© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 242/20 Verfassungsrechtliche Bewertung der Wahlrechtsreform (BT-Drs. 19/22504) Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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November 2020 behandelt wurde.3 Im Folgenden werden Gesichtspunkte aufgezeigt, unter denen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der vorgesehenen Gesetzesänderung bestehen können. Hierfür wird insbesondere auf die schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen zu der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 5. Oktober 20204 sowie auf weitere Bewertungen in der Literatur zurückgegriffen. Zum Schluss werden prozessuale Möglichkeiten des Vorgehens gegen eine Neuregelung des Bundeswahlgesetzes aufgezeigt. 2. Zulässigkeit der Belassung von unausgeglichenen Überhangmandaten Nach § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. soll ein Ausgleich von Überhangmandaten erst ab dem vierten Überhangmandat stattfinden. Dagegen werden unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten Bedenken vorgebracht. Einerseits wird bezweifelt, dass der Gesetzgeber unausgeglichene Überhangmandate als gezielte Maßnahme einsetzen darf. Andererseits bestehen Auffassungsunterschiede darüber, ob das Belassen von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten nach § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. zu einem unzulässigen sog. negativen Stimmgewicht führt. 2.1. Belassung von unausgeglichenen Überhangmandaten als gezielte Maßnahme Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten als gezielte Maßnahme bildet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012.5 Demnach sei mit dem Anfall von Überhangmandaten eine Abweichung vom Grundsatz der Erfolgswertgleichheit als Bestandteil der Wahlrechtsgleichheit nach Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verbunden, welcher der Rechtfertigung bedürfe.6 Auch der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG) werde durch den 1 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. Juni 2020 (BGBl. I S. 1409) geändert worden ist. 2 Gesetzentwurf vom 15. September 2020, BT-Drs. 19/22504. 3 Unterrichtung über den Gesetzesbeschluss vom 16. Oktober 2020, BR-Drs. 605/20. 4 Die schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen sind sämtlich abrufbar unter: https://www.bundestag .de/ausschuesse/a04_innenausschuss/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc3NlL2EwNF9pbm5lbmF1c3NjaH- Vzcy9hbmhvZXJ1bmdlbi83OTQ4MzItNzk0ODMy&mod=mod541724 (zuletzt abgerufen am 9. November 2020). 5 BVerfGE 131, 316. 6 BVerfGE 131, 316 (362 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 4 Anfall von Überhangmandaten beeinträchtigt. Die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes der Wählerstimmen könne jedoch in begrenztem Umfang durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt werden. Der insoweit bestehende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers werde allerdings durch den Grundcharakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl begrenzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die verfassungsrechtliche Grenze für die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten überschritten, wenn Überhangmandate im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke zu erwarten sind.7 Eine halbe Fraktionsstärke umfasst bei einer Regelgröße des Bundestages von 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 BWG) 15 Mandate8 und erhöht sich gem. § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundestages entsprechend , wenn die Regelgröße überschritten wird. 2.1.1. Keine verfassungsrechtliche Pflicht zum vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten Grzeszick hält § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. für verfassungsgemäß.9 Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts argumentiert er, die Zahl der Überhangmandate überschreite die vom Gericht genannte Grenze nicht. Auch