© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 236/20 Datenerhebung zur Kontaktnachverfolgung und Art. 136 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung Ergänzung zu WD 3 - 3000 - 228/20 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 236/20 Seite 2 Datenerhebung zur Kontaktnachverfolgung und Art. 136 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung Ergänzung zu WD 3 - 3000 - 228/20 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 236/20 Abschluss der Arbeit: 15. Oktober 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 236/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Verpflichtung zur Datenerhebung zum Zwecke der Kontaktverfolgung nach den Corona-Verordnungen der Länder, WD 3 - 3000 - 228/20, befasst sich mit der Verpflichtung von Gastwirten und Veranstaltern zur Erfassung der Kontaktdaten der Gäste. Als Nachtrag zu diesem Sachstand wird gefragt, ob es für diese Regelungen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage gibt. Insbesondere soll erörtert werden, ob strengere Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage gelten, wenn sich durch die Datenerhebung aufgrund der Art der besuchten Örtlichkeit bestimmte Überzeugungen oder Persönlichkeitsmerkmale (etwa politische Ansichten oder die sexuelle Orientierung) ableiten lassen könnten. Dabei soll vor allem ein möglicher Eingriff in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) durch die Datenerhebung bei religiösen Veranstaltungen geprüft werden. 2. Sachlage Die Corona-Verordnungen der Länder sehen – mit im Einzelnen unterschiedlicher Ausgestaltung – vor, dass in bestimmten Betrieben (insbesondere in der Gastronomie) und bei bestimmten Veranstaltungen (etwa bei Gottesdiensten, Konzerten, Kino- und Theatervorstellungen) die Betreiber bzw. Veranstalter die Kontaktdaten der Besucher schriftlich erfassen müssen.1 Zum Teil verpflichten die Vorschriften nicht nur die Betreiber bzw. Veranstalter zum Führen der Kontaktlisten, sondern auch ausdrücklich die Gäste selbst zur Abgabe der Daten.2 Im Falle einer Infektion eines Besuchers sind die zuständigen Behörden berechtigt, Einsicht in die erhobenen Daten zu erhalten, um mögliche Kontaktpersonen der infizierten Person zu ermitteln und zu unterrichten. Nach vier Wochen sind die Kontaktdaten zu vernichten. 3. Ermächtigungsgrundlage für die Datenerhebung zur Kontaktverfolgung 3.1. Tauglichkeit der Ermächtigungsgrundlage Nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG muss eine gesetzliche Regelung, die die Exekutive zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung bestimmen. Die Regelungen für die Datenerhebung zur Kontaktnachverfolgung werden auf § 32 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützt. Durch § 28 Abs. 1 IfSG werden die zuständigen Behörden befugt, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. § 32 S. 1 IfSG enthält die generelle Ermächtigung der Länder, entsprechende Gebote und Verbote durch Rechtsverordnung zu erlassen. Soweit ersichtlich, ist bislang nur der Saarländische Verfassungsgerichtshof zu dem Ergebnis gekommen , dass diese Ermächtigungsgrundlage nicht für die Verpflichtung zur Datenerhebung 1 Siehe beispielsweise § 3 der Berliner SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung vom 23. Juni 2020, neu gefasst durch Verordnung vom 6. Oktober 2020 (GVBl. S. 762) oder § 2a der nordrhein-westfälischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vom 30. September 2020 (GVBl. S. 954). 2 So etwa § 3 Abs. 3 der Berliner SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 236/20 Seite 4 ausreiche.3 Der Gerichtshof begründete dies mit einer besonderen Eingriffstiefe in das Grundrecht auf Datenschutz nach der Saarländischen Verfassung.4 Andere Gerichte haben die Tauglichkeit der Ermächtigungsgrundlage bestätigt.5 An der Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bestünden keine Zweifel. Das OVG Berlin-Brandenburg führte dazu aus: „Aus dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG folgt, dass der Begriff der ‚Schutzmaßnahmen‘ umfassend ist und der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen eröffnet, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird [...]. Dies ist gerechtfertigt, weil sich die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht von vornherein übersehen lässt [...].6 Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg wies zudem zur Begründung darauf hin, dass § 28 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 IfSG ausdrücklich vorsehe, Personen dazu zu verpflichten, bestimmte Orte nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.7 In der juristischen Literatur wird die Geeignetheit von § 32 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage für die Verpflichtung zur Datenerhebung zum Teil als „Grenzfall“ betrachtet: „Einen Grenzfall bildet die Pflicht zur Erfassung von Kontaktdaten der Gäste/KundInnen bei Veranstaltungen, in Gastronomie- und Frisörbetrieben etc. [...]. Während der Eingriff in die Berufsfreiheit der Veranstalter/Unternehmer aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht besonders schwer wiegt, stellt diese Pflicht einen mindestens mittelschweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Gäste aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG dar. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Missbrauchsvorbeugung wäre die Regelung in einer Standardermächtigung jedenfalls zu begrüßen.“8 3 VerfGH Saarland, Beschluss vom 28. August 2020, Lv 15/20, BeckRS 2020, 21205. 