© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 237/20 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Unterschriftenquoren während der Covid-19-Pandemie Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 237/20 Seite 2 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Unterschriftenquoren während der Covid-19-Pandemie Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 237/20 Abschluss der Arbeit: 13. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 237/20 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wurde nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Erfordernisse von Unterstützerunterschriften für die Bundestagswahlen im Jahr 2021 unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie. Es wurde auch nach einer Pflicht des Bundesgesetzgebers gefragt, eine dem nordrhein-westfälischen Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 20201 entsprechende Absenkung der Anforderungen für die Bundestagswahlen 2021 vorzunehmen. Durch diese Regelung wurden die für die Kommunalwahl 2020 geltenden landesrechtlichen Unterschriftenquoren auf 60% gesenkt und die Frist zur Einreichung der Wahlvorschläge um elf Tage verlängert.2 Dadurch sollte laut dem Landesgesetzgeber die Chancengleichheit für insoweit betroffene Wahlvorschlagsträger auch unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie gewahrt werden.3 2. Allgemeine Grundsätze zur Zulässigkeit von Unterschriftenquoren Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt, Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG). Im Vorfeld von Bundestagswahlen ist die Sammlung von Unterstützungsunterschriften durch solche Parteien notwendig, die seit der letzten Wahl nicht mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundes- oder in einem Landtag vertreten waren, § 18 Abs. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG)4. Sie dienen dem Nachweis der Ernsthaftigkeit der Bewerbung und dem Ausscheiden nicht ernst gemeinter oder aussichtsloser Wahlvorschläge. Die Vorgaben für die Beibringung von Unterstützerunterschriften für Parteien im Sinne von § 18 Abs. 2 BWahlG sind in § 20 Abs. 2 BWahlG für Kreiswahlvorschläge und in § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG für die Einreichung von Landeslisten geregelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass Zulassungsbedingungen zur Wahl aufgestellt werden können und dass ein angemessenes Unterschriftenquorum bei der Einreichung von Wahlvorschlägen mit den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl) und der Chancengleichheit der Parteien, sowie der Garantie des passiven Wahlrechts im Sinne der Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 2 GG vereinbar ist.5 Die Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze sei sachlich gerechtfertigt, weil und soweit sie dazu dienen solle, den Wahlakt auf ernsthafte Bewerber zu beschränken, dadurch das Stimmgewicht der einzelnen Wählerstimmen zu sichern und so indirekt der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen. Die Zahl der Unterschriften dürfe andererseits nur so hoch festgesetzt werden, wie es für die Erreichung dieses Zweckes erforderlich sei. Sie dürfe der Wählerentscheidung möglichst wenig vorgreifen und nicht so hoch sein, dass einem neuen Bewerber die Teilnahme an 1 Gesetz über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Juni 1998 (GV. NRW. S. 372), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Mai 2020 (GV. NRW. S. 312d). 2 Gesetzentwurf vom 19. Mai 2020, Drucksache 17/9365, S. 10 f. 3 Gesetzentwurf vom 19. Mai 2020, Drucksache 17/9365, S. 2. 4 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 25. Juni 2020 (BGBl. I S. 1409). 5 Ständige Rechtsprechung, siehe BVerfGE 60, 162 (168) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 237/20 Seite 4 der Wahl praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werde. Das Bundesverfassungsgericht hat nach diesen Grundsätzen die Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Unterschriftenquoren nach § 20 Abs. 2, § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG in der Vergangenheit bestätigt.6 Der Gesetzgeber ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch verpflichtet, eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat.7 Eine einmal als zulässig angesehene Norm des Wahlrechts darf deshalb nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern.8 Diese vom Bundesverfassungsgericht zunächst auf Sperrklauseln angewendeten Maßstäbe müssen auch für Unterschriftenquoren gelten.9 3. Notwendigkeit einer Anpassung der Unterschriftenquoren während der Covid-19-Pandemie Zur Zulässigkeit der Unterschriftenquoren für die Bundestagswahlen 2021 haben sich in Bezug auf die Covid-19-Pandemie soweit ersichtlich noch keine Stimmen in der Literatur geäußert. Es gab Äußerungen zur Zulässigkeit der jeweiligen landesrechtlichen Unterschriftenquoren bei Kommunalwahlen bzw. Landtagswahlen. 3.1. Kommunalwahlen 2020 in Nordrhein-Westfalen Der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen setzte sich in seinem Beschluss vom 7. Juli 202010 im einstweiligen Rechtsschutz mit der Frage auseinander, ob die kommunalwahlrechtlichen Unterschriftenquoren auch während der Covid-19-Pandemie noch mit den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar sind. Dabei ging er davon aus, dass viel dafür spreche, dass angesichts der besonderen tatsächlichen und rechtlichen pandemiebedingten Rahmenbedingungen, unter denen die diesjährigen Kommunalwahlen einschließlich der Wahlvorbereitung stattfänden, eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Überprüfung und Anpassung des Wahlgesetzes in Bezug auf die bestehenden Regelungen ausgelöst worden sei.11 Dies könne im Ergebnis aber offen bleiben, denn ggf. bestehende Handlungspflichten habe der Landesgesetzgeber mit dem Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 in verfassungskonformer Weise erfüllt. Es sei zwar davon auszugehen, dass die Beibringung der notwendigen Unterstützungsunterschriften für die davon 6 Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Aufl. 2017, § 20 Rn. 8, § 27 Rn. 7 m.w.N. 7 BVerfGE 135, 259 (287). 