werde an den Grundsätzen des Wahlsystems im Sinne der personalisierten Verhältniswahl keine prinzipielle Änderung vorgenommen. Der Gesetzentwurf enthalte lediglich eine Modifikation des Ausgleichmandatsverfahrens; dieses solle erst ab dem vierten Überhangmandat greifen. Es gebe schließlich auch keine verfassungsrechtliche Pflicht zum vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten. Es verbleibe vielmehr ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in dem er sich zwischen den beiden Zielen – Personalwahl und Verhältnisproporz – entscheiden könne. Insbesondere sei auch eine Zulassung von weniger als 15 unausgeglichenen Überhangmandaten zulässig und nicht willkürlich, da damit dem Ziel des Verhältnisproporzes gedient werde. 2.1.2. Verstoß gegen Wahlrechtsgleichheit bzw. Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien Laut Sophie Schönberger sind die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verletzt und die vorgesehene Regelung ist deshalb verfassungswidrig.10 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnten 15 unausgeglichene Überhangmandate als verfassungsrechtlich zulässig angesehen werden, wenn sie sich als Nebenfolge zu einer wahlrechtlichen Systementscheidung im Zusammenspiel mit den tatsächlichen Umständen des Wählerverhaltens darstellen. Sie könnten jedoch nicht als gezieltes, potentiell mehrheitsverzerrendes Gestaltungsinstrument eingesetzt werden. Die Implementierung einer solchen Grenze im Wahlrecht wäre nicht 7 BVerfGE 131, 316 (369 f.) 8 Müller, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 158. 9 Grzeszick, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 6 ff. 10 S. Schönberger, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 7 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 5 mehr durch die verfassungslegitime Zielsetzung der personalisierten Verhältniswahl gerechtfertigt. Sie sei vielmehr eine willkürliche Verzerrung des Zweitstimmenproporzes. Denselben Standpunkt vertrat Christoph Schönberger bereits in einer Stellungnahme als Sachverständiger in Bezug auf vorherige Gesetzentwürfe zur Wahlrechtsreform.11 Eine Regelung, die gezielt eine willkürlich gesetzte Zahl von bis zu 15 Überhangmandaten ohne Ausgleichsmandate ermögliche , sei mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nicht vereinbar. Auch Behnke sieht der Sache nach wohl einen ungerechtfertigten Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit.12 Es gebe keinen zwingenden Grund, der die Abweichung von der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigen könne. Stattdessen gebe es gar kein schützenswertes Gut, für dessen Erhalt die Einführung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten notwendig wäre. Der Effekt sei lediglich der eines Bonus für die Partei, die diese Mandate über den Sitzanspruch hinaus erhalte, der ihr aufgrund ihrer Zweitstimmen zustünde. Auch der Effekt hinsichtlich der Reduzierung der Vergrößerung könne kein solches schützenswertes Gut sein. Auch für Grotz und Pukelsheim werfen die unausgeglichenen Überhangmandate verfassungsrechtliche Bedenken auf.13 Diese Mandate entstünden nun nicht mehr eher beiläufig, sondern würden ausdrücklich postuliert und im Gesetz institutionalisiert. Vosgerau hält es wegen des Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien für problematisch, dass die Hinnahme von unausgeglichenen Überhangmandaten die großen Parteien begünstige, weil diese fast alle Direktmandate und jedenfalls alle Überhangmandate zu gewinnen pflegten.14 Schröder zweifelt daran, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer erneuten Überprüfung die Grenze von 15 ausgleichslosen Überhangmandaten aufrechterhalten wird.15 Das nach der einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschaffene und bei den letzten beiden Bundestagswahlen angewandte Wahlrecht habe gezeigt, dass das Anliegen der personalisierten Verhältniswahl auch unter vollständiger Wahrung der Erfolgswertgleichheit verwirklicht werden könne. Dies gelte insbesondere, wenn in Abkehr von diesem dem Leitbild des Vollausgleichs folgenden Wahlrecht mit einem partiellen Nichtausgleich dreier Überhangmandate ein bewusst 11 C. Schönberger, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 25. Mai 2020, Ausschussdrucksache 19(4)502 B, S. 10 ff. 12 Behnke, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 D, S. 20 f.; siehe bereits Behnke, Bundestag: Ende des Wachstums?, APuZ 38/2020, 24 (28). 