© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 242/18 Durchsetzung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 242/18 Seite 2 Durchsetzung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 242/18 Abschluss der Arbeit: 29.06.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 242/18 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand thematisiert die Reichweite der Richtlinienkompetenz nach Art. 64 S. 1 GG. Dargestellt werden dabei insbesondere auch die Möglichkeiten der Bundeskanzlerin, die von ihr vorgegebenen Richtlinien der Politik durchzusetzen. Hierbei soll geklärt werden, ob gegenüber einem Bundesminister ein Durchgriffs- oder ein Selbsteintrittsrecht für den Fall besteht, dass dieser entgegen den vorgegebenen Richtlinien handelt. 2. Inhalt der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 S. 1 GG Nach Art. 65 S. 1 GG bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt hierfür die Verantwortung. Die Auslegung des Begriffes erweist sich als schwierig.1 Zu den Richtlinien der Politik werden allgemeine, ausfüllungsbedürftige Grundsätze des politischen Handelns gezählt.2 Nach Auffassung der Literatur stellt die Richtlinienkompetenz eine besondere Kategorie der Staatsleitung dar, die dem Bundeskanzler eine herausgehobene Stellung zukommen lässt.3 Inhaltlich umfasst die Richtlinienkompetenz daher die groben politischen Leitlinien der Regierungspolitik bzw. die politischen Richtungsentscheidungen.4 Die inhaltliche Auswahl der Themen, die der Richtlinienkompetenz unterfallen, liegt weitgehend in der Hand des Bundeskanzlers. Dieser besitzt aufgrund der begrifflichen Unbestimmtheit eine entsprechende Definitionskompetenz.5 In der Regel werden die politischen Leitlinien ausfüllungsbedürftig sein. Die Ausfüllung liegt dann in den Händen der Bundesminister, die ihrerseits über eine entsprechende Ressortverantwortung verfügen.6 In der staatsrechtlichen Literatur ist darüber hinaus anerkannt, dass die Richtlinienkompetenz neben politischen Leitlinien auch Einzelfallentscheidungen umfassen kann, wenn diese für die politische Führung des Bundeskanzlers bedeutsam sind.7 In der Regel dürften dies Einzelfragen sein, die eine derartige politische Bedeutung besitzen, dass sie einer Richtungsentscheidung gleichkommen. Bestimmte Formerfordernisse bestehen für die Richtliniensetzung durch den Bundeskanzler nicht. Sie kann mündlich, schriftlich oder im Rahmen einer Regierungserklärung erfolgen. Aus Gründen 1 Vgl. hierzu auch: Aktueller Begriff Nr. 15/09 vom 19.02.2009 zum Thema: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers . 2 Oldiges/Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 14; Uhle/Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, 14. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 12. 3 Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 14. 4 Hermes, in: Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 65 GG Rn. 18 m.w.N. 5 Hermes, in: Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 65 GG Rn. 2. 6 Umfassend zum Ressortprinzip: Detterbeck, in: Isensee/Kirchhof Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 25 ff. 7 Uhle/Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, 14. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 12; Schröder, in: in v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 16; Detterbeck, in: Isensee/Kirchhof Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 242/18 Seite 4 der Klarstellung sollte die Richtlinienqualität jedoch hinreichend deutlich gemacht werden.8 Nach § 1 Abs. 1 S. 3 der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GO-BReg) sind die Bundesminister in Zweifelsfällen über den Umfang und den Inhalt von Richtlinien gehalten, die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen. Die Richtlinienkompetenz ist in der Geschäftsordnung der Bundesregierung näher ausgestaltet. So stellt § 1 Abs. 1 S. 1 GO-BReg klar, dass die Richtlinien für die Bundesminister verbindlich und in ihrem Geschäftsbereich unter eigener Verantwortung zu verwirklichen sind. Der Bundeskanzler hat nach § 1 Abs. 2 GO-BReg zudem das Recht und die Pflicht, auf die Durchführung der Richtlinien zu achten. Bundesminister müssen nach § 3 GO-BReg den Bundeskanzler zudem aus ihrem Geschäftsbereich über Maßnahmen und Vorhaben unterrichten, die für die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers von Bedeutung sind. Hält ein