© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 236/16 Begriffe „Europäische Gemeinschaften“, „Europäische Gemeinschaft“ und „Europa“ im Grundgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 236/16 Seite 2 Begriffe „Europäische Gemeinschaften“, „Europäische Gemeinschaft“ und „Europa“ im Grundgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 236/16 Abschluss der Arbeit: 25. Oktober 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 236/16 Seite 3 1. Fragestellung Das Grundgesetz in seiner heutigen Fassung nimmt in seinen Regelungen nicht nur Bezug auf die Europäische Union, sondern auch auf die Europäischen Gemeinschaften (bspw. im Grundrecht auf Asyl in Art. 16a GG oder in der Finanzverfassung in Art. 106 GG) oder auf die Europäische Gemeinschaft (bspw. im Zusammenhang mit dem Kommunalwahlrecht für Unionsbürger in Art. 28 GG oder in der Regelung zur Luftverkehrsverwaltung in Art. 87d GG). Daneben wird im Grundgesetz teilweise auch schlicht von „Europa“ gesprochen (bspw. in der Präambel). Gefragt wird nach der Bedeutung der verschiedenen Begriffe und den Gründen für die begriffliche Differenzierung. 2. Bezugnahme des Grundgesetzes auf die Europäische Gemeinschaften und die Europäische Gemeinschaft 2.1. Europäische Gemeinschaften und Europäische Gemeinschaft Der Begriff der Europäischen Gemeinschaften stand bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht 1993 als Sammelbezeichnung für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Atomgemeinschaft (EAG oder heute EURATOM) und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Die drei Europäischen Gemeinschaften beruhten auf getrennten Gründungsverträgen, nutzten jedoch nach dem Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften aus 1957 und dem sog. EG-Fusionsvertrag verschiedene gemeinsame Organe, wie eine gemeinsame parlamentarische Versammlung, eine Vorgängerin des heutigen Europäischen Parlaments. Von den genannten Europäischen Gemeinschaften besteht heute nur noch die Europäische Atomgemeinschaft neben der Europäischen Union mit gemeinsamen Organen fort.1 Mit dem 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht wurde die Europäische Union gegründet. In diesem Zusammenhang wurde die Bezeichnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Europäische Gemeinschaft geändert. Die Europäische Gemeinschaft bildete gemeinsam mit der Europäischen Atomgemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl2 gemeinsam eine der drei Säulen der Europäischen Union. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 ist die Europäische Gemeinschaft in der Europäischen Union als Rechtsnachfolgerin aufgegangen (siehe Art. 1 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union – EUV).3 2.2. Begriffsverständnis nach dem Grundgesetz Die Verwendung der Begriffe Europäische Gemeinschaften und Europäische Gemeinschaft im heutigen Grundgesetz hat allein historische Gründe. Die Normen spiegeln den Entwicklungsstand der heutigen Europäischen Union zum Zeitpunkt ihres Erlasses bzw. ihrer Änderung wider. Der 1 Siehe hierzu Herdegen, Europarecht, 16. Aufl. 2014, § 1 Rn. 3. 2 Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist im Jahr 2002 ausgelaufen. 3 Weitere Informationen zur Geschichte der Europäischen Union finden sich auf dem Internetauftritt der Bundeszentrale für politische Bildung unter http://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/ (zuletzt abgerufen am 24. Oktober 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 236/16 Seite 4 Gesetzgeber hat darauf verzichtet, den Wortlaut der betroffenen Bestimmungen im Grundgesetz an die veränderten Bezeichnungen anzupassen. Dies hat jedoch keine Auswirkungen auf den Anwendungsbereich der jeweiligen Normen. So beziehen sie sich heute auf die Europäische Union mit dem jeweils aktuellen Bestand ihrer Mitgliedstaaten. Dies hat die Rechtsprechung sowohl hinsichtlich des Begriffs der Europäischen Gemeinschaften als auch bezüglich des Begriffs der Europäischen Gemeinschaft klargestellt.4 3. Der Europabegriff des Grundgesetzes Das Grundgesetz nimmt nicht nur Bezug auf die Europäische Union und die Organisationen, aus denen diese hervorgegangen ist, sondern spricht in der Präambel auch von einem vereinten Europa, dessen Glied Deutschland sein soll. Es handelt sich dabei um einen vagen Zielbegriff, der nicht mit dem Begriff der Europäischen Union identisch ist.5 Die Präambel meint vielmehr grundsätzlich den geographischen Europabegriff. Da Europa nach seiner geographischen Struktur kein echter Kontinent ist, bereitet die exakte Bestimmung der Grenzen Europas Probleme.6 Ob die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates sich bei der Formulierung der Präambel darüber hinaus auch auf einen historisch-kulturellen Europabegriff bezogen haben, lässt sich nicht sicher feststellen. Aufgrund der strukturellen Vagheit der Europaklausel ist ihre normative Bedeutung jedenfalls als eher gering einzustufen.7 Ende der Bearbeitung 4 Siehe bspw. BVerfGE 94, 49 (89); BayVerfGH, Entscheidung vom 12. Juni 2013 – Vf. 11-VII-11, Rn. 116 (zitiert nach juris). 5 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2013, Präambel Rn. 45. 6 Vertiefend hierzu Murswiek, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Kommentierung: 119. EL (September 2005), Präambel Rn. 255 ff. 7 Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2013, Präambel Rn. 49.