13 Grotz/Pukelsheim, Fehlleistung Wahlrechtsreform, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. September 2020, S. 6 (S. 8). 14 Vosgerau, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 F, S. 4. 15 Schröder, Die „Reform“ des Bundestagswahlrechts: geringe Wirkung, großer Schaden, JuWissBlog vom 27. Oktober 2020 (abrufbar unter: https://www.juwiss.de/123-2020/, Stand: 9. November 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 6 proporzverzerrendes Mittel eingeführt werde, auch wenn dieses Mittel weitaus schonender sei als ein Nichtausgleich sämtlicher Überhangmandate. Rossi schließlich merkt an, das beschlossene Gesetz überschreite mit dem bewussten Verzicht auf den Ausgleich aller Überhangmandate die verfassungsgerichtlich nachgezogenen Grenzen.16 Indes könne hinsichtlich der Ausgleichspflicht von Überhangmandaten nicht prognostiziert werden, wie das Bundesverfassungsgericht schlussendlich entscheiden werde. 2.2. Unausgeglichene Überhangmandate und unzulässiges negatives Stimmgewicht Es stellt sich die Frage, ob das Belassen von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten nach § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. zu einem sog. negativen Stimmgewicht führt. Der Effekt des negativen Stimmgewichts verletzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl und ist deshalb unzulässig.17 Er liegt dann vor, wenn ein Zugewinn von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsverlust bei genau dieser Partei und umgekehrt die Verringerung der Anzahl der Zweitstimmen zu einem Mandatsgewinn führen kann.18 2.2.1. Kein negatives Stimmgewicht durch unausgeglichene Überhangmandate Die unausgeglichenen Überhangmandate stellten laut Grzeszick kein per se unzulässiges negatives Stimmgewicht dar.19 Negatives Stimmgewicht setze einen inversen Effekt voraus, bei dem ein Mehr an Zweitstimmen für eine Partei im Ergebnis zu einem Weniger an Sitzen führe. Dementsprechend müsse für ein verfassungswidriges negatives Stimmgewicht eine inverse Sitzzuteilung erfolgen; eine nur proportionale Besserstellung genüge nicht. Im Falle unausgeglichener Überhangmandate führe ein Mehr an Zweitstimmen zwar nicht zu einer Änderung der Sitzzahl, was diesen Zweitstimmen ihre positive Sitzrelevanz nehme. Sie würden aber nicht in ihr Gegenteil verkehrt. Dazu wäre ein Sitzverlust bei einem Mehr an Zweitstimmen erforderlich. Jedenfalls könne der durch unausgeglichene Überhangmandate eingetretene Effekt kein negatives Stimmgewicht sein, da das Bundesverfassungsgericht unausgeglichene Überhangmandate in gewissem Umfang ausdrücklich für grundsätzlich gerechtfertigt befunden habe, den Effekt eines negativen Stimmgewichts dagegen per se für unzulässig erklärt habe. 2.2.2. Negatives Stimmgewicht durch unausgeglichene Überhangmandate Sophie Schönberger auf der anderen Seite geht davon aus, durch die Belassung von bis zu drei unausgeglichenen Überhangmandaten könne der Effekt eines negativen Stimmgewichts eintreten.20 16 Rossi, GroKo-Gesetz gefährdet Bundestagswahl, Legal Tribune Online vom 14. Oktober 2020 (abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/wahlrecht-reform-bundestag-verkleinerung-sitze-ueberhangmandatewahlkreise -demokratie/, Stand: 9. November 2020). 17 BVerfGE 121, 266 (289, 294, 307). 18 BVerfGE 121, 266 (267). 19 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 8. 