© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 243/16 Fragen zu dem Vorschlag für eine Festlegung einer Höchstsitzzahl des Bundestages Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Festlegung einer Höchstsitzzahl des Bundestages Ein Kernelement der Vorschläge ist die Festlegung einer Höchstsitzzahl des Bundestages. Diese Festlegung einer Höchstsitzzahl baut auf dem geltenden Wahlrecht mit der bundesweiten Mandatsverteilung nach Zweitstimmen mit nachfolgendem Ausgleich von Überhangmandaten und föderalen Disparitäten durch Vergrößerung des Bundestages auf. Neu geschaffen werden soll eine Regelung, nach der die Sitzzahlerhöhung bei Erreichen einer festzulegenden Gesamtsitzzahl des Bundestages abgebrochen wird. Erreicht eine Partei mehr Überhangmandate als danach ausgeglichen werden können, bleiben diese als ausgleichslose Überhangmandate bestehen. Zur Vermeidung möglicher verfassungsrechtlicher Risiken bei einer ausschließlich einfachgesetzlichen Verankerung soll die Festlegung der Höchstsitzzahl durch eine entsprechende Ergänzung der Regelungen des Grundgesetzes unterlegt werden. Die Vorschläge sehen darüber hinaus vor, dass die Grundentscheidung für eine personalisierte Verhältniswahl und eine Sperrklausel verfassungsrechtlich verankert wird. Da es sich insoweit jedoch nur um eine Bestätigung der bestehenden Rechtslage handelt, liegt der Fokus der folgenden Untersuchung auf der Festlegung einer Höchstsitzzahl des Bundestages. 3. Verfassungsmäßigkeit der Verankerung der Maßgabe einer Höchstsitzzahl im Grundgesetz Die Vorschläge sehen vor, dass die Maßgabe einer Höchstsitzzahl im Grundgesetz verankert werden soll. Als möglicher Regelungsort wird die Ermächtigung zu näherer gesetzlicher Regelung in Art. 38 Abs. 3 GG genannt. Die Regelung könnte lauten: „Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz, in dem eine Höchstsitzzahl und eine Sperrklausel festgelegt werden.“ Als Variante wird vorgeschlagen, die Verankerung im Einzelnen in der Verfassung vorzunehmen. Zu prüfen ist, ob eine solche Änderung des Grundgesetzes zulässig ist. Die materiellen Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung ergeben sich aus Art. 79 Abs. 3 GG. Danach ist eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. 1 Die Vorschläge sind im Internet abrufbar unter https://www.bundestag .de/blob/418390/32adcebc780611d4aaa61e39f5a92059/kw15_wahlrechtsreform_vorschlag-data.pdf (zuletzt abgerufen am 9. November 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 243/16 Seite 4 Auch die Wahlrechtsgrundsätze zählen grundsätzlich als Teile des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG zu den unantastbaren Grundsätzen im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG.2 Zu prüfen ist daher, inwieweit diese Grundsätze durch die angedachte Verfassungsänderung angetastet werden. Dabei ist zwischen der verfassungsrechtlichen Verankerung der Maßgabe einer Höchstsitzzahl und der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Wahlrechts unter Berücksichtigung der Höchstsitzzahl zu differenzieren. Die Verankerung der Maßgabe einer Höchstsitzzahl für sich genommen würde nur dann die Wahlrechtsgrundsätze berühren, wenn infolgedessen keine Ausgestaltung des Wahlrechts mehr möglich wäre, die den Anforderungen der Wahlrechtsgrundsätze genügen würde. Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen. Die Frage der Vereinbarkeit der Maßgabe einer Höchstsitzzahl mit den anderen Wahlrechtsgrundsätzen und -vorgaben stellt sich damit vorliegend allein auf der Ebene der einfachgesetzlichen Ausgestaltung. 