© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 238/19 Verwerfungskompetenz der Fachgerichte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 238/19 Seite 2 Verwerfungskompetenz der Fachgerichte Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 238/19 Abschluss der Arbeit: 21. Oktober 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 238/19 Seite 3 1. Fragestellung Es stellt sich die Frage, ob ein Fachgericht (jedes Gericht, das nicht Verfassungsgericht ist) in bestimmten Fällen ein Bundesgesetz für nicht anwendbar erklären kann. 2. Grundsatz Grundsätzlich hat nur das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Kompetenz, ein Gesetz als verfassungswidrig zu verwerfen (vgl. Art. 93, 100 Grundgesetz – GG). Eine solche Entscheidung bindet gem. § 31 Abs. 1 BVerfG-Gesetz alle Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden.1 Für die Fachgerichte sehen Grundgesetz oder Prozessrecht keine entsprechende Ermächtigung vor. 3. Ausnahme: vorkonstitutionelles Recht Eine Ausnahme besteht nach der Rechtsprechung des BVerfG für Gesetze, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet wurden („vorkonstitutionelle Gesetze“): „Wenn ein Gericht vorkonstitutionelles Recht wegen Unvereinbarkeit mit dem GG für ‚verfassungswidrig‘ hält und deshalb außer Anwendung lässt, setzt es sich nicht über den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers [im Sinne des Grundgesetzes] hinweg.“2 Ein Beispiel ist § 75 Abs. 3 Handelsgesetzbuch (HGB), der aus dem Jahr 1914 stammt.3 Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat im Jahr 1977 entschieden: „Diese Vorschrift ist verfassungswidrig und daher nichtig.“4 4. Wirkung der Entscheidung von Fachgerichten Die Entscheidung der Fachgerichte hat nur Wirkung gegenüber den Parteien des Rechtsstreits.5 In Übereinstimmung mit vorgenanntem Urteil des BVerfG ist z. B. die zitierte Entscheidung des BAG so auszulegen, dass das BAG die Vorschrift in dem konkreten Fall nicht anwendet. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass ein anderes Gericht (oder auch das BAG selbst) in einem anderen Streitfall zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. So hat das Landgericht Stuttgart im Jahr 2019 in einer handelsrechtlichen Streitigkeit entschieden: 1 Karpenstein, in: BeckOK BVerfGG, Walter/Grünewald, 7. Edition Stand: 01.06.2019, § 78 Rn. 5. 2 BVerfG, NJW 1953, 497 (498) – Hervorhebung durch Autor. Zu den weiteren Einzelheiten: Morgenthaler, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 41. Edition Stand: 15.02.2019, Art. 93 Rn. 32-33. 3 Eingefügt durch das Gesetz zur Änderung der §§ 74, 75 und des § 76 I des Handelsgesetzbuches vom 10.06.1914 (RGBl I, 209), zitiert nach BAG, NZA 1999, 37. 4 BAG, NJW 1977, 1357; bestätigt in BAG, NJW 1987, 2768 und BAG, NZA 1999, 37. 5 Zu weiteren Einzelheiten Koch, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 19. Auflage 2019, § 84 Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 238/19 Seite 4 „Im Übrigen stammt das Urteil des BAG bereits aus dem Jahr 1977[6], ohne dass sich der Gesetzgeber veranlasst gesehen hätte, § 75 Abs. 3 HGB zu streichen oder zu modifizieren. Die Kammer geht daher von der Wirksamkeit dieser Vorschrift aus.“7 5. Besonderheit Einigungsvertrag Im Hinblick auf das konkrete Beispiel ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber im (ratifizierten ) Einigungsvertrag die Anwendung von § 75 Abs. 3 HGB für das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeschlossen hat. Das BAG zieht daraus jedoch nicht den Umkehrschluss, dass § 75 Abs. 3 HGB im Gebiet der westdeutschen Bundesländer in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten anwendbar sei: „Seine Anwendung ist lediglich für das Gebiet der ehemaligen DDR durch den Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990 (BGBl II, 889 [959] ausgeschlossen. Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung angenommen, dass diese vorkonstitutionelle Norm gegen Art. 3 I GG verstößt und deshalb nichtig ist […]. Daran ist festzuhalten.“8 6. Optionen mit allgemeingültiger Wirkung Um eine durch ein Fachgericht für nicht anwendbar erklärte Norm mit allgemeingültiger Wirkung abzuschaffen, kommen die folgenden vier Optionen in Betracht: – Der Gesetzgeber streicht oder ersetzt die Norm durch eine Gesetzesänderung. – Das BVerfG entscheidet im Wege einer abstrakten Normenkontrolle über deren Gültigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Antragsgegenstand kann auch ein vorkonstitutionelles Gesetz sein.9 – Ein Fachgericht legt dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vor, ob die Norm verfassungswidrig ist (konkrete Normenkontrolle, Art. 100 Abs. 1 GG). Dies ist bei vorkonstitutionellem Recht grundsätzlich nur möglich, wenn es in nachkonstitutioneller Zeit „in den Willen des Gesetzgebers“ aufgenommen worden und deshalb vorlagefähig ist.10 – Die Norm wird Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Auch hier dürfte die Zulässigkeit wie bei der konkreten Normenkontrolle von der Frage abhängen, ob die Norm in nachkonstitutioneller Zeit „in den Willen des Gesetzgebers“ aufgenommen worden ist.11 *** 6 Siehe die Nachweise zur Rechtsprechung des BAG oben Fn. 3. 7 LG Stuttgart, Urteil vom 06.05.2019 – 44 O 100/18 KfH –, juris (Hervorhebung durch Autor). 8 NZA 1999, 37. 9 Morgenthaler, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 41. Edition Stand: 15.02.2019, Art. 93 Rn. 32. 10 Morgenthaler, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 41. Edition Stand: 15.02.2019, Art. 100 Rn. 12. 11 Vgl. zur anderweitigen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Auflage 2017, 1. Kapitel Rn. 66.