20 S. Schönberger, Stellungnahme (Fn. 10), Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 5 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 7 Gehe man davon aus, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts schon dann als solcher verfassungswidrig sei, wenn ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einer geringeren relativen Anzahl von Mandaten im Vergleich zu anderen Parteien führen könne, so sei dieser Effekt hier evident. Gesetzliche Regelungen, die derartige Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen hervorrufen würden, seien mit der Verfassung nicht zu vereinbaren. Sophie Schönberger geht somit davon aus, dass bereits das gezielte Belassen von unausgeglichenen Überhangmandaten als solches unmittelbar ein unzulässiges negatives Stimmgewicht darstellen kann. Auch aus diesem Grund hält sie die beschlossene Regelung für verfassungswidrig. 2.2.3. Negatives Stimmgewicht als mittelbare Folge unausgeglichener Überhangmandate in bestimmten Konstellationen Andere Autoren sehen zwar im Belassen unausgeglichener Überhangmandate als solchem zwar nicht ein negatives Stimmgewicht. Sie halten den Effekt aber als mittelbare Folge unausgeglichener Überhangmandate in bestimmten Konstellationen für möglich. So könne laut Grotz und Pukelsheim durch die unausgeglichenen Überhangmandate wieder ein negatives Stimmgewicht entstehen, das zu einem ungerechtfertigten Mandatsbonus führe.21 Sie sehen diesen Effekt jedoch nicht bereits im Belassen von unausgeglichenen Überhangmandaten an sich. Stattdessen demonstrieren sie anhand eines fiktiven Fallbeispiels, dass etwa bei einer Nachwahl durch weniger Zweitstimmen für eine Partei unter Umständen dieser Partei ein zusätzliches unausgeglichenes Überhangmandat entstehen könne. Darin erkennen sie den Effekt des negativen Stimmgewichts. Rossi zufolge nimmt die Wahlrechtsreform die Möglichkeit negativer Stimmgewichte in Kauf, die durch das aktuelle Wahlrecht gerade ausgeschlossen sei.22 Auch Vosgerau meint kritisch, vermutlich seien die unausgeglichenen Überhangmandate nicht nur eine Ungleichbehandlung zugunsten der erststimmenstarken Parteien im Allgemeinen und der CSU im Besonderen, sondern unter Umständen stelle sich die Problematik des negativen Stimmgewichts .23 3. Veränderung des Verfahrens der Sitzzuteilung nach § 6 Abs. 5, 6 BWG n.F. Laut Begründung des Gesetzentwurfs wird nach § 6 Abs. 5, 6 BWG n.F. eine Verzerrung des föderalen Proporzes durch die Anrechnung von Direktmandaten auf Listenmandate in anderen Ländern teilweise in Kauf genommen.24 Genauer wird der durch „interne“ Überhangmandate mitverursachte Aufwuchs der Abgeordnetenzahl durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate 21 Grotz/Pukelsheim, Fehlleistung Wahlrechtsreform, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. September 2020, S. 6 (S. 8). 22 Rossi (Fn. 16), Legal Tribune Online vom 14. Oktober 2020. 23 Vosgerau, Stellungnahme (Fn. 14), Ausschussdrucksache 19(4)584 F, S. 5. 24 Gesetzentwurf vom 15. September 2020, BT-Drs. 19/22504, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 8 der gleichen Partei in anderen Ländern vermieden.25 Das Verfahren kann als faktische Teilverrechnung der Überhangmandate bezeichnet werden.26 Es ist fraglich, ob diese Änderung des Verfahrens der Sitzzuteilung verfassungsrechtlich zulässig ist. 3.1. Kein verfassungsrechtliches Problem Grzeszick hält dies auch im Hinblick auf die Rücksichtnahme auf die föderale Gliederung der Parteien für verfassungsgemäß.27 Direktmandate würden zu Lasten von Listenmandaten in anderen Ländern kompensiert. Durch eine Mittelwertbildung würde den Landeslisten nur noch die Hälfte der Listenmandate garantiert, die andere Hälfte könne zur Anrechnung von Direktmandaten in anderen Ländern – und damit „internen“ Überhangmandaten – benutzt werden. Dadurch entstehe zwar ein föderal unterschiedlicher Erfolgswert, der bewusst in Kauf genommen werde. Diese Differenzierung sei jedoch in Bezug auf die Erfolgswertgleichheit kein verfassungsrechtliches Problem, denn für diese sei der bundesweite Proporz zwischen den Parteien entscheidend. Wie die Mandate innerhalb der Parteien föderal verteilt werden, berühre nicht die Erfolgswertgleichheit , sondern die Frage der Rücksichtnahme auf die föderale Gliederung der Parteien. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei das Verfahren aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Schröder argumentiert ebenso, die Störung des Föderalproporzes durch das Verfahren der Sitzzuteilung sei verfassungsrechtlich unbedenklich.28 Zwar sei die Erfolgswertgleichheit der Stimmen innerhalb einer Partei nicht gesichert. Die Erfolgswertgleichheit im Sinne von Art. 38 Abs. 1 GG knüpfe aber an die bundesweit abgegebenen Stimmen an und vergleiche die Erfolgswerte zwischen den Parteien und nicht auch innerhalb der Parteien. Es sei insoweit nur die bundesweite Erfolgswertgleichheit maßgeblich. 3.2. Verstoß gegen Erfolgswertgleichheit Pukelsheim sieht durch die faktische Teilverrechnung der Überhangmandate eine Verzerrung des Erfolgswertes einzelner Wählerstimmen je nach Bundesland und folgert daraus eine Verletzung des Grundsatzes der Erfolgswertgleichheit.29 Bei einem Vergleich zeige sich, dass die mathematischen Erfolgswerte der Wählerstimmen den Gleichheitsgrundsatz besser erfüllten, wenn keine faktische Teilverrechnung der Überhangmandate stattfinde. 25 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 4. 26 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 5. 27 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 4 f. 28 Schröder (Fn. 15), JuWissBlog vom 27. Oktober 2020. 29 Pukelsheim, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 A neu, Anlage 1, S. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 9 3.3. Verstoß gegen Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien Vosgerau sieht einen Verstoß gegen das Gebot der Chancengleichheit der Parteien durch eine Bevorzugung der CSU im Zusammenspiel von Überhangmandaten und ihrer faktischen Teilverrechnung und hegt deshalb große Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfes.30 Die Überhangmandate der CSU könnten nicht mit Listenmandaten in anderen Bundesländern „faktisch verrechnet“ werden. Die Bedingungen zum Antreten zur Bundestagswahl seien zwischen den Parteien nicht gleich, wenn die Überhangmandate aller Parteien faktisch teilweise mit Listenmandaten (aus anderen Bundesländern) verrechnet würden, nur die der CSU aber nicht. 4. Funktionsfähigkeit des Bundestages Nach der geteilten Ansicht der angehörten Sachverständigen ist es trotz einer begrenzten Dämpfung der Abgeordnetenzahl nach dem Gesetzentwurf weiterhin möglich oder gar wahrscheinlich, dass bei zukünftigen Bundestageswahlen eine der derzeitigen Gesamtgröße des Bundestages ähnliche Sitzzahl erreicht wird.31 Es stellt sich die Frage, ob dadurch die Funktionsfähigkeit des Bundestages gefährdet ist. 4.1. Keine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Grzeszick geht davon aus, dass eine verfassungsrechtliche Pflicht zu einer intensiven Dämpfung des Anwachsens der Abgeordnetenzahl nur vorstellbar sei, wenn ohne solche Maßnahmen die Funktionsfähigkeit des Bundestags erkennbar bzw. konkret absehbar gefährdet sei.32 Dafür seien aber derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Er verweist hierfür auch darauf, dass der Bundestag mit 709 Abgeordneten derzeit offenbar funktioniere.33 Mit ähnlichen Argumenten lehnen auch Lang34, Behnke35 sowie Ciftci und Fisahn36 eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Bundestages durch seine Größe ab. Behnke weist darauf hin, dass auch ein weiter vergrößerter Bundestag nicht funktionsunfähig wäre. Ciftci und Fisahn zufolge 30 Vosgerau, Stellungnahme (Fn. 14), Ausschussdrucksache 19(4)584 F, S. 4. 31 Vgl. Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 11; Schönberger, Stellungnahme (Fn. 10), Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 3 f.; Pukelsheim, Stellungnahme (Fn. 29), Ausschussdrucksache 19(4)584 A neu, Anlage 5, S. 2; Behnke, Stellungnahme (Fn. 12), Ausschussdrucksache 19(4)584 D, S. 1, 3; Vehrskamp, Stellungnahme , Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 5. Oktober 2020, Ausschussdrucksache 19(4)584 C, S. 3 f.; Vosgerau, Stellungnahme (Fn. 14), Ausschussdrucksache 19(4)584 F, S. 3. 