4. Verfassungsmäßigkeit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung 4.1. Ausgleich zwischen verschiedenen Zielen der Wahlrechtsgesetzgebung Die Vorschläge sehen weiter vor, dass der in § 6 Bundeswahlgesetz (BWahlG) vorgesehene Ausgleich von Überhangmandaten bei Erreichen von einer Gesamtsitzzahl von 630 Sitzen abgebrochen wird. Erreicht eine Partei mehr Überhangmandate als danach ausgeglichen werden können, bleiben diese als ausgleichslose Überhangmandate bestehen. Im Übrigen bleibt die Regelung des § 6 BWahlG unverändert. Die derzeitige Fassung des § 6 BWahlG, auf dem diese Änderungen aufbauen, wird als verfassungsgemäßer Kompromiss angesehen, mit dem gleichzeitig vier verschiedene Ziele erreicht werden: Erstens die Verhinderung von Überhangmandaten, zweitens die Verhinderung von innerparteilichen und föderalen Spannungen, die bei einer Kompensation von Überhangmandaten durch Anrechnung der Direktmandate auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern entstehen könnten, drittens die Gewährleistung einer optimalen Reststimmenverwertung und viertens die weitestgehende Vermeidung des Effekts des so genannten negativen Stimmgewichts. Diese vier Ziele konnten jedoch nur erreicht werden, indem die Möglichkeit einer Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze in Kauf genommen wurde.3 Eine derartige Vergrößerung scheidet mit der Deckelung bei einer Gesamtsitzzahl von 630 Sitzen aus. Der Ausgleich zwischen den angesprochenen Zielen kann also nicht mehr einseitig zu Lasten der Größe des Bundestages gehen. Konkret bedeutet dies, dass der Ausgleich der Überhangmandate unter Umständen abgebrochen werden muss und dass infolgedessen ausgleichslose Überhangmandate entstehen können. Diese werden grundsätzlich als Beschränkung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien angesehen und bedürfen damit der Rechtfertigung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es dabei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz 2 Siehe Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 79 Rn. 70; Hain, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 79 Rn. 82. 3 Boehl, Das neue Wahlrecht – Personalisierte Verhältniswahl reloaded, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, S. 21 (45). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 243/16 Seite 5 der Gleichheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen.4 Im vorliegenden Fall würde die Maßgabe einer Höchstsitzzahl jedoch aufgrund ihrer Verankerung im Grundgesetz ein Ziel mit Verfassungsrang darstellen, das gleichberechtigt neben den Wahlrechtsgrundsätzen und dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien stünde. Dies würde Folgendes bedeuten: Die Wahlrechtsgrundsätze und der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien können von vornherein nur insoweit Geltung entfalten, wie dies die verfassungsrechtlich verankerte Höchstsitzzahl zulässt. Es handelt sich um einen bereits durch den Verfassunggeber vorgenommenen Ausgleich zwischen den verschiedenen bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu berücksichtigenden Zielen. Es ist davon auszugehen, dass eine Höchstsitzzahl von beispielsweise 630 Sitzen eine zulässige Konkretisierung darstellt und die verfassungsrechtlichen Vorgaben dabei in angemessener Weise ausgeglichen werden. 4.2. Rechtsprechung zur Zulässigkeit ausgleichsloser Überhangmandate Ergänzend sei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit ausgleichsloser Überhangmandate hingewiesen.5 Zuletzt hat sich das Gericht in seiner Entscheidung vom 25. Juli 2012 mit der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der durch die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten bewirkten ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen befasst.6 Auch in dieser Entscheidung hat das Gericht Überhangmandate nicht generell für unzulässig erklärt , sondern vielmehr die „durch die ausgleichlose Zuteilung von Überhangmandaten bewirkte ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen“ ausdrücklich als „durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl grundsätzlich gerechtfertigt“ bezeichnet.7 Die Zuteilung zusätzlicher Bundestagssitze außerhalb des Proporzes dürfe aber nicht dazu führen, dass der Grundcharakter der Wahl als einer am Ergebnis der für die Parteien abgegebenen Zweitstimmen orientierten Verhältniswahl aufgehoben werde.8 Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird vom Gericht als überschritten angesehen, „wenn Überhangmandate im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke zu erwarten sind.