8 BVerfGE 135, 259 (288). 9 Vgl. Hahlen, in: Schreiber: Bundeswahlgesetz, 10. Aufl. 2017, § 20 Rn. 8. 10 Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 71 ff. 11 VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2020, Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 71. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 237/20 Seite 5 betroffenen Parteien, Wählervereinigungen sowie Einzelbewerber und -bewerberinnen für die Kommunalwahl 2020 mit größeren Schwierigkeiten verbunden sei als im Normalfall.12 Diese einzuräumenden Erschwernisse machten das Sammeln der Unterstützungsunterschriften – und damit die Teilnahme an der Wahl – allerdings nicht gänzlich oder nahezu unmöglich.13 Sie seien durch das Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 hinreichend ausgeglichen worden.14 Die deutliche Absenkung der Anforderungen erscheine angemessen. Eine weitere Absenkung oder gar ein gänzlicher Verzicht auf die Beibringung der Unterschriften sei verfassungsrechtlich aber nicht geboten gewesen.15 3.2. Landtagswahlen 2021 in Rheinland-Pfalz Laut einer Stellungnahme des rheinland-pfälzischen Innenministeriums beobachtet die Landesregierung von Rheinland-Pfalz sorgsam die Entwicklung des Infektionsgeschehens im Hinblick auf eine Abschaffung oder Verminderung der erforderlichen Unterstützerunterschriften.16 Sofern sich die gesundheitliche Lage durch die Covid-19-Pandemie veränderte, werde die Landesregierung bei entsprechendem Bedarf rechtzeitig mögliche und erforderliche Maßnahmen veranlassen, um den Wahlvorschlagsträgern die Einreichung von Wahlvorschlägen für die nächste Landtagswahl (am 14. März 2021) zu ermöglichen. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass bis zum Ablauf der Einreichungsfrist für die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz noch mehr als sechs Monate Zeit blieben. 3.3. Bundestagswahlen 2021 Hätte unter den konkreten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum unmittelbar vor den dortigen Kommunalwahlen eine landesverfassungsrechtliche Pflicht des Landesgesetzgebers zur Anpassung des Wahlrechts bestanden, ließe sich dies weder direkt noch sinngemäß auf die Bundestagswahlen 2021 übertragen. Eine Übertragung scheitert bereits daran, dass die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich nebeneinander stehen.17 Hätte dagegen keine Pflicht des nordrhein-westfälischen Landesgesetzgebers zur Anpassung des Wahlrechts bestanden, hätte er im Rahmen seines gesetzgeberischen Ermessens eine politische Entscheidung getroffen. Daraus kann erst recht nicht auf eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundesgesetzgebers geschlossen werden. Der Bundesgesetzgeber kann selbst im Rahmen seines 12 VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2020, Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 71. 13 VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2020, Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 74. 14 VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2020, Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 75. 15 VerfGH Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juli 2020, Az. VerfGH 88/20, juris Rn. 76. 16 Schreiben vom 15. Juni 2020 an den Petitionsausschuss des Landtags Rheinland-Pfalz, zitiert nach Mayer, Brief vom 31. August 2020, Änderung des Landeswahlgesetzes wegen Corona-Pandemie (abrufbar unter: https://www.piraten -rlp.de/wp-content/uploads/2020/09/Antwort_petitionsausschuss2020.pdf, Stand: 12.10.2020), S. 3. 17 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe etwa BVerfGE 103, 332 (350 f.) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 237/20 Seite 6 eigenen gesetzgeberischen Ermessens eine politische Entscheidung zur Anpassung des Wahlrechts treffen. Ob indes eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Unterschriftenquoren nach § 20 Abs. 2, § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG für die Bundestagswahlen im Jahr 202118 und damit eine Pflicht des Bundesgesetzgebers zur Anpassung des Wahlrechts vorliegt, kann hier nicht beurteilt werden. Dies ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig , was die Entwicklung des Infektionsgeschehens ebenso beinhaltet wie die Einschränkungen nach den Corona-Schutzverordnungen der Länder. Maßgeblich sind die aktuellen Verhältnisse.19 In diesem Fall bedeutet dies, dass erst die konkreten tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse während des für die Sammlung der Unterschriften zur Verfügung stehenden Zeitraums maßgeblich sind. Da nicht abgesehen werden kann, inwieweit sich diese bis zum Beginn des maßgeblichen Zeitraums noch ändern werden, kann eine Bewertung nicht erfolgen. Dies gilt umso mehr angesichts der dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens. Dem Bundesgesetzgeber obliegt jedoch eine Pflicht, die Verhältnisse zu beobachten und zu beurteilen, ob eine wesentliche Veränderung im Hinblick auf die Rechtfertigung der Unterschriftenquoren nach § 20 Abs. 2, § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG vorliegt. 4. Rechtsschutzmöglichkeiten Es wurde auch nach Rechtsschutzmöglichkeiten betroffener Parteien gefragt. Diese können im Wege eines Organstreitverfahrens das Bundesverfassungsgericht anrufen,20 Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 63 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz21. *** 18 Unter Berücksichtigung von Art. 39 GG kann die Bundestagswahl prinzipiell zwischen dem 25. August und dem 24. Oktober 2021 stattfinden, siehe Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag (abrufbar unter: https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021.html, Stand: 12.10.2020). 19 Vgl. BVerfGE 135, 259 (288). 20 Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 21 Rn. 4. 21 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1724).