32 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 3 f. 33 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 11. 34 Lang, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 25. Mai 2020, Ausschussdrucksache 19(4)502 F, S. 9. 35 Behnke, Stellungnahme (Fn. 12), Ausschussdrucksache 19(4)584 D, S. 23. 36 Ciftci/Fisahn, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 25. Mai 2020, Ausschussdrucksache 19(4)502 D, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 10 könnte sich angesichts der Dominanz der Exekutive bei der Gesetzgebung durch steigende Größe sogar die Funktionsfähigkeit des Bundestags erhöhen, wenn mit der Zahl der Abgeordneten auch die Zahl der Mitarbeiter steigt. 4.2. Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Sophie Schönberger zufolge dagegen verhindert der Gesetzentwurf nicht, dass der Bundestag auf eine Gesamtgröße anwachse, die seine Funktionsfähigkeit massiv beeinträchtige.37 Denn je größer ein Parlament werde, desto schwieriger werde es, einen echten Diskurs und eine darauf beruhende Entscheidungsfindung zwischen den Parlamentariern zu organisieren, desto größer werde also die Gefahr, dass entweder überhaupt keine Mehrheitsfindung im Parlament mehr möglich sei, oder aber das Parlament nur ohne substantielle eigene Willensbildung schlicht seine Zustimmung erkläre zu allen Entscheidungen, die an anderer Stelle, insbesondere also in der Regierung, getroffen würden. Unter diesem Aspekt müsse das Wahlrecht bereits in seiner jetzigen Form, aber auch in der Form der vorgeschlagenen Änderungen als verfassungswidrig betrachtet werden. Vehrkamp meint, aus der Größe des Parlaments könne sich gegebenenfalls seine Funktionsunfähigkeit ergeben.38 Er gibt jedoch keinen Hinweis darauf, ab welcher Abgeordnetenzahl dies der Fall sei. 5. Gebot der Normenklarheit Mehrfach wurde vorgebracht, durch die beschlossene Gesetzesänderung erhöhe sich die Komplexität des Wahlrechts ungemein. Das Wahlrecht werde noch schwerer verständlich.39 Vor allem an der Formulierung des § 6 Abs. 5 BWG n.F. entzündet sich Kritik.40 Fraglich ist, ob die neu eingeführte Regelung aus diesen Gründen gegen das im Rechtsstaatsprinzip gründende Gebot der Normenklarheit verstößt. 5.1. Kein Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit Grzeszick hält die Regelungen für im Ergebnis noch hinreichend verständlich und klar.41 Die Anforderungen an die Normenklarheit seien mit Rücksicht auf das jeweilige Regelungsgebiet zu konkretisieren. Mit Blick auf die – verfassungsrechtlich unterlegten – Randbedingungen des Wahlrechtssystems des Bundeswahlgesetzes müssten die Regelungen des Sitzzuteilungsverfahrens im Bundeswahlgesetz eine gewisse Länge und Komplexität aufweisen. 37 S. Schönberger, Stellungnahme (Fn. 10), Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 8 f. 38 Vehrkamp, Stellungnahme, Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 25. Mai 2020, Ausschussdrucksache 19(4)502 C, S. 2. 39 Pukelsheim, Stellungnahme (Fn. 29), Ausschussdrucksache 19(4)584 A neu, Anlage 4, S. 2. 40 Behnke, Stellungnahme (Fn. 12), Ausschussdrucksache 19(4)584 D, S. 8; S. Schönberger, Stellungnahme (Fn. 10), Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 5; Schröder (Fn. 15), JuWissBlog vom 27. Oktober 2020. 41 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 11 Rossi hält einen Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit und -wahrheit zwar für möglich, zweifelt aber im Ergebnis daran, dass das Bundesverfassungsgericht daraus die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes folgern würde.42 Er verweist darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung dieser Gebote zwar hervorhebe, sie aber nicht als harten verfassungsrechtlichen Maßstab anwende, der über die Verfassungsmäßigkeit oder -widrigkeit entscheide. Vielmehr stelle es letztlich doch auf die Auslegungsfähigkeit auch kompliziertester Regelungen des Wahlrechts ab. 5.2. Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit Sophie Schönberger zufolge verstößt der vorliegende Gesetzentwurf gegen das Gebot der Normenklarheit .43 Der gebotene Grad an Bestimmtheit sei von der Eigenart des Regelungsgegenstands und dem Zweck der betreffenden Norm abhängig. Wegen der Bedeutung des Wahlrechts sei es notwendig , dass es für den Wähler in groben Zügen erkennbar und verständlich sei, wie die einzelne Stimme in Mandate umgerechnet werde. Der Wahlakt vermittle nach Art. 20 Abs. 2 GG demokratische Legitimation. Die Verständlichkeit des Wahlrechts sei die Voraussetzung dafür, dass der Wahlakt von den Wählern als legitimer demokratischer Akt wahrgenommen werde. Der Gesetzentwurf sei in seiner Regelungsstruktur derart verworren und schwer verständlich, dass er von einem nicht mit dem Wahlrecht sehr gut vertrauten Leser kaum nachvollzogen werden könne. Diese Unverständlichkeit für den durchschnittlichen (auch juristischen) Leser sei nicht der Komplexität der Materie oder des Rechenwegs geschuldet. Den Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit macht sie ausdrücklich an § 6 Abs. 5 S. 4 BWG n.F. fest. 6. Wahlkreisreduzierung und Ausschluss des Nachrückens in den Überhang Allein Grzeszick setzt sich auch mit der Verfassungsmäßigkeit der Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise auf 280 sowie mit dem Ausschluss des Nachrückens in den Überhang auseinander. Die Entscheidung über die Wahlkreisreduzierung von 299 auf 280 nach § 1 Abs. 2 BWG n.F. halte sich innerhalb des Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers und sei verfassungsrechtlich zulässig .44 Das Inkrafttreten von § 1 Abs. 2 BWG n.F. erst am 1. Januar 2024 sei ebenso zulässig. Für die zur Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise nötige Neueinteilung von Wahlkreisen seien anspruchsvolle politische Abstimmungsprozesse erforderlich, die auch Zeit in Anspruch nähmen. Im Falle der Berufung von Listennachfolgern nach dem Ausscheiden von Bundestagsabgeordneten aus dem Bundestag sei das Nachrücken in den Überhang zu verhindern. Dies werde grundsätzlich durch § 48 Abs. 1 S. 2 BWG n.F. erreicht.45 Allerdings müssten im Normvollzug auch tatsächlich alle Überhangsituationen konkreten Landeslisten zugeordnet werden. Problematisch sei dies bei den Überhangsituationen, die zu einem unausgeglichenen Überhangmandat geführt hatten. Hier sei eine konkrete Zuordnung zu den Ländern durch eine am Zweck des Gesetzesentwurfs orientierte Berechnung zu gewährleisten, bei der die betreffenden Länder im Wege einer Vergleichsrechnung 42 Rossi (Fn. 16), Legal Tribune Online vom 14. Oktober 2020. 43 S. Schönberger, Stellungnahme (Fn. 10), Ausschussdrucksache 19(4)584 B, S. 4 f. 44 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 2 f. 45 Grzeszick, Stellungnahme (Fn. 9), Ausschussdrucksache 19(4)584 E, S. 9 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 12 bestimmt würden. Nur so könne dem Zweck des Gesetzentwurfes und den weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben an das Wahlrecht Rechnung getragen werden. Im Ergebnis sieht Grzeszick somit zwar verfassungsrechtliche Vorgaben für den Vollzug von § 48 Abs. 1 S. 2 BWG n.F., hält die Vorschrift aber für verfassungsgemäß. 7. Prozessuale Möglichkeiten des Vorgehens gegen eine Neuregelung des Bundeswahlgesetzes Im Folgenden werden prozessuale Möglichkeiten des Vorgehens gegen eine Neuregelung des Bundeswahlgesetzes aufgezeigt. Es muss unterschieden werden zwischen prozessualen Möglichkeiten, Wahlgesetze als verfassungswidrig anzugreifen, ohne dass ein unmittelbarer Zusammenhang mit einem konkreten Wahlverfahren bestünde, und den Rechtsschutzmöglichkeiten im unmittelbaren Zusammenhang mit einem konkreten Wahlverfahren (d.h. einer bestimmten Bundestagswahl). Allgemein ist zu beachten, dass das in Rede stehende Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes zwar vom Bundestag beschlossen wurde, das Gesetzgebungsverfahren aber noch nicht beendet ist. Die Ausfertigung, Verkündung und Inkrafttreten des Gesetzes stehen noch aus (vgl. Art. 82 GG). 