4 Siehe dazu ausführlich Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verpflichtung zur Datenerhebung zum Zwecke der Kontaktverfolgung nach den Corona-Verordnungen der Länder, WD 3 - 3000 - 228/20, S. 4 ff. 5 Siehe etwa Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 S 1739/20, BeckRS 2020, 16398, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2020, 11 S 43/20; OVG Münster, Beschluss vom 23. Juni 2020, 13 B 695/20.NE und Beschluss vom 23. September 2020, 13 B 1422/20. 6 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2020, 11 S 43/20, BeckRS 2020, 11232 Rn. 17. 7 So der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 S 1739/20, BeckRS 2020, 16398 Rn. 70. 8 Kießling, in: dieselbe (Hrsg.), IfSG, 1. Aufl. 2020, § 28 Rn. 68. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 236/20 Seite 5 Daneben gehen einige Stimmen davon aus, dass auch Art. 6 Abs. 1 S. 1 c oder e Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) als Ermächtigungsgrundlage dienen könnte.9 Dagegen wandte der Saarländische Verfassungsgerichthof ein, dass Art. 6 Abs. 1 DSGVO keine Befugnis zur Erhebung von Daten darstelle. Vielmehr bedürfe es einer speziellen Norm, die die Datenerhebung als solche – in den Grenzen des Art. 6 Abs. 1 DSGVO – vorsehe oder gestatte.10 3.2. Eingriff in Art. 136 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung? Fraglich ist, ob hinsichtlich der Tauglichkeit der Ermächtigungsgrundlage ein strengerer Maßstab für die Erhebung der Kontaktdaten bei religiösen Veranstaltungen gilt. Die Erhebung könnte einen Eingriff in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 WRV darstellen. Das sog. Schweigerecht des Art. 136 Abs. 3 WRV besagt, dass niemand verpflichtet ist, seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren und dass Behörden nur unter bestimmten Umständen die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft erfragen dürfen. Das Recht wird als besondere Ausprägung der (negativen) Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verstanden.11 Für die Frage, ob die Datenerhebung auf der Grundlage der Corona-Verordnungen einen Eingriff in Art. 136 Abs. 3 WRV darstellt, ist zunächst die Art der abgefragten Daten von Bedeutung. Dabei handelt es sich ausschließlich um die Kontaktdaten der Besucher sowie die Daten zum Besuch selbst (Datum, Uhrzeit etc.). Es wird weder nach religiösen Überzeugungen noch nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gefragt. Zwar kann die Religionszugehörigkeit naheliegen, wenn die Kontaktdaten bei einer religiösen Veranstaltung erhoben werden. Der Besuch religiöser Veranstaltungen kann allerdings grundsätzlich auch Personen offenstehen, die einen anderen oder gar keinen Glauben haben. Zudem können auch säkulare Veranstaltungen wie etwa Konzerte an Orten mit Religionsbezug stattfinden. Letztlich können daher aus den erhobenen Daten weder religiöse Überzeugungen noch eine Religionszugehörigkeit herausgelesen werden. Entscheidend sind auch der Zweck von Art. 136 WRV und der Zweck der Datenerhebung. Art. 136 WRV soll den Bürger vor Benachteiligungen aufgrund seiner Religion schützen. Durch das Verbot der Kenntnisnahme durch den Staat werde eine unzulässige religiöse Diskriminierung unterbunden .12 Der Zweck der Datenerhebung nach den Corona-Verordnungen ist allerdings allein der Infektionsschutz. Es geht dem Staat dabei nicht darum, religiöse Überzeugungen oder die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft in Erfahrung zu bringen. 9 So etwa Stoklas, Datenschutz in Zeiten von Corona, in ZD-Aktuell 2020, 07093, beck-online; wohl auch Müllmann, in: Kießling (Hrsg.), IfSG, 1. Aufl. 2020, Vorbemerkung vor §§ 6 ff. Rn. 13. 10 VerfGH Saarland, Beschluss vom 28. August 2020, Lv 15/20, BeckRS 2020, 21205 Rn. 94. 11 So etwa Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 136 WRV Rn. 104; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2018, Art. 136 WRV Rn. 23; Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 136 WRV Rn. 7. 12 Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 136 WRV Rn. 72. Nach Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV ist aber die Abfrage der Religionszugehörigkeit zulässig, wenn sich aus der Zugehörigkeit Rechte und Pflichten ableiten lassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 236/20 Seite 6 Der Schutzbereich von Art. 136 Abs. 3 WRV dürfte somit nicht eröffnet sein. Die Eingriffe durch die Datenerhebung zur Kontaktverfolgung sind daher am Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu messen.13 3.3. Besondere Anforderungen wegen möglicher Rückschlüsse auf Persönlichkeitsmerkmale? Fraglich ist, ob an die Ermächtigungsgrundlage für die Datenerhebung höhere Anforderungen zu stellen sind, wenn sich aus der Erhebung Erkenntnisse über politische Überzeugungen, die sexuelle Orientierung oder sonstige Rückschlüsse auf die Persönlichkeit ergeben könnten. In Bezug auf diese Frage gilt entsprechend den obigen Ausführungen allerdings, dass die Pflicht zur Datenerhebung nicht dazu dient, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale eines Bürgers zu ermitteln. Insbesondere werden aus den erhobenen Daten keine Persönlichkeitsprofile erstellt. Zweck der Reglungen ist ausschließlich, Kontaktdaten von Personen, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten haben, zu sichern, um diese Personen im Falle einer Infektion eines anderen Besuchers zu informieren. Die Behörden dürfen auf diese Daten auch nur im Infektionsfall zugreifen. Für die Ermächtigungsgrundlage dürfte daher kein strengerer Maßstab gelten, wenn es um den Besuch von Veranstaltungen geht, die Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zulassen, als bei allen anderen Veranstaltungen. *** 13 Siehe etwa Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 S 1739/20, BeckRS 2020, 16398 Rn. 73.