Bundesminister eine Erweiterung oder Änderung der Richtlinien für erforderlich, muss er nach § 4 GO-BReg den Bundeskanzler unter Angabe der Gründe eine Mitteilung machen und eine entsprechende Entscheidung erbitten. Zudem müssen nach § 12 GO-BReg selbst bloße öffentliche Äußerungen eines Bundesministers im Einklang mit den vorgegebenen Richtlinien stehen. In der bisherigen Staatspraxis spielte die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers eine untergeordnete Rolle, da die politische Richtung der Regierungspolitik in aller Regel durch den Inhalt von Koalitionsverträgen vorgegeben wird. Sie passt als hierarchisches Führungsinstrument nach Auffassung der Literatur zudem nur schwer in die bestehenden Parlaments- und Parteistrukturen.9 Trotz dieser geringen praktischen Relevanz besteht sie als verfassungsrechtliches Instrument des Bundeskanzlers in vollem Umfang. 3. Durchsetzung der Richtlinienkompetenz Die Richtlinien der Politik sind für die Bundesminister grundsätzlich rechtlich verbindlich. Dies ergibt sich bereits unmittelbar aus dem Verfassungsrecht und wird auf der Ebene der Geschäftsordnung in § 1 Abs. 1 GO-BReg nochmals ausdrücklich betont.10 Konkrete Instrumente zur Durchsetzung der Richtlinienkompetenz benennt jedoch weder die Verfassung noch die Geschäftsordnung der Bundesregierung. Der Bundeskanzler wird daher zuallererst politische Mittel ergreifen müssen, um seine Richtlinien entsprechend durchzusetzen. Verfassungsrechtlich umstritten ist es, ob der Bundeskanzler darüber hinaus auch über Durchgriffsrechte verfügt oder ein Selbsteintrittsrecht besitzt. Die meisten Literaturstimmen lehnen 8 Hermes, in: Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 65 GG Rn. 23. 9 Oldiges/Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 18a. 10 Vgl. Hermes, in: Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 65 GG Rn. 25; Detterbeck, in: Isensee/Kirchhof Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 242/18 Seite 5 solche unmittelbaren Befugnisse grundsätzlich ab.11 So bestehe zwischen Bundeskanzler und Bundesministern kein klassisches Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis.12 Das Grundgesetz gehe vielmehr von einer loyalen Umsetzung der Richtlinien durch die Bundesminister aus.13 Eine hierzu abweichende Auffassung spricht dem Bundeskanzler hingegen ein Selbsteintrittsrecht zu, wenn dieser andernfalls schwerwiegende parlamentarische Konsequenzen fürchten müsste. Eine unmittelbare Anordnung im Wege der Richtlinienkompetenz stelle ein milderes Mittel gegenüber einer ansonsten möglichen Entlassung des Bundesministers im Wege des Art. 64 Abs. 1 GG dar. Es sei nicht Wille des Verfassunggebers „den Bundeskanzler in eine Lage zu bringen, in der er nur noch wählen kann zwischen der vorherigen Entlassung des fraglichen Ministers, um dessen Fehler zu verhindern, und der nachherigen Entlassung, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist“.14 Folgt man der oben dargestellten herrschenden Meinung in der Literatur, wonach ein Durchgriffsbzw . Selbsteintrittsrecht nicht besteht, bliebe dem Bundeskanzler nur die Möglichkeit, auf einen Verstoß gegen die von ihm gesetzten Richtlinien mit einer Entlassung nach Art. 64 Abs. 1 GG zu reagieren. Hierzu müsste er dem Bundespräsidenten ein entsprechendes Entlassungsgesuch zukommen lassen. Zumindest theoretisch denkbar erscheint es auch, einen Verstoß gegen die Richtlinienkompetenz vom Bundesverfassungsgericht im Wege eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG feststellen zu lassen.15 *** 11 So etwa: Hermes, in Dreier, 3. Aufl. 2015, Art. 65 GG Rn. 26; Uhle/Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, 14. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 18; Oldiges/Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 25; Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 26; Schenke, in: Bonner Kommentar 108. Lfg. 2003, Art. 65 GG Rn. 33; Epping, in: Epping/Hillgruber, 37. Edition 2018, Art. 65 GG Rn. 4; ähnlich: Detterbeck, in: Isensee/Kirchhof Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 22 ff. 12 Oldiges/Brinktrine, in: Sachs, 8. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 25. 13 Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, 7. Aufl. 2018, Art. 65 GG Rn. 26. 14 Herzog, in: Maunz/Dürig, 82. EL Januar 2018, Art. 65 GG Rn. 8. 15 Schenke, in: Bonner Kommentar 108. Lfg. 2003, Art. 65 GG Rn. 33.