim Erkennen der Polizeibeamten genannt.73 Diese Kriterien erfüllen nicht den Tatbestand eines Diskriminierungsverbots nach Art. 3 Abs. 3 GG. Ein diskriminierungsfreier Vollzug des § 22 Abs. 1a BPolG ist insoweit möglich. Die Tatsache, dass sich auf § 22 Abs. 1a BPolG gestützte Maßnahmen im Einzelfall gleichwohl auf Vollzugsebene als rechtswidrig erweisen mögen, macht die Vorschrift als solche nicht verfassungswidrig. ( ) ( ) 71 Vgl. Gnüchtel, Fahndung im Grenzgebiet, auf dem Gebiet der Bahnanlagen sowie auf Verkehrsflughäfen, NVwZ 2013, 980 (982). 72 Ähnlich Gnüchtel, Fahndung im Grenzgebiet, auf dem Gebiet der Bahnanlagen sowie auf Verkehrsflughäfen, NVwZ 2013, 980 (982). 73 Vgl. Gnüchtel, Fahndung im Grenzgebiet, auf dem Gebiet der Bahnanlagen sowie auf Verkehrsflughäfen, NVwZ 2013, 980 (981); ähnlich Wagner, Allegorie des „racial profiling“, DÖV 2013, 113 (116).