“9 Das Gericht spricht in der Entscheidung an anderer Stelle auch von einer „Zahl von 15 Überhangmandaten “.10 Hierbei dürfte es sich um die Anwendung des Maßstabs der Hälfte der für die Bildung 4 BVerfGE 131, 316 (338). 5 Siehe den Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Überhangmandaten bei Strohmeier , Kann man sich auf Karlsruhe verlassen? – Eine kritische Bestandsaufnahme am Beispiel des Wahlrechts, ZParl 2013, S. 629 (630 ff.). 6 BVerfGE 131, 316 (357 ff.). 7 BVerfGE 131, 316 (363, 366), Hervorhebungen nicht im Original. Nach den oben angesprochenen Vorschlägen für eine Wahlrechtsreform würde das System der personalisierten Verhältniswahl nicht nur eine „verfassungslegitime Zielsetzung“, sondern sogar eine Zielsetzung mit Verfassungsrang darstellen. 8 BVerfGE 131, 316 (367). 9 BVerfGE 131, 316 (Leitsatz Nr. 2 lit. b; 357; 363; 368; 369 f.), Hervorhebungen nicht im Original. 10 BVerfGE 131, 316 (370). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 243/16 Seite 6 einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten (d.h. 2,5 %) auf die aktuelle Bundestagsgröße handeln. In einem kleineren Bundestag wären weniger, in einem größeren Bundestag hingegen mehr als 15 Überhangmandate zulässig.11 Das Gericht räumt jedoch ein, dass es sich bei der Zahl um einen Akt richterlicher Normkonkretisierung handele, der nicht vollständig begründet werden könne.12 1997 hatte das Gericht noch das Fünfprozentquorum als Maßstab für eine Begrenzung von ausgleichslosen Überhangmandaten angedeutet.13 4.3. Literatur zur Deckelung der Gesamtgröße des Bundestages Schließlich wird auch von Stimmen in der Literatur eine Deckelung der Gesamtgröße des Bundestages als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen.14 Zur Begründung wird dabei neben der oben angesprochenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Zulässigkeit von ausgleichslosen Überhangmandaten auch die Rechtsprechung des Gerichts zur Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Erfolgswertgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien durch das Ziel der Wahrung der Funktionsfähigkeit des Parlaments15 herangezogen.16 In der Literatur wird ausgeführt, dass zum einen finanzielle und praktische Argumente gegen eine übermäßig dynamische Hausgröße sprechen würden. Der Bundestag müsse nach Art. 39 Abs. 2 GG binnen dreißig Tagen nach der Wahl konstituiert werden. Es sei unmöglich, innerhalb dieser Zeit die räumlichen Voraussetzungen für einen Bundestag mit nicht nur 598, sondern beispielsweise 700 Abgeordneten zu schaffen. Aus finanziellen Gründen könne auch nicht ein derartiger Raumbedarf vorsorglich vorgehalten werden, wenn je nach konkretem Wahlergebnis überhaupt keine Überhang- und Ausgleichsmandate anfallen. Zum anderen wird auf funktionelle Aspekte verwiesen . Ab einer bestimmten Größe des Parlaments würde die soziale Kommunikation zwischen den Abgeordneten nicht mehr funktionieren, und die Zuordnung zu einzelnen Sachgebieten sei nicht mehr hinreichend gewährleistet. Ferner würde innerparlamentarische und auch innerparteiliche Opposition die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung erschweren. Ende der Bearbeitung 11 Boehl, Das neue Wahlrecht – Personalisierte Verhältniswahl reloaded, in: Oppelland (Hrsg.), Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimität und politischer Funktionalität, 2015, S. 21 (26). Strohmeier, Kann man sich auf Karlsruhe verlassen? – Eine kritische Bestandsaufnahme am Beispiel des Wahlrechts , ZParl 2013, S. 629 (632), bezieht den Maßstab hingegen auf eine Gesamtsitzzahl von 598 Mandaten. 12 BVerfGE 131, 316 (370). 13 BVerfGE 95, 335 (366). 14 Pukelsheim/Rossi, Imperfektes Wahlrecht, ZG 2013, S. 209 (223 f.). 15 BVerfGE 95, 408 (418), m.w.N. aus der früheren Rechtsprechung. Ausdrücklich als mögliche Grenze eines Ausgleichs von Überhangmandaten wird die Funktionsfähigkeit des Parlaments im Sondervotum in BVerfGE 95, 335 (404), genannt. 16 Pukelsheim/Rossi, Imperfektes Wahlrecht, ZG 2013, S. 209 (224), dort zum Folgenden.