7.1. Prozessuale Möglichkeiten ohne Bezug auf ein konkretes Wahlverfahren Wahlgesetze können, soweit es nicht um ihre Anwendung in einem konkreten Wahlverfahren geht (§ 49 BWG), Gegenstand von Verfassungsbeschwerde-, Organstreit- und Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sein.46 Jeder Bürger kann mit der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in Verbindung mit § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG47) rügen, dass durch ein Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz das Wahlrecht als verfassungsrechtlich verbürgtes, subjektives Recht (Art. 38 Abs. 1 GG) verletzt ist.48 Politischen Parteien steht das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG offen, in welchem sie die Verletzung ihres Rechts auf Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG) durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens geltend machen können.49 Jede Partei im Sinne von Art. 21 Abs. 1 GG ist antragsberechtigt. Die Überprüfung von Änderungsgesetzen zum Bundeswahlgesetz kann auch durch ein abstraktes Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. 46 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 91. EL April 2020, Art. 41 Rn. 55; instruktiv etwa BVerfGE 131, 316 (331 ff.). 47 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1724) geändert worden ist. 48 BVerfGE 131, 316 (331 ff.). 49 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 82, 322 (335) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 242/20 Seite 13 BVerfGG erfolgen. Antragsberechtigt sind die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. 7.2. Prozessuale Möglichkeiten zur nachträglichen Überprüfung von Bundestagswahlen Eine Bundestagswahl kann ausschließlich nachträglich durch das zweistufige Wahlprüfungsverfahren angegriffen werden (Art. 41 GG, § 49 BWG). Dazu muss zunächst Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl beim Bundestag eingelegt werden (Art. 41 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 2 Wahlprüfungsgesetz – WahlPrG50). Der Bundestag prüft nur die rechtsfehlerfreie Anwendung des geltenden Wahlrechts, nicht aber dessen Verfassungsmäßigkeit.51 Gegen die ablehnende Entscheidung des Bundestages kann gem. Art. 41 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden. Diese Prüfung des angegriffenen Beschlusses des Bundestages in formeller und materieller Hinsicht beinhaltet auch die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Bundeswahlgesetzes.52 Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass eine Wahlrechtsnorm verfassungswidrig ist, erklärt es diese für unvereinbar mit dem Grundgesetz und verpflichtet den Gesetzgeber, binnen einer bestimmten Frist eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.53 Die Feststellung eines mandatsrelevanten Wahlfehlers kann unterschiedliche Folgen nach sich ziehen.54 Der Wahlfehler ist vorrangig rechnerisch zu berichtigen . Wenn eine Berichtigung unmöglich ist, soll nur in bestimmtem Umfang die Ungültigkeit der Wahl erkannt werden. Sie hat sich auf den betroffenen territorialen Bereich, zum Beispiel einen bestimmten Wahlbezirk, zu beschränken. Dagegen kann nur ein erheblicher, mandatsrelevanter Wahlfehler als ultima ratio zur Erklärung der Ungültigkeit der gesamten Bundestagswahl führen. *** 50 Wahlprüfungsgesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 111-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 11 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. 51 Vgl. BVerfGE 121, 266 (290); Lackner, Grundlagen des Wahlprüfungsrechts nach Art. 41 GG, JuS 2010, 307 (308). 52 Vgl. BVerfGE 121, 266 (295); Lackner (Fn. 50), JuS 2010, 307 (311). 53 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 91. EL April 2020, Art. 41 Rn. 95. 54 Lackner (Fn. 51), JuS